Steve Vickery (1990)

IN WESSEN TRADITION

Die Bestrebungen der FMP, Konzerte improvisierter und komponierter moderner Musik zu dokumentieren und zu erhalten, hat dem nordamerikanischen Publikum die seltene Gelegenheit gegeben, an diesem sehr wichtigen Element in den Klangforschungen der in Europa ansässigen Künstler teilzuhaben. Obwohl ein Live Konzert der ideale Einstieg in diese Kunstform bleibt, haben die Aufnahmen, die über die letzten zwanzig Jahre durch die Berliner Firma Free Music Production(FMP) entstanden sind, die Tür für ein breiteres Publikum geöffnet, diese oft verwirrende und kompromisslose Kunstform würdigen zu lernen. Die FMP hat die völlige Vernachlässigung dieser Musik durch die kommerziellen Plattenfirmen als Auftrag für ihr eigenes Engagement verstanden und jetzt, viele Jahre später, kann der umfangreiche Katalog als Beginn einer langen Geschichte gesehen werden, einer Geschichte, die Zeuge der Entstehung einer neuen Tradition von Evolution in Komposition und Performance geworden ist. Diese neue Klangwelt ist angedeutet in der Folkmusik Bulgariens, Japans und Englands, ebenso wie in der Innovation musikalischer Pioniere in Amerika, Indien und Afrika. Die Musik wird zu mehr als einer kulturellen Antwort im Sinne von sozialer Unterhaltung, sie wird zur Suche nach Ausdrucksmitteln eine Logik zu formulieren, die noch im Fluss ist. Die modernen kompositorischen Techniken eines Bela Bartok, eines Toru Takamitsu und sogar einiger älterer Komponisten (Khachaturians Toccata tost mit der selben klanglichen Intensität wie die fesselndsten Werke moderner Meister des Klaviers) haben eine Generation geprägt die, seit dem Ende der fünfziger Jahre, Zeuge einer beispiellosen Synthese von Form geworden ist. Während die divergierenden Werke eines Harry Partch und John Coltrane einige zu der These geführt haben, dass die Wurzeln der neuen Musik in Nordamerika liegen (unterstrichen vom rasanten Schub in Richtung völlig "freier" Improvisation innerhalb amerikanischen Bewegungen wie der A.A.C.M. und anderen Organisationen), weisen die gegenwärtigen Entwicklungen in eine andere Richtung. Jetzt, mit der Offenbarung, dass musique actuelle zu einem internationalen Forum für Klangforschung geworden ist (worauf auch das epochale monatelange Festival kreativer Musik um den Berlin-Aufenthalt Cecil Taylors hinweist), beginnt sich zu klären, dass sich diese Musik aus einer Quelle entwickelt, die nicht in nationalen Grenzen gefangen ist, sondern ihren Ursprung in den Forschungen der Musikern an der menschlichen Erfahrung hat und deshalb ein ausgeprägt individueller Klangausdruck ist. Ausgehend von dieser Annahme wird die Frage nach dem Ursprung der Musik eine heikle Aufgabe, die der neue Zuhörer enträtseln muss. Die improvisierten und komponierten Formen, mit denen sich nun ein breiteres Publikum ernsthaft zu beschäftigen beginnt (dank der Bemühungen der FMP neben Labels wie I ncus, Leo, und anderen wie Red, Recommended und Emanem) haben schon lange die Ohren der Neugierigen und Phantasiebegabten erfreut. Tatsächlich ist es dieses Wunderbare und Faszinierende der Musik, das ihr diese ganz besonders fesselnde Qualität verleiht: das Element der Überraschung. Im schillernden Feuerwerk der neuen improvisierten Musik lauert oft der versteckte Witz, ausgedehnt witzelnde Klanggeschichten, wo das unerwartete Linksabbiegen vielleicht das Einzige ist, auf das man sich verlassen kann. Das heißt nicht, dass die Musik formlos ist, sondern dass das Verstehen sekundär hinter der Erfahrung steht. Der konditionierte Grundimpuls zu verstehen und zu benennen wird für den Hörer nicht länger ausreichen und führt eher zu einer etwas akademischen und lustlosen Wartezeit auf das Entstehen einer erkennbaren Form, nur um diese dann mit einer vor gefassten Meinung abtun zu können. Dann ist es einfacher und befriedigender, diese Musik bei der ersten Begegnung als eine Art Ausflug zu betrachteten. Während sich die Landschaft immer wieder verändert, nimmt die Straße einen gewundeneren Verlauf als erwartet, aber das Vergnügen an der Reise wird gesteigert durch das, was man unterwegs sieht. Dank an Jost Gebers und Dieter Hahne für ihre Beharrlichkeit beim Dokumentieren dieser Musik.

Das Auftauchen des Reedspielers Wolfgang Fuchs als Mitglied des Saxophone Colossus im vergangenen Herbst hat das nordamerikanische Publikum mit dieser ausgezeichneten neuen Stimme aus Europa bekannt gemacht, eine Stimme mit einem hoch entwickelten Sinn für Klangfarben, die unerwartete aber erhellende Aspekte erforscht. So-und? So!, (Uhlklang, UK 7), seine Soloaufnahme aus dem Jahr 1985, ist ein Statement über die damalige musikalische Situation des Bläsers, auf dem er eine breite Auswahl von Blasinstrumenten präsentiert (vom Sopranino bis zur Bassklarinette), im Grunde eine live Studioperformance. Staccato Ausbrüche a-rhythmischen Spielens treffen auf langsame Klangeffekte in einem gemischten Programm einnehmender kurzer Stücke (im Durchschnitt drei Minuten lang). Das einsame Horn füllt die Klanglandschaft in bewundernswerter Weise und vermeidet die übliche Falle, harmonische Dichte durch ausgeprägtes Überspielen erzeugen zu wollen, durch den Gebrauch von Dynamik, rhythmischer Spielfreude und risikofreudigen melodischen Sprüngen über die Oktaven des Horns.

Fuchs' Bemühen, die Komplexität und die spezifische tonliche Charakteristik jedes einzelnen Instruments herauszustellen, sorgt für ein erfrischendes Hörerlebnis. Anstatt immer wieder nur die Reihenfolge der Instrumente zu wechseln, zieht Fuchs es vor, die bestimmte Nuance, Klangfarbe oder Eigenschaft auszuforschen, die jedem Instrument eigen ist. So-und? So! ist damit sozusagen die Visitenkarte des Westdeutschen Reedspielers, mit der er das Ohr des Zuhörers packt, als ob er sagen wolle, " hier sind ein paar Dinge, die ein Horn kann, auch wenn ihr das vielleicht nicht wisst." Seine Arbeit auf der Bassklarinette wechselt zwischen unterschalligem Flattern und einem pfeifenden Schrei in den hohen Lagen, der kraftvoll und überraschend ist, während sowohl seine Sopran- als auch die Sopraninostimme eine fesselnde Präsenz haben, geschaffen durch die freien Räume seiner Solospiels.

Wo der Kopf sitzt, (SAJ-56), vom Trio mit Fuchs, dem Pianisten Fred Van Hove und dem Perkussionisten Paul Lytton aus dem Jahr 1986, ist eine entschieden forschendere Unternehmung als Fuchs' Solo Session. Das ist dem Einfluss von Van Hove und Lytton zuzuschreiben, deren stärker nach außen gerichtete Veranlagung einen intensiveren "freien" Ansatz der Klangforschung zeigt. Das Terrain, das in den vergangenen Jahren von Improvisatoren wie Lytton in seiner Arbeit mit dem Sorpansaxophonisten Evan Parker und von Van Hove mit Wachsmann bearbeitet worden ist, deutet darauf hin, dass die Entwicklung von Intuition und "voraushören", einer Art auditivem E.S.P., das in der neuen amerikanischen Musik nach 1964 so entscheidend war, weiterhin die Grundpfeiler der Musik dieser Zeit kennzeichnet und stärkt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Klangdetail und dem "Klangereignis", das die Konventionen von Klangsprache und Ensemblespiel ersetzt, die in den früheren Jahren der Vorläufer der freien Musik, Swing und post-1945er Bebop, die Regel waren; dies ist eine Musik, die weiterführt aus einer turbulenten Geschichte, aber immer noch neue Sichtweisen auf ihre einzelnen Elemente entwickelt. Van Hove und Fuchs jagen einander durch dieses Programm von Improvisation und Komposition und beschwören an manchen Stellen den wirbelnden Mahlstrom Cecil Taylors Musik der letzten Jahre herauf, obwohl diese Musik immer eine individuell geprägte Aussage bleibt. Breite, farbenfreudige Schübe und Feinheiten kommen zusammen und machen aus dieser Trio Performance einen kreativen neuen Weg, der die Energie der "Jazz" Musik bewahrt und den großen Geist, der die orchestrale Tradition charakterisiert. Für den Hörer, der eine direkte Einführung in intensiven, modern europäischen Sound möchte, wäre das genau die Platte, die man sich besorgen sollte, denn mit dieser Aufnahme schaffen Fuchs, Van Hove und Lytton einen Höhepunkt in FMPs neuer Diskographie. Die Hochgeschwindigkeitsfolge von Ereignissen, die den Hörer beim ersten Mal empfängt, kristallisiert sich nach mehrmaligem Hören zu einer dicht gewebten Klangkomposition heraus. Höchst empfehlenswert.

Ein Musiker, der eine eigene idiomatisch kreative Musik in dieser Dekade entwickelt hat, ist sicherlich der westdeutsche Gitarrist Hans Reichel. Reichels Gebrauch von radikal veränderten und dekonstruierten Gitarren (Gitarre selbst ist vielleicht eine zu enge Definition für die Instrumente, die Reichel benutzt) steht in der Tradition, die bisher mit Innovatoren wie Frith und Bailey in Verbindung gebracht wurde, aber seine Musik ist etwas ganz Eigenes. Es ist eine Musik, die Elemente von Gamelan, Koto, Appalachen-Hammer-Dulcimer und Jimi Hendrix enthält, und diesen unerklärlichen Klang von Maschinen, die mit sich selber reden, wenn die Arbeiter nach Hause gegangen sind. Reichels Musik könnte unheimlich einflussreich werden, wenn sich der Trend, der in den Vereinigten Staaten begonnen hat (Reichel wurde ausführlich vorgestellt in zwei Mainstream Musikerzeitschriften, Guitar World und Guitar Player, Pop-Hochglanzmagazine mit hoher Auflage), nach dem unvermeidlichen ersten Erfolgsrausch, der jeden neuen "Gitarrenstar" ankündigt, fortsetzt. Reichel ist kein sehr wahrscheinlicher Kandidat für den plötzlichen Riesenerfolg, aber mit der Veröffentlichung seines Sologitarrenalbums von 1987, The Dawn of Dachsman, (FMP 1140) bei FMP, wird er sicherlich viele Langzeithörer gewinnen. Es ist eine Aufnahme, die leise als Endlosschleife gespielt werden könnte, ohne eine Unterhaltung zu stören, aber wenn man sie bei normaler Lautstärke hört, ist sie hypnotisierend, ein warmer metallischer Klang, der sich jeder Definition widersetzt.

Auch andere Beispiele von Reichels Arbeiten aus den siebziger und achtziger Jahren sind von der FMP dokumentiert worden, die sich (mit Recht) ihrer Bemühungen rühmt, ihren gesamten Katalog verfügbar zu halten. Mit Glück wird Reichels Eindringen in die Grenzgebiete der nordamerikanischen neuen Musik das Ansehen der FMP Künstler weiter steigern und die Tür für weitere Tourneen öffnen. (Reichel war im Herbst 1988 auf Tournee in den USA und Kanada.)

Günter Christmann und Torsten Müller schaffen auf Carte Blanche, (FMP 1100) eine aufregende und verführerische Musik, die deutlich über die Grenzen hinausgeht, denen man oft bei Duoformationen begegnet. Christmanns lange Verbindung zur FMP, sowohl als Solist als auch in der herausragenden Zusammenarbeit mit dem Perkussionisten Detlef Schönenberg, hat ihm ein breites Vokabular an Klangsprache verschafft, aus dem er schöpfen kann, und eine Musik entstehen lassen, die an die Fingerfertigkeit und Unbekümmertheit eines Zirkusjongleurs erinnert.

Torsten Müllers voller Kontrabasston und die fließenden Sprünge in den hohen Tonlagen provozieren und verführen Christmanns gestenreiche koloristische Haltung, die auch hier zur Geltung kommt, und lösen einen unerwarteten Klanghöhenflug der beiden Bassinstrumentalisten aus.

Wie auch schon bei Wolfgang Fuchs' Soloaufnahme auf Uhlklang, macht die Aufteilung von dicht strukturierten Improvisationen und Kompositionen in eine Serie von kurzen Stücken diese Aufnahme besonders attraktiv für den Hörer, der mit dieser sehr "freien" Art von Musik noch nicht vertraut ist. Obwohl es anscheinend keine elektronische Bearbeitung der Instrumente gibt, stößt Christmanns Posaune hin und wieder ein hohes, durchdringendes Heulen aus, ähnlich einer verstärkten Trompete. Die Stücke mit zwei Bässen sind Hochgeschwindigkeitsgefechte und erforschen wenig beachtete Nuancen, die dem Streicher zu Verfügung stehen, aber selten genutzt werden. Carte Blanche passt damit perfekt in das, was die zentrale Philosophie der FMP Künstler und Macher zu sein scheint - gewagtes aber zugängliches Spielen an den Grenzen.

Christmann und Müller lassen den verbreiteten nordamerikanischen Stil unbeachtet, der sich seit Mitte der sechziger Jahre herausgebildet hat (d.h. Ron Carter) und folgen stattdessen ihren eigenen europäischen musikalischen Wurzeln, bauen auf die Basstechniken von Spielern wie Peter Kowald und Maarten Altena und kultivieren Folkstile und den modernen orchestralen Ansatz. Sie spielen eindeutig "frei", eine Definition, die die FMP mit ihren Begleitveranstaltungen wie dem Total Music Meeting neben ähnlich ausgerichteten nordamerikanischen Ereignissen wie dem Victoriaville Festival und Musique Actuelle lanciert hat.

Das Duo von Rüdiger Carl und Sven-Åke Johansson ist ein weiteres Beispiel für dieses Phänomen eines vollentwickelten Systems freier Improvisation. Auf ihrer FMP Liveaufnahme von 1985, Fünfunddreissigvierzig , (FMP 1080) verwirren Carl und Johansson die Sinne mit einer Mischung aus Tenorsaxophon, Klarinette, Perkussion und Akkordeon. Berauschend ist sicherlich ein Wort, das man selten benutzen würde um ein Akkordeon zu beschreiben, aber in diesem Fall ist es zutreffend. Die hier eingefangene Duo Performance gehört zu den erfrischenderen ‘freien’ Ausflügen, die in letzter Zeit erschienen sind, mit einer eindeutig europäischen Qualität, die das Akkordeon dem Geschehen verleiht durch die unterschwellige Verbindung zur romantischen Aura des Französischen und Italienischen Films der späten fünfziger Jahre. Das Duo hat seinen Spaß dabei und nimmt die Erwartungen des Publikums mit schadenfroher Unbekümmertheit auf die Schippe.

Erstklassige Musik, wiederum entschieden individuell und idiomatisch, und das Duo trabt und streift daher wie durch eine Erzählung von Chaucer. Sowohl Carl (auf dem Tenor) als auch Johansson (am Schlagzeug) spielen mit einem Geist und einer Bestimmtheit, die auf ihren gemeinsamen Hintergrund im konventionellen "Jazz" hinweist, ohne dass sie dem Drang widerstehen würden, Phrasierungen umzudrehen und die unerwarteten Anspielungen auf "Jazz" witzig wie noch nie werden zu lassen. Aber seien Sie sicher, dies sind versierte Musiker auf Kollisionskurs mit Erfindungsreichtum. Die Tatsache dass sie sich, wie der holländische Perkussionist Han Bennink, dafür entschieden haben, ihre Musik mit einer guten Prise von Humor zu präsentieren, ist ganz einfach ein extra Anreiz für den Hörer.

Transition , (FMP 1170) eine Aufnahme des Trios Heinz Becker (Blechblasinstrumente), Louis Sclavis (Reeds und Holzblasinstrumente) und John Lindberg (Bass) aus dem Jahr 1987 ist eine interessante Erkundung von etwas konventionellerem Triospiel, aber dennoch interessant. Die Musik wird in einer Reihe von kurzen, präzisen Vignetten präsentiert, die die beachtlichen Talente der drei Musiker herausstellen mit Betonung auf Raum, Klangfarbe und rhythmischer Geschmeidigkeit. Besonders bemerkenswert sind die Beiträge auf der Bassklarinette des noch auf relativ wenigen Aufnahmen vertretenen französischen Holzbläsers Louis Sclavis. Sclavis' Klang und musikalisches Konzept sind auf seine Mitspieler abgestimmt und schaffen einen klaren Triorahmen. Die Kombination von Holzflöte und Bassklarinette mit dem abrupten Pizzicato Bass von John Lindberg schafft einen starken Kontrasteffekt mit der Einbeziehung von Beckers offenem Hornspiel. Lindbergs eigener Beitrag auf Transition , sowohl am Arco (gestrichen) als auch am Pizzicato (gezupft) Kontrabass, lässt eine obertonreiche Mischung entstehen, während er Akkorde unter das Spiel der beiden Bläser schiebt. Es gibt zahlreiche Übergänge, die aber immer klar bleiben, mit deutlich gespielten Rhythmen und melodischen Elementen.

Mit diesem beeindruckenden Debütalbum bleibt zu hoffen, dass sich dieses Trio in die Reihe der Künstler einordnen wird, die auf den kommenden Herbstfestivals moderner Musik präsentiert werden.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

aus: CODA Magazine # 232, Juni/Juli 1990

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