Ulrich Stock (1991)

aus: Sich reiben an der Muschel

Bei den „Berlin Independent Days“ trafen sich in der letzten Woche die unabhängigen „Labels“: Firmen, die diesseits der Konzerne versuchen, zeitgenössische Musik an die Hörer zu bringen.(-) Einige wichtige Labels, die vom Jazz kommen oder ihn im „Experiment“ streifen, waren auf der Messe nicht vertreten: die Berliner FMP, die Münchner JMT, das Würzburger recommended/no man’s land und das intakt-Label aus Zürich.

Hier aus Ulrich Stock’s Beitrag der erste Teil über

FMP

An erster Stelle die FMP: Weil sie so frei ist, so kompromisslos und immer noch so frisch, obwohl schon so alt. "Free Music Production" wurde 1969 gegründet als Musiker-Kollektiv; Freier Jazz sollte frei produziert werden, eine Idee im Stil der Zeit. Das Kollektiv zerplatzte alsbald (man konnte sich über Veröffentlichungen nicht einigen), übrig blieb Jost Gebers. Der Bassist gab das Spielen auf, um nur noch Konzerte zu planen und Platten zu verlegen. Das zum Leben nötige Geld muss sich der 50jährige noch heute mit Sozialarbeit in einem städtischen Jugendheim verdienen.

Gebers bezeichnet seine Produkte gern als Dokumente: Sie legen Zeugnis ab vom Improvisationsprozess im (fast ausschließlich) europäischen Jazz seit nunmehr zwei Jahrzehnten. Aus diesem Grunde versucht er, alle Platten des Programms ständig vorrätig zu halten. Solche, die sich ausverkaufen, werden neu aufgelegt. FMP - ein Archiv? Gebers ist nicht der Typ des besinnungslosen Sammlers, dessen einzige Kategorie die Vollständigkeit ist. Gebers ist auch nicht neutral. Er inszeniert. Er lässt geschehen. Mit Konzertreihen wie dem Total Music Meeting (im Herbst im Podewil in Berlin), dem Workshop Freie Musik (im Frühjahr in der Akademie der Künste), den Free Concerts (im Rathaus Charlottenburg - bei freiem Eintritt) schafft er Situationen, Begegnungen, Konstellationen. In diesem Jahr hat er für das Total Music Meeting beispielsweise drei Saxophonisten, drei Bassisten und drei Schlagzeuger verpflichtet, die an drei Abenden in erst unmittelbar zuvor festzulegender Figuration auftreten werden: vom Solo über das Trio bis zu allen Neunen ist alles vorstellbar. Ähnliches hat er schon mit 18 Posaunisten oder 16 Pianisten (an bis zu drei Klavieren) auf die Bühne gebracht.

Gebers war es, der einst den Virus freier Musik nach Ost-Berlin getragen hatte. Eine beachtliche Szene großer Musiker entstand in der DDR (Conrad Bauer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Joe Sachse, Uschi Brüning, Uwe Kropinski, Ulrich Gumpert, Günter Sommer und viele andere mehr); kurz vor Schluss sogar ein staatliches Free Jazz Orchester... kaum zu fassen im Nachhinein.

Seit 1988, und dies ist so etwas wie ein Höhepunkt, arbeitet Jost Gebers mit Cecil Taylor, dem einflussreichsten Musiker des Free Jazz. Während amerikanische Plattenfirmen über ein Jahrzehnt hinweg nicht eine Platte des genialen Pianisten veröffentlichten, hat Gebers binnen weniger Jahre das Dutzend vollgemacht. Zuletzt erschien eine CD-Dreier-Serie: Looking (Berlin Version) als Quintett Corona (mit Harald Kimmig, Violine; Muneer Abdul Fataah, Cello; William Parker, Bass; und Tony Oxley, Schlagzeug, FMP CD 31), als Trio (mit Parker und Oxley, FMP CD 25) und als Solo (FMP CD 28).

Insbesondere im Solo und im Trio setzt Taylors FMP-Musik Maßstäbe: was möglich und was unmöglich ist. Diese Musik ist eine wirkliche Herausforderung, vor der zu kapitulieren keine Schande ist. Mit konventionellen Instrumenten stößt Taylor die Tür auf (oder schlägt sie ein) zu anderen Hörräumen. Sein Produzent Gebers ist dafür mit dem deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet worden. Hülfe es doch, ein paar mehr der schwierigen Platten zu verkaufen - denn mehr als tausend, zweitausend Exemplare gehen nie weg. (Aber die gehen um die ganze Welt.) (-)

aus : taz, die tageszeitung, 28. Oktober 1991, mit freundlicher Genehmigung

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