Patrik Landolt (1983)

Mehr als nur Spielmöglichkeit oder Trend

Die Geschichte der Berliner Free Music Production (FMP)
und der Musik, die sie vertritt

 

„Ich habe früher hauptsächlich in Berlin gespielt. Dort bin ich bekannter gewesen als in Zürich, wo ich wohne“, erzählt mir die Pianistin Irène Schweizer, als ich sie bei einem Glas Wein in Aussersihl über die Free Music Production (FMP) befrage. Und Berlin heißt natürlich für eine Musikerin wie Irène Schweizer „Quartier Latin“, „Quasimodo“ oder „Akademie der Künste“, dort, wo die Musikkooperative Free Music Production, genannt FMP, seit 15 Jahren regelmäßig Konzerte, Workshops und Festivals veranstaltet und Platten aufnimmt. „Zum ersten Mal habe ich im Pierre-Favre-Quartett in Berlin gespielt“, erläutert Irène Schweizer weiter „zusammen mit den Zürchern Jürg Grau (Trompete) und Pierre Favre (Schlagzeug) und dem englischen Saxophonisten Trevor Watts. Im nächsten Jahr im eigenen Quartett. Später gelegentlich mit dem Wuppertaler Saxophonisten Rüdiger Carl , auch mit dem Schlagzeuger Louis Moholo oder der „Feminist Improvising Group“ und 1980 zum letzten Mal mit dem Schlagzeuger Paul Lovens. Ich war kontinuierlich jedes Jahr dabei, entweder am Total Music Meeting oder am Workshop. Und das war für mich optimal. Das Berliner Publikum konnte über Jahre meine Entwicklung mitverfolgen. Eigentlich ist die FMP so eine Art Heimat für mich geworden“. Irène Schweizer ist nicht die einzige aus der Schweiz, die bei der FMP in Berlin ein geeignetes Forum gefunden hat. Es gab Zeiten, da waren auch der Bassist Peter K. Frey, der Pianist Urs Voerkel, der Gitarrist Stephan Wittwer, oder die beiden St. Galler Andi Guhl und Norbert Möslang in Berlin anzutreffen. Verschiedene FMP-Langspielplatten dokumentieren die Aktivitäten dieser Musiker.

Ein neues Selbstbewusstsein

Jazz-Festival Zürich 1981: Irène Schweizer-Quartett: „…ein gewaltiges Hör- und Sehvergnügen, etwa dieser verrückte Han Bennink, der auf der Bühne herumtollt. Becken herum schmeißt, im Saal den Leuten zwischen den Füssen trommelt oder sich mit aufgesetzten Plastikohren schnell ins Publikum setzt, mit dem Megaphon irgendwelche heiseren Parolen in den Saal krächzt - ebenfalls mit dem Megaphon -, unter den Flügel kriecht und nachschaut, ob dort unten irgendwelche Tönchen heraus tropfen. Das alles sind durchaus keine bloßen Gags – es sind auch Gags, natürlich - sondern verstehen sich wie die Musik als Provokationen. Anregungen, Aufforderungen, Angebote auch, Verständnishilfen an und fürs Publikum. Und dann dieser sprühende, facettenreiche, emanzipierte Klangkörper ohne festgelegte Rollenverteilung, ein Klangkörper, in dem die vielfältigsten vielschichtigsten Rhythmen, Melodieschnipsel und Formen durcheinander purzeln, sich ineinander verweben und wieder auseinander brechen, wo Irène Schweizer zu einem punkigen Stolperrhythmus auch mal schnell einige Takte Stride-Piano spielte, Rüdiger Carl mit dem Walkingbass Dyanis und einem Wutanfall Benninks auf dem Schlagzeug frech einige Rülpser und Fürze aus seinem Handörgelchen quetscht, um kurz darauf, ganz deutscher Michel und zugleich fast George Adams, wie ein brünstiger Hirsch zu röhren. Das muss man erlebt haben, kann man auch nicht annähernd beschreiben“. Los ging es mit dieser kreativen, offenen und provokativen Musik, hier beschrieben in der Festivalkritik von Christian Rentsch, Anfang der 60erJahre. Den Keim trug sie schon in sich im Bebop eines Thelonious Monk, Charlie Parker oder in der modalen Spielweise von Miles Davis, die sich – analog der Krise des Kausalitätsprinzips – vom funktionsharmonischen System löste. Jedoch erst in den späten 60er Jahren mit dem riesigen Ideenvorrat an Reform und Utopie befreite sich der Jazz von der Formroutine der Choruspraxis und der Themenabhängigkeit. Stil prägende Persönlichkeiten waren schwarze Jazzmusiker der USA. John Coltrane, Charles Mingus, Ornette Coleman, Cecil Taylor, Archie Shepp, Albert Ayler, Sun Ra etc. In Europa entwickelte sich parallel zur radikalen Kulturkritik etwa der Frankfurter Schule von Herbert Marcuse, Horkheimer, Adorno oder dem Pariser Neomarxisten Henri Lefêbvre und durch einen breiten Antiamerikanismus, der durch den Vietnamkrieg der Amerikaner genährt wurde, auch im musikalischen Bereich ein neues Selbstbewusstsein. „Wir hatten Glück, in einer spannenden Zeit fünfundzwanzig Jahre alt zu sein“, betont heute der Wuppertaler Bassist Peter Kowald, einer, der bedeutendsten Europas. Oder Kowalds Freund, der Saxophonist Peter Brötzmann „1968 war das Jahr der großen Orchester, wo wir uns unter Freunden trafen, um wie die Verrückten zu spielen“. Wer die musikalischen Dokumente der damaligen Zeit anhört, etwa vom 14köpfigen Globe-Unity-Orchester (1966) des heute in Berlin lebenden Pianisten Alexander von Schlippenbach oder die 1968 aufgenommene Platte Machine Gun des Peter-Brötzmann-Oktetts, wird von der ungeheuren Intensität, mit der die gesamte Tradition zertrümmert wird, beinahe erschlagen. In einem Interview in der deutschen Jazz-Zeitschrift „Jazzpodium“ erklärte Peter Kowald: „Da ging es hauptsächlich darum die alten Werte wirklich kaputt zu brechen, das heißt: alles an Harmonie und Melodie wegfallen zu lassen“. Und weiter: „Die Kaputtspielzeit hat eigentlich erst alles, was musikalisch möglich ist, gleichwertig spielbar gemacht“.

Die Geburt der Musikerkooperative

Verärgert über das etablierte Berliner Jazzfest, organisierte 1968 eine Schar Musiker im „Quasimodo“ einem Keller beim Bahnhof Zoo, ein Gegenfestival als Kampfansage an die kommerzielle Jazzszene. Wie die Legende erzählt, soll am Eingang ein Schild gehangen haben, das die Jazzkritiker aufforderte, den doppelten Eintrittspreis zu zahlen. Zahlreiche Musiker, die die neue Musik entwickelten, waren ans Festival gekommen. Internationale Kontakte waren schon weit gediehen. Aus England spielten John Stevens und das „Spontaneous Music Ensemble“ und John McLaughlin. Zahlreiche Stars des offiziellen Festivals wie Sonny Sharrock und Pharaoh Sanders legten erst am Gegenfestival richtig los. Das erste Total Music Meeting war ein solcher Erfolg, das die Musiker, die es organisierten, beschlossen, weiterhin zusammenzuarbeiten und für ihre Bewegung eine Form zu finden, die ihrer musikalischen Intention angepasst ist, aber gleichzeitig im kapitalistischen Kulturbetrieb, wo Musik als Ware gehandelt wird, überlebensfähig ist. Definiert ist sie im Gesellschaftsvertrag (1972) trocken: „Die FMP ist eine Kooperative von Jazzmusikern auf Gesellschafterbasis. Gesellschafter sind: Peter Brötzmann, Jost Gebers, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Detlef Schönenberg. Die FMP vertritt als Geschäftsführer Jost Gebers“. So wie diese Musiker musikalisch etablierte Normen und Regeln verwarfen und neue, herrschaftsfreiere Formen des Musizierens suchten, wendeten sie das auch auf ihre Arbeitsbedingungen an. Es wurde die Idee entworfen, das Gegenfestival unter dem Namen Total Music Meeting jährlich zu veranstalten und über Ostern jeweils einen Workshop auf die Beine zu stellen. Vor allem bei den Plattenproduktionen sollte kein kommerziell ausgerichteter Produzent dreinreden können. Im Juni1969 nahm die FMP ihre erste Platte auf: „European Echoes“ mit Manfred Schoof, flh,tp, Evan Parker, ts, ss, Peter Brötzmann, ts, bs, Paul Rutherford, tb, Derek Bailey, g, Enrico Rava, tp, Hugh Steinmetz, tp, Gerd Dudek, ts, Fred Van Hove, p, Alex von Schlippenbach, p, Irène Schweizer, p, Arjen Gorter, b, Peter Kowald, b, Buschi Niebergall, b, Han Bennink, dr, Pierre Favre, dr. Das Orchester verband und integrierte die Musiker(innen) der drei wichtigsten Gruppen der damaligen Szene: Brötzmann-Trio, Schoof-Quintett und Irène Schweizer-Trio.

Der Titel „European Echoes“ formuliert als erste Platte der FMP deutlich das Programm: eine europäische Antwort der Jazz-Avantgarde auf die amerikanische Jazzszene, die in diesem Jahrhundert der improvisierten Musik die Richtung wies.

Heute gibt es die FMP schon über 15 Jahre. Der Katalog den ich etwas ratlos durchblättere, führt mehr als 100 Platten. Gerade einige Dutzend habe ich während der letzten paar Jahre gekauft. Um mir jedoch ein exaktes und vollständiges Bild von der Entwicklung der Musik der FMP zu machen, müsste ich mich drei Wochen lang je 40 Stunden mit FMP Platten beschallen lassen. Wollte ich mir einen Überblick über die gesamte europäische Jazz-Avantgarde verschaffen, kämen noch unzählige Platten von Labels dazu, die mit der FMP verwandt sind. .Etwa von der holländischen Musikerkooperative Instant Composer Pool (ICP) um den Schlagzeuger Han Bennink und den Pianisten Misha Mengelberg oder das Label vom Willem-Breuker-Kollektief Bvhaast, das englische Label „Incus“ um Derek Bailey, Evan Parker und Paul Rutherford. Auch die Münchener Plattenfirma ECM begann in den letzten Jahren Platten mit europäischen Freejazzer(innen) zu produzieren, oder die Schweizer Firma Hathut führt ebenfalls ein interessantes Repertoire von Mitschnitten europäischer Jazzmusik. Auch in Frankreich und in Italien gibt es eine große Anzahl Platten mit einheimischen Musikern, die bei uns beinahe unbekannt sind. Die Vielfalt der Platten und Aktivitäten der europäischen Jazz-Avantgardisten erstaunt. Dass da nicht mehr Konzerte zu hören sind! Dass nicht mehr darüber in den Zeitungen zu lesen ist!

Der qualitative Bruch in der Improvisierkunst

„Unsere Musik hat sich konsolidiert“, betont heute der Pianist Alexander von Schlippenbach, und er fährt fort: „Es hat sich gezeigt, dass diese Musik mehr ist als bloß ’ne Spielmöglichkeit oder Modeentwicklung“. Was die bald 20jährige Entwicklung des europäischen Free Jazz klarmacht, ist, dass diese Musik kein bloßer Stil in der Abfolge von stilistischen Entwicklungen ist, sondern wesentlich mehr bewirkte und heute eine Vielfalt von Stilen zur Folge hat. Der Bestsellerautor Joachim Ernst Berendt hat in seinen Jazzbüchern die Entwicklung der afroamerikanischen Musik in einem pseudodialektischen Modell beschrieben. In Zehnjahresschritten gehe es voran, schwappe mal so eher aggressiv zu Charlie Parker und dann eher auf eine individualistische, coole Seite. Danach wäre die europäische Jazz-Avantgarde eine historische Erscheinung der 60er Jahre, in den 70ern schon überholt von Rockjazz, Fusion etc. Die Aktivitäten in den letzten Jahren, die stilistischen Verfeinerungen und die Wirkung, die der Free Jazz auf die populären Arten von Musik hat, geben dem vor zwei Jahren verstorbenen Schriftsteller und Jazzkritiker Wilhelm Liefland recht, dass „der Free Jazz der erste entscheidende qualitative Bruch in der bisher so genannten Schwarzweiss-Improvisierkunst ist“. Ließen sich früher die Gestaltungsmittel der einzelnen Musiker eines Stils noch miteinander vergleichen, so lässt sich etwa bei den Pianospielweisen von Cecil Taylor, Irène Schweizer, Fred Van Hove, Misha Mengelberg kein begrenztes System von ästhetischen Normen ausmachen. Peter Kowald: „Heute haben sich diejenigen, die sich in unserem Feld mit Musik beschäftigen, in sehr verschiedene Richtung entwickelt. Es gibt weniger Sätze, die für alle gelten“. Der individuelle Ausdruck des einzelnen Musikers steht absolut im Vordergrund.

Und jetzt: Musikerkooperative am Ende?

Die Stimmung ist gedrückt, als ich an der Behaimstrasse 4 in Berlin den Schallplattenladen und das Büro der FMP betrete und mich nach der Situation der Free Music Production erkundige. Jost Gebers, der seit 1969 die Rolle des Geschäftsführers, Produzenten und Toningenieurs übernommen hat, erzählt resigniert, dass sich die finanzielle Lage in den letzten beiden Jahren so verschlechtert hat, dass die FMP mit großer Wahrscheinlichkeit dieses Jahr liquidieren werde.

Dass die Free Music Production seit ihrer Gründung sich immer durchlavieren musste, dass sich mit einer Musik, die sich ihrer Struktur nach den Gesetzen der Kommerzialität verweigert, kein Geld verdienen lässt, ist klar. Dass den Hauptinitianten heute, nach 15 Jahren Aufbauarbeit, der Schnauf ausgeht, ist ernüchternd. Würde die FMP eingehen und gäbe es weder ihre Plattenproduktionen noch ihre Konzerte und Festivals, so würde für die europäische Avantgarde-Musikszene das bedeutendste und in seiner Szenenübergreifenden Art wohl einzige Kommunikationszentrum wegfallen. Oder ist heute, anno 1983, die Zeit gekommen, dass auch in diesem Kulturbereich die Strukturen alt geworden sind und zerfallen, dass die historische Gewalt, die „Furie des Verschwindens“, die Avantgarde mit ihrem politischen Anspruch zu Ende gehen lässt, wie auch die 60er Jahre, das Zeitalter der „radikalen Negation“, ihr definitives Ende gefunden haben?

Am nächsten Tag treffe ich Gebers für ein längeres Interview an seinem Arbeitsplatz in der Freizeitanlage eines Berliner Außenquartiers, wo er als Sozialarbeiter seinen Lebensunterhalt verdient. „Als sich die wirtschaftliche Situation vor einigen Jahren allgemein verschlechterte, dachte ich, dass das für uns keine namhaften Auswirkungen haben wird“, begann Gebers das Gespräch. „Denn wir handeln ja nicht mit Konsumorientierten Produkten. Meine Einschätzung war jedoch falsch. Gerade unsere Leute hatten unter der ökonomisch verschlechterten Situation mehr zu leiden, und heute überlegen sie sich mehr als früher, ob sie eine Platte kaufen oder nicht.“ Jost Gebers ist auch ganz persönlich vom wirtschaftlichen Einbruch betroffen. Da seine Frau arbeitslos wurde und nur noch auf beschränkte Zeit Arbeitslosenhilfe empfangen darf, ist es für die beiden unmöglich geworden, Geld aus dem eigenen Sack in die FMP zu stecken, was sie jahrelang mit absoluter Selbstverständlichkeit taten. “Als im vergangenen Sommer 15 FMP-Musiker in Florenz spielten, saßen wir zusammen und diskutierten unsere Situation“.

Ein typisches Vorgehen für die FMP: Obwohl sich die Idee der Musikerkooperative in den letzten 15 Jahren wesentlich gewandelt hat und nach 1976, als der Posaunist Günter Christmann und der Schlagzeuger Detlef Schönberg die Kooperative verließen und Jost Gebers die Sache vermehrt in eigener Regie anpackte, gingen das genossenschaftliche und vor allem das Non-profit-Prinzip nicht verloren. In Florenz versuchten die 15 Musiker gemeinsam über die Zukunft ihrer Kooperative zu entscheiden.

Nüchtern erzählt Gebers: „Es zeigte sich jedoch deutlich, dass nicht mehr viel zu machen ist. Die Misere ist die, dass keiner dieser Musiker Geld hat. Und nur mit Geld ist die FMP noch zu retten“. Die fixen Kosten allein für Büromieten und der Lohn für den einzigen bezahlten Mitarbeiter der FMP, den gelernten Plattenhändler Dieter Hahne, für technische Apparate, Versicherungen etc. gehen monatlich gegen 7000 Mark. Einnahmen gibt es zurzeit keine. Gebers: „Fast jede Platte kostet Geld. Platten, an denen die FMP etwas verdient, sind Ausnahmen. Auch Konzerte lassen sich nicht kommerziell durchführen, so, dass die Eintrittspreise den Aufwand decken. Denn drei Viertel des Umsatzes gehen weg für Umtriebskosten: Druck, Hotel, Ausländersteuern, GEMA, (Urheberrecht), Sozialversicherungen, Fahrkosten der Musiker, Saalmiete etc…“. Die Diskussionen in Florenz endeten hoffnungslos, die Idee, in der BRD Benefizkonzerte durchzuführen, wurde fallengelassen. Gebers: „Der Aufwand für ein Konzert ist größer als der Ertrag“. Die Musiker waren sich einig, dass einzig ein massiver Zustupf der öffentlichen Hand die FMP retten kann. „Wenn der Berliner Kultursenator nicht hilft, müssen wir liquidieren, das Plattenarchiv verkaufen, das Büro auflösen, Ende“. Gebers sagt das gefasst, er vermutet, dass der frischgebackene CDU-Kultursenator Volker Hassemer eher auf publikumswirksame Kultur setzt.

Was denn ein Ende der FMP für Gebers persönlich bedeuten würde, nachdem er sich 15 Jahre für die FMP engagiert habe, wollte ich wissen. Gebers: „Darüber nachzudenken ist nicht gerade berauschend. Ich machte zusammen mit meinen Musikerfreunden ja nicht nur einen Job, sondern die Beziehungen gehen tiefer“.

Kein Platz im Berliner Kulturmodell

Das Gespräch mit Gebers hat mich berührt: Einmal mehr sollen kompromissloses Engagement und die kontinuierliche Suche nach humaneren und herrschaftsfreieren Produktionsformen im Musikbusiness an den harten Marktbedingungen und der Kulturförderung scheitern. Ich nehme mir vor, im Interview zum Thema „Berliner Kulturmodell“ Senator Hassemer auf die Situation der FMP anzusprechen. Der aus Gründen der Koalitionsbildung zwischen CDU und FDP vom Ressort Umweltschutz und Stadtentwicklung zum Kultursenator verschobene Volker Hassemer empfängt mich mit seinem Pressesprecher und dem Berliner „Rockbeauftragen“ Bernd Mehlitz. In Sachen Kulturförderung ist Berlin in den letzten Jahren für viele europäische Städte zum Vorbild geworden. Volker Hassemer: „Es ist ein Spezifikum, dass wir in Berlin erkannt haben, dass es neben den sehr attraktiven Aspekten der Berliner Kultur auch weniger glitzernde Teile des Kulturlebens gibt, die aber auch unterstützenswert sind“. Die Erkenntnis, dass das junge, aktuelle Kulturschaffen etwa im Bereich Rockmusik auch Kultur ist, hat sich in Berlin, wo ca. 100.000 Stimmberechtigte die alternativen Listen wählen, durchgesetzt. Hassemer: „Diese Kultur stellt eine der Voraussetzungen für die großen kulturellen Leistungen dar“. So steckt Berlin heute etwa zwei Millionen Mark in die Alternativkultur, umschrieben als Förderung von kulturellen Aktivitäten freier Gruppen. Hassemer: „Im Bereich Rockmusik fördern wir die Gruppen etwa dadurch, dass wir in bestimmten Räumen Anlagen aufstellen und Übungsstätten finanzieren“. Berlin zahlte für die Rockmusik 1982 insgesamt 800 000 Mark, eine Summe, die mithalf, Berlin zur Rockcity der 1000 Rockgruppen zu machen. Wie schwer sich Berlin jedoch mit der „anderen Kultur“ tut, wenn es nicht darum geht, mal eine Lichtanlage in einen Klub zu stellen oder einer Rockgruppe ein Flugticket nach Amerika zu zahlen, sondern inhaltliche Entscheide zu fällen, zeigt sich an der Schwierigkeit der Stadt Berlin, abzuwägen, ob der künstlerische Wert der FMP groß genug ist, dass sie von der Stadt langfristig saniert werden kann. Für Hassemer ist die FMP noch kein Begriff, versteht sich, der ehemalige Städteplaner ist erst seit zwei Wochen Kultursenator. Der Rockbeauftragte Mehlitz findet die FMP bei der Fülle der Aktivitäten in Berlin ein Problem unter vielen. Ob es sich denn das Berliner Kulturmodell leisten könne, die FMP und somit einen wesentlichen Bestandteil der europäischen Jazz-Avantgarde eingehen zu lassen? Mehlitz: „Es ist wünschenswert, dass die FMP weiter besteht“. Und weiter: „Schauen Sie, unser Grundgedanke der Förderung ist Hilfe zur Selbsthilfe, aber nicht die Möglichkeit, jemandem eine sorglose Existenz zu verschaffen“.

Die hoffnungslose Situation der FMP und Jost Gebers’ Resignation waren mir nach dem Gespräch verständlich. Es wurde mir klar, dass eine Förderungspolitik, die in der Logik von publikumswirksamer Massenkultur denkt, experimentelle Kunstformen, die langfristig arbeiten, ausschließt. Finanzspritzen, die zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig sind, reichen da nicht.

Die idealen Festivals

Die nächsten fünf Tage besuchte ich den berühmten Workshop Freie Musik, der heuer zum 15. und wahrscheinlich zum letzten Mal unweit der Berliner Mauer, bloß zwei S-Bahn-Stationen vom DDR-Bahnhof Friedrichstrasse entfernt, in der Akademie der Künste stattfand. Die Workshops sind als ideales Forum für die freie Musik bekannt.

Für die FMP haben sie die Funktion, Musik entstehen zu lassen, und nicht, was allgemein an Festivals üblich ist, Musiker auf die Bühne zu stellen, die in einem kurzen Auftritt ihr Produkt präsentieren. Meistens wurden die Workshops von einem konkreten Konzept getragen: 1980 waren sieben Piano-Schlagzeug-Duos eingeladen: 1981 waren ausschließlich Musiker und Musikerinnen aus der englischen Szene freier Improvisation am Workshop, was deutlich machte, dass sich in den letzten 20 Jahren in Europa neben den vielfältigen „Personalstilen“ regionale Szenen mit eigenen Gestaltungsprinzipien entwickelten. Der diesjährige 15. Workshop war in seiner Gestaltungsform noch offener und konsequenter als seine Vorgänger. Es wurden 16 Musiker(innen) eingeladen, die alle das gleiche Honorar erhielten und die nicht nur die Musik ihres eigenen Konzerts selber bestimmten, sondern auch den Ablauf des Festivalprogramms. Als einmalige Alternative zu der heute immer stärker werdenden Einflussnahme von Festivalorganisatoren und Plattenproduzenten, die bis auf die Zusammenstellung von Gruppen reicht, lag die Gestaltung der Abende voll in der Autonomie der Künstler(innen). Konkret: Die 16 Musiker(innen) trafen sich am Nachmittag zu einer Vollversammlung, wo sie das Programm für den Abend diskutierten und festlegten. So hatte ich als Zuhörer die Möglichkeit, musikalische Entstehungsprozesse live mitzuerleben und den einzelnen Musiker in verschiedenen Formationen und Situationen vier-, fünfmal zu hören.

Als intensive Musikerlebnisse blieben mir die Auftritte der Sängerin Diamanda Galas in Erinnerung. Auch da war es die offene Form des Festivals, die es der Galas ermöglichte, in verschiedenen Situationen sich zu entfalten. Die in den USA wohnende Sängerin mit griechischem Background hat mit Xenakis gearbeitet und ist in Boulez’ Musikprogramm im Centre Pompidou aufgetreten. Im Solo führt ihre Stimme zusammen mit elektronischen Verfremdungen, einem auf Band aufgenommenen Galas-Chor, elektronischen Verzerrungen, in den tiefsten Hades der Klangwelt. Ihre Intensität, die Schönheit und Hässlichkeit der Stimme und der Geräusche, ihr Klagen und Schreien jagen Angst ein. Am letzten Abend sang Diamanda Galas im Duo mit dem Bassisten Peter Kowald. In der kraftvollen Unmittelbarkeit von Kowalds Bass-Spiel, seinem erdigen, atmenden Klang, hat Diamanda Galas’ Stimme ohne elektronische Hilfsmittel einen idealen Partner. Da kann sie loslegen, zeigt ihre individuelle Grammatik freien Gesangs, verwandelt ihre Stimme ohne elektronische Hilfsmitte in ein unglaubliches Instrumentarium. Es klingt überbordend, als sei der Brötzmann am Saxophon, um im rauen Klangschotter die alte Klangmoral zu zerstören, um einem neuen Ideal Platz zu machen, dann klagend, röhrend, fauchend: eine Stimme, der ich in der Jazzgeschichte noch nie begegnet bin.

Partisanenperspektive

Dass die FMP gerade heute in den letzten Zügen liegt, ist symptomatisch: Die kulturelle Situation in Europa, geprägt durch Neokonservativismus und Restauration auf der einen, durch defensiven Kampf mit dem Ziel, zu retten, was zu retten ist, auf der anderen Seite, verrät, wie der riesige Ideenvorrat an Reform und Utopie der 60er Jahre viel an Faszination einbüsste. Die freie Musik ist einer der Bereiche der neuen Kultur der 60er Jahre, dem es nicht gelang, breites Interesse zu wecken und die großen Festivals, die Radiostationen zu erobern. Die freie Musik ist nicht mehrheitsfähig, weil sie es in der totalen Konsumgesellschaft nicht sein kann und will. Zudem: Der Zusammenhang von avantgardistischer Lust und politischem Anarchismus wurde von reaktionären Kulturzensoren längst erkannt. Und da das Verteilen von Kulturgeldern eine politische Angelegenheit ist, werden in aller Stille Initiativen „ausgetrocknet“, wie dies nun mit der FMP geschieht.

Auf der musikalischen Seite hatte jedoch der „qualitative Bruch“ der 60er Jahre eine musikalische Öffnung zur Folge, die sich erst heute richtig zeigt. Der Schlagzeuger Pierre Favre: „Im musikalischen Bereich gibt es heute wahrscheinlich mehr Freiheit denn je. Ähnlich ist es in der Bekleidung: Man kann heute alles anziehen. Die Frage stellt sich bloß: Wie macht man es. Auch in der Musik ist das Wie die entscheidende Frage“. Und weiter: „Ich kann nur versuchen, mich selber auszuweisen…Ich muss meine eigene Spielweise schaffen, eine moderne europäische Spielweise“.

Im kleinen Rahmen konnte sich in Europa diese freie Musik in verschiedenen lokalen Szenen verankern und dem kommerziellen Druck entziehen. „Partisanenperspektive“ so nannte Wilhelm Liefland 1980 den Trend, dass in verschiedenen Ländern eigene lokale Szenen entstehen, wo die Musiker ihre Angelegenheiten selber in die Hand nehmen. Für die Schweiz fallen mir dazu die Genfer Jazzmusiker ein, die sich nach langjährigem Engagement von der Stadt ein Haus erkämpften, wo nun an mehreren Abenden der Woche einheimische Musiker(innen) spielen. Oder die Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM) in Zürich, die von Persönlichkeiten wie Peter K. Frey, Christoph Gallio, Norbert Möslang, Urs Voerkel, Irène Schweizer, Jürg Gasser, Alfred Zimmerlin getragen wird. Leute, die zum Teil bei der FMP musikalische Erfahrungen sammelten. Und obwohl auch bei ihnen in Zürich die Distanz zwischen musikalisch formulierter Utopie und der gesellschaftlichen Lage seit den 60er Jahren wesentlich größer geworden ist, sind die WIMler(innen) heute aktiver denn je. Irène Schweizer sagte mir über die WIM: „Es wird ausprobiert. Am Dienstag (bei den öffentlichen Auftritten) gibt es beinahe keine abgerundeten Konzerte, wo alle wissen, wie es tönen wird. Es klingt immer wieder anders, es passiert immer wieder unerwartet Neues“.

aus: Tages-Anzeiger/Schweiz, 10. September 1983

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