Wolf Kampmann (2002)

Produktivkräfte der Musikwelt

Die Geschichte der frei improvisierten Musik wäre anders verlaufen, hätte sich Ende der 60er Jahre nicht ein Häuflein Verwegener zusammengefunden -unter ihnen Peter Brötzmann, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach und Jost Gebers -, die ihr Geschick selbst in die Hand nahmen und spontan das Kollektiv Free Music Production gründeten. Die Musiker gingen ihren eigenen Projekten nach, während der Organisation und Durchführung von Produktionen und Veranstaltungen schon bald in den Händen von Jost Gebers liegen blieb. Die Voraussetzungen haben sich inzwischen geändert, und am Horizont zeichnet sich ein Ende von FMP ab. Doch Gebers - im Ruhestand, aber so aktiv und kämpferisch wie je und je - lehnt sich im Gespräch mit Wolf Kampmann gelassen zurück, steckt sich eine Zigarette an und philosophiert lächelnd über alte und neue Zeiten.

Die FMP und ihr als bärbeißig verschriener Produzent Jost Gebers sprengten Grenzen zwischen improvisierter und komponierter Musik, legten kulturelle Kanäle zwischen Ost und West frei und überwanden gar den gerade in den Reihen des Free Jazz nur allzu oft postulierten Antagonismus zwischen amerikanischen und europäischen Improvisationsauffassungen. Über 30 Jahre lang war FMP - über die einzelnen Produktionen hinaus - selbst ein kreativer Entwicklungsprozess, ein Langzeitkunstwerk, dessen finaler Impetus jetzt noch gar nichts definierbar ist.

 

Wolf Kampmann: Wie kann man Menschen von heute den kollektiven Aufbruch von FMP Ende der Sechziger verständlich machen?

Jost Gebers: Ich glaube kaum, dass man diese Erfahrung weitergeben kann, weil sie innerhalb einer bestimmten Aufbruchsituation der Gesellschaft stattfand. Das Jahr 1968 war der Scheitelpunkt einer Entwicklung, die schon vorher begonnen hatte und sich bis in die 70er Jahre erstreckte. Davon waren wir alle berührt. Nach einer gewissen Zeit stellte sich diese Kollektiv-Erwägung jedoch als schwer handhabbar heraus. Ein Künstler, egal welchen Genres, hat legitime Interessen, seine eigenen Ideen durchzusetzen. Da ist es etwas merkwürdig, wenn er mit Konkurrenten an einem Tisch sitzt und über die Planung von Veröffentlichungen redet, die gar nicht seine sind.

Wolf Kampmann: Aber trotzdem mutet der Charakter von FMP ja bis heute kollektiv an.

Jost Gebers: Es ist natürlich bis zum Schluss so gewesen, das Projektplanungen immer auf den Informationen der Musiker basierten. Ich habe mir nie irgendein Projekt am Schreibtisch ausgedacht. Dazu gehörten auch Wünsche von Musikern, die mal ein bestimmtes Konzept umsetzen wollten. Der Grundgedanke, möglichst viel miteinander passieren zu lassen, hat sich bewährt. Der Einzelne hat ja immer nur die punktuellen Informationen, die ihm zugespielt werden. Je mehr Quellen greifbar sind, desto breiter werden die Möglichkeiten, auszuwählen und zu gewichten.

Wolf Kampmann: Ihr habt das Label ja bewusst nicht Free Jazz sondern Free Music Production genannt. Wo lag der Unterschied?

Jost Gebers: Diesen Unterschied hat jeder von uns anders definiert. Bei Alex von Schlippenbach ist es mit Sicherheit immer noch Free Jazz. Bei mir lag die Betonung damals stärker auf dem europäischen Aspekt. Auch bei Tony Oxley war es der europäische Gedanke, der stärker an komponierter Musik als an amerikanischem Jazz orientiert ist, obwohl gerade er die größten Erfahrungen auf diesem Sektor vorzuweisen hatte. Wir wollten uns in dieser Hinsicht von Anfang an offen halten.

Wolf Kampmann: Wie würdest du heute die Musik aus der Zeit des Aufbruchs beschreiben?

Jost Gebers: Kowald sagte mal: Alles zerschlagen und was Neues suchen. Ich hätte es nicht so formuliert. Mir ging es viel mehr darum, herauszufinden, was um uns herum gemacht und gedacht wird. Das Wesentliche war die Dokumentation jener Menschen der ersten Stunde in ihrem Arbeitsprozess. Rückblickend betrachtet stehen bestimmte Konstanten wie Brötzmann und Schlippenbach auch für verschiedene Hauptströme. An manchen Punkten fusionierten Ideen, an andere entstanden gänzlich neue Dinge.

Wolf Kampmann: Apropos "dokumentieren": Auch wenn ihr euch Free Music Production nanntet, hatte es doch wesentlich mehr mit Dokumentation zu tun als mit Produktion, oder?

Jost Gebers: Ja und nein. Seit dem 1. Januar 2000 steht das Label für sich. Bis dahin war es eine Gesamtheit aus Label und Veranstaltungsfirma. Beide Aspekte waren eng verzahnt. Sicher gilt es, die Veranstaltungen zu dokumentieren, aber zuvor ging es viel mehr darum, bestimmte Impulse erst einmal möglich zu machen. Wir mussten zunächst ein Umfeld schaffen und erhalten, damit bestimmte Personen kontinuierlich an ihren Ideen arbeiten konnten.

Wolf Kampmann: Also hast du Musik dokumentiert und eine Identität produziert?

Jost Gebers: Eher nicht. Nehmen wir mal Cecil Taylor. Ich lernte ihn an einem bestimmten Punkt seines Schaffens kennen. An diesem Punkt setzte ich, der Gebers, an, um zu anderen Ergebnisse zu kommen. Was er bis dahin geleistet hatte, war immens. Dann kam es zu dieser Geschichte 1988. Ich stellte ihn mit Gesprächen, aber auch mit leichtem Druck in diese Situation, aus der dann das bekannte Resultat entstand. Wenn man sich dann all die Sachen ansieht, die dokumentiert wurden - und das war wirklich eine Dokumentation, was ich nicht von jeder unserer Platten sagen würde -, kann man verfolgen, wie bestimmte Dinge aus einer Situation heraus in Bewegung gerieten. Der Erfolg dieses Projektes hatte nicht nur Auswirkungen auf ihn, sondern auf viele der damals Beteiligten.

Wolf Kampmann: Ich hielt FMP immer für eine Eigenvertretung der beteiligten Musiker. Dass du mit Druck bestimmte Dinge angeschoben hast, ist mir neu.

Jost Gebers: Es war ja nicht generell so, sondern traf nur auf bestimmte Situationen zu. Meistens mit Amerikanern. Europäer sind in dieser Hinsicht emanzipierter. Die gehen auch viel präziser und bewusster mit dem, was sie machen, um. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wolf Kampmann: Du bist irgendwann der Produzent, die Kulminationsfigur des Ganzen geworden. Das heißt, FMP muss noch stark mit deinem Freiheitsideal verbunden gewesen sein.

Jost Gebers: Zum einen war ich unabhängig. Ich hatte einen Job und brauchte nie Angst zu haben, aus finanziellen Überlegungen Dinge tun zu müssen, von denen ich nicht überzeugt wäre. Die finanzielle Unabhängigkeit war ein wirklicher Freiraum. Man sieht ja, was aus vielen Festivals und Labels geworden ist, deren Betreiber beruflich und privat vom jeweiligen Erfolg abhängig waren. Ohne je darüber nachzudenken, brauchte ich nie einen Kompromiss einzugehen.

Wolf Kampmann: Gab es Zeitpunkte, an denen du dich und dein Arbeit neu identifizieren musstest?

Jost Gebers: Ich war ständig mit neuen Dingen konfrontiert und musste überlegen, ob diese Bereich uns weiterführen oder nicht. Es gab Ansätze mit afrikanischer oder komponierter Musik. Wir merkten zuweilen, dass bestimmte Ideen einfach nicht unter die Leute zu bringen sind. In dieser Hinsicht bewundere ich Manfred Eicher, aber seine Jazz-Produktionen und komponierten Geschichten lagen einfach viel dichter zusammen als bei uns. Zumindest in der Wahrnehmung des Publikums. Es war für uns nicht möglich, bestimmte Produktionen angemessen zu vertreiben.

Wolf Kampmann: Woran liegt es, dass Brötzmann-Produktionen aus den späten 60er Jahren immer noch so aufwühlend sind und Free Jazz von heute oft so altbacken klingt?

Jost Gebers: Brötzmann ist natürlich ein Original. Ich will an dieser Stelle keine Namen nennen, aber viele Dinge von damals greifen mich auch heute noch viel stärker an als andere, die unter Umständen sogar von den Musikern selbst perfektioniert wurden. Da schliff sich im Lauf der Zeit etwas ab, was in jener Zeit noch sehr stark war. Von Brötzmann sind viele Platten von damals gerade in Amerika wieder veröffentlich worden, und die sind noch immer unglaublich spannend. Allerdings hat es auch Gründe, dass einem manche Spielhaltungen so erstarrt vorkommen. Bei all meinen Aktivitäten versuchte ich stets, Hörer zu bleiben. Das heißt, möglichst an einen Punkt zu kommen, an dem ich keine Ahnung habe und mich frage, ob es mich interessiert. Je kleiner die Strukturen werden, desto schwieriger wird das. Entwicklungen finden oft nur auf ganz minimalistischem Niveau statt. Selbst wenn man sich gut auskennt, wird es schwierig, die Veränderungen festzustellen. Sogar mich kostet es bei machen CDs aus diesem Bereich Überwindung, sie zu Ende zu hören.

Wolf Kampmann: Wie schafft man es, über einen so langen Zeitraum Hörer zu bleiben?

Jost Gebers: Es ist ja nicht so, dass ich zu Hause sitzen und Brötzmann hören würde. Ich habe stets ganz unterschiedliche Musik gehört. Egal ob es Pop, Klassik oder alter Jazz ist, finde ich immer Spaß daran. Ich bin auch stets ein Käufer von Platten gewesen, die nichts mit dem Zeug zu tun haben, mit dem ich mich beschäftige. Wenn ich an einem Projekt arbeite, höre ich ausschließlich dies und nichts anderes. Es gibt natürlich immer Dinge, die Scheiße sind. Man organisiert ein fünftägiges Ereignis und hört überhaupt keine Musik, weil man so viel zu tun hat. Mittlerweile befinde ich mich in einer ganz anderen Position, weil ich nach 30 Jahren in Ruhe das Archiv aufarbeite und all diese Dinge hören kann. Dabei komme ich ständig an Punkte, von denen ich denke: Das kann ja nicht wahr sein. Man sucht bestimmte Bänder und findet diesen Kram plötzlich zweimal. Man hört sich beide an und findet heraus: Wir haben rückblickend definitiv die falsche Platte veröffentlicht. Die Bewertungskriterien haben sich einfach verändert.

Wolf Kampmann: Warum hast du dich 1988 mit dem Cecil-Taylor-Projekt von dem Fokus auf Europa verabschiedet und stärker Amerika zugewandt?

Jost Gebers: Also, das ist regelrecht falsch. Von Anfang an waren immer auch amerikanische Musiker an Projekten beteiligt. Natürlich spielten Reisekosten auch damals schon eine Rolle. Anfangs waren Musiker wie Don Cherry und Steve Lacy, die in Europa lebten ,involviert, aber in immer stärkerem Maße kamen auch Musiker direkt aus Amerika hinzu - wie Sirone. Zum Beispiel hatten wir auch einen vertrag mit Lennie Tristano, der nur deshalb nicht realisiert wurde, weil er dann starb. Eine Fokussierung auf Europa oder später Amerika fand nie statt. 1988 gab es einfach ein klares Projekt mit Cecil Taylor, den ich mit europäischen Aspekten konfrontieren wolle.

Wolf Kampmann: Aber dies hat ja später eine Tür in Richtung Sam Rivers, Charles Gayle, Butch Morris und Matthew Shipp geöffnet.

Jost Gebers: Geschäftsmäßig ausgedrückt, hat uns diese Dokumentation Märkte erschlossen und uns hörbar gemacht. Wenn man den Leuten etwas anbieten kann, das sie kennen, vereinfacht sich die Verhandlungslage doch ungemein.

Wolf Kampmann: Inwiefern bist du heute noch in das Label involviert?

Jost Gebers: Seit 1. Januar 2000 gibt es Free Music Production in der gewohnten Form nicht mehr. Es gibt einen Rechtsnachfolger - FMP-Publishing - mit Label, Verlag, Produktion, Archiv und mir als verantwortlichem Produzenten. FMP-Publishing hat mit Helma Schleif einen Vertrag zur Vermarktung der Tonträger des Labels abgeschlossen. Dabei geht es ausschließlich darum, die CDs bei Bedarf vervielfältigen zu lassen, zu promoten und zu vertreiben. Nun ist aber eine Situation zwischen Label und Helma Schleif eingetreten, die ein vorzeitiges Ende absehbar macht. Insofern arbeite ich verstärkt daran, noch konkrete musikalische Ideen und Überlegungen abzuschließen.

 

Aus: JAZZ THING Nr. 47 - 1/2003 Februar/März 2003

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