Wolf Kampmann (1994)

Eine starke Alternative

Free Music Production – die Berliner Institution
in Sachen frei improvisierter Musik feiert ihr 25jähriges Bestehen.

Wie schmal der Grat zwischen Tradition und Avantgarde wirklich ist, zeigt sich an keinem Beispiel besser als an der frei-improvisierten Musik und deren populärster Strömung, dem Free Jazz. Vor dreieinhalb Jahrzehnten begann er als bewusste Protesthaltung nicht nur zum etablierten Musikbetrieb, sondern zur allgemein gesellschaftlichen Situation in Amerika Fuß zu fassen. Völlig frei von metrischen und harmonischen Einschränkungen musizieren zu können, stellte eine revolutionäre Erweiterung des Vokabulars dar, die heute, da sich bestenfalls noch die Hardware weiterentwickelt, kaum mehr nachvollziehbar ist. Perspektiven taten sich auf, die über Jahrhunderte völlig undenkbar gewesen wären. Doch, und darin besteht die Spezifik dieses Genres, noch heute stehen die CDs der Free-Jazz-Veteranen in den Avantgarde-Regalen der Plattenläden.

Ist das nicht eine fatale Verkennung der tatsächlichen Situation? Gehört der Free Jazz nicht mittlerweile ebenso ins Traditionskabinett der Musikgeschichte wie Dixieland oder Swing, zumal sein kulturpolitischer Hintergrund sich längst überlebt. hat? Ist es nicht eher so, dass eine große Mehrzahl frei-improvisierender Musiker Idiomen folgt, die längst ausformuliert und zum Klischee verkommen sind, und dass radikale Äußerungen wie Peter Brötzmanns ’68er Opus „Machine Gun“ im anything goes der modernen Medienwelt nicht mehr möglich wären? Sicher, die Tage des Sturm und Drang sind gezählt. Doch was will das schon besagen? Vielleicht hat sich das Bedeutungsfeld der frei-improvisierten Musik einfach nur verschoben.

„Die Einflussnahme der improvisierten Musik auf andere Genres ist relativ groß. So wird sie in der Popmusik als Klischee benutzt, um bestimmte Momente der frei improvisierten Musik an einem Punkt gezielt als Effekt einzusetzen. Abgesehen von der Zeit um ’68 war die gesellschaftliche Relevanz von frei-improvisierter Musik jedoch nie besonders hoch. „Du musstest immer hinter den Leuten herrennen. Daran hat sich bis heute nichts geändert“. Der dies sagt, ist Jost Gebers, dessen Label Free Music Production seit einem Vierteljahrhundert von Berlin aus in Deutschland und Europa, ja sogar in Japan und Amerika Aufbauarbeit leistet. Als die Free Music Production, besser bekannt unter ihrem Kürzel FMP, 1969 ihre Aktivitäten aufnahm, verstand sie sich noch als Musikerinitiative. Sie tat damit dem sprichwörtlichen Gemeinschaftsgeist der Endsechziger Genüge. Alle künstlerischen wie strategischen Entscheidungen wurden noch kollektiv getragen. Mitte der 70er Jahre manövrierte man sich mit dieser Haltung jedoch in die absolute Bewegungsunfähigkeit. Jost Gebers übernahm das Ruder.

25 Jahre FMP, das war vor allem ein nicht enden wollender Kampf mit der öffentlichen Ignoranz und ein ermüdender Weg durch die Instanzen. Begriffe wie „Independent“ waren in den Gründertagen von FMP noch nicht gebräuchlich. Doch welche Plattenfirma auf dem Indie-Sektor bringt es schon unter völliger Wahrung der eigenen Unabhängigkeit auf stattliche zweieinhalb Jahrzehnte? Der Erfolg der FMP lässt sich nicht an Umsätzen messen, sondern an ihrer schieren Existenz. Das Geheimnis besteht möglicherweise darin, dass Gebers und seine Komplizen ihren Gemeinschaftsgeist nie ganz aufgegeben haben. Entscheidungen fällt der brummige Labelchef nach wie vor nicht im Alleingang: „Die Musiker reden immer noch mit. Es ist mittlerweile so, dass ich Ideen sammle und sie je nachdem, wie sie zusammenpassen, in Programme integriere“.

Musiker, die der FMP seit Jahrzehnten verbunden sind, wie Evan Parker, Peter Brötzmann, Hans Reichel, Rüdiger Carl, Han Bennink, Paul Lovens oder Alexander von Schlippenbach reisen rund um die Welt, lernen junge Musiker kennen und versorgen Gebers, der von seiner Arbeit meist in Berlin festgehalten wird, stets mit neuen Anregungen. Auf diese Weise sind sowohl Kontinuität als auch Bewegung garantiert. Man bleibt nicht auf Überkommenem sitzen, sondern sieht sich ständig vor neue Herausforderungen gestellt. Offen zu bleiben und keiner selbstgefälligen Altmännermentalität anheimzufallen, so Gebers, gehört ohnehin zu den härtesten Aufgaben, welche sich durch die Arbeit mit der frei-improvisierten Musik ergeben. FMP definiert sich jedoch nicht nur über ihre Musiker und künstlerischen Konzepte, sondern vor allem durch ihre Konzertreihen, deren Mitschnitte in der Regel die Grundlage für die späteren Veröffentlichungen bilden. Neben dem jährlich im Frühjahr stattfindenden Workshop Freie Musik ist vor allem das Total Music Meeting, ein Jahr älter als die FMP und 1968 bewusst als Gegenveranstaltung zum Berliner JazzFest konzipiert, das wichtigste Festival. Zwar sollte man meinen, dass sich das Total Music Meeting im Lauf der Zeit vom JazzFest emanzipiert hätte, doch noch immer frohlockt Gebers mit Blick auf George Gruntz: „Wir sind schon so was wie ein Pfahl in seinem Fleisch. Wenn man sich ansieht, was er macht und was wir machen, dann sind wir noch immer eine starke Alternative. Selbst wenn er Dinge aus unserem Bereich auf seine Bühne holt, kommen diese meist direkt von uns oder haben zumindest mit FMP zu tun. Ob das Steve Lacy ist, ob das Peter Kowald ist oder wer auch immer.“

aus: TIP-Magazin (Berlin) # 24, 1994

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