Bob Rusch (1977)

Zerbam! Gerberfoibleschelter!

Teil 1: in dem Autor versucht, Ihre Aufmerksamkeit zu wecken

Dies war nur ein etwas unbeholfener Versuch, Aufmerksamkeit zu wecken - in jedem Kurs für kreatives Schreiben, den ich je besucht oder selbst gehalten habe, wurde jedenfalls vorgeschlagen, einen Text auf diese Art und Weise zu beginnen, um sich die Aufmerksamkeit und das weitere Interesse des Lesers zu sichern.

Was ich hier gerne vermitteln möchte sind ein paar Informationen über die Musik des Westdeutschen Plattenlabels Free Music Production (FMP) und ganz besonders über ein paar Leute mit Namen wie Brötzmann, Van Hove, Bennink, von Schlippenbach, Hans Reichel. Aber was ich eigentlich versuchen möchte, ist Sie zu überzeugen, sich wenigstens eine dieser Platten anzuschaffen, sonst wäre die Lektüre dieses Artikels weitgehend sinnlos.

Aus Briefen, die wir bei Cadence bekommen, weiß ich, dass es viele Leser gibt, die auf Grund einer hochlobenden Kritik das Risiko eingehen, sich eine Platte zu kaufen, die ihnen völlig neu ist, von einem Künstler/in oder in einem Stil, mit dem sie nicht vertraut sind - und als Ergebnis bekommen wir Briefe, fast immer mit gleichem Wortlaut, Woche für Woche, wie: "Ich wollte mich nur bei Cadence bedanken für den Tipp ______ ______, ich habe mir das Album gekauft und es gefällt mir sehr. Ohne Cadence hätte ich nie davon gehört". Aber ich weiß, dass es viele Leute gibt wie mich, die sich aus finanziellen Gründen, oder aus kultureller Gewohnheit und Vertrautheit, erst dann an etwas Unbekanntes herantrauen, wenn sie auf behutsame Art und Weise darauf aufmerksam gemacht und damit vertraut worden sind; etwa durch Hörerlebnisse, z.B. im Radio, verbunden mit zusätzlicher Mundpropaganda und Presseberichten, und Auslage und Verfügbarkeit im heimischen Plattenladen - genau das, an dem es im allgemeinen bei vielen Platten fehlt, die in Cadence vorgestellt werden, und was auch nur zu einem geringen Teil durch das durchschnittliche hohe Intelligenzniveau und den Mut eines Cadence Lesers kompensiert werden kann. Ich muss zugeben, dass mir die Freuden eines Andrew White, Fraser McPherson, Joe McPhee, Papa John Kolstad, etc. immer noch weitgehend unbekannt wären, wenn ich nicht Kritiker und Herausgeber von Cadence wäre. Aber die Tatsache, dass eine Plattenfirma, die seit fast einem Jahrzehnt besteht, mit einem Katalog von fast 50 Aufnahmen, mir so wenig vertraut sein sollte, zeugt nicht nur von mangelnder Recherche meinerseits, sondern ist viel mehr noch eine Klage gegen die Berichterstattung der bekannten Jazzkritiker und der Presse, von der wir in den Vereinigten Staaten in so hohem Maße abhängig sind. Für mich gehören die Aufnahmen der Free Music Production zu den großen musikalischen Entdeckungen und Erfüllungen der siebziger Jahre.

Das Erstaunliche an dieser Musik ist, dass sich mit ein bisschen Mühe viele der Produktionen auch eingefleischten (aber willigen) Hörern anderer Stilrichtungen erschließen, wenn nicht dauerhafte Versteinerung und Vorurteile ihre Ohren für immer verschlossen haben. Bei der FMP habe ich Musik gefunden, die nicht nur die Ornette-Coltrane-Lacy-Seiten meines Geschmacks anspricht, sonder auch die von King Oliver, Bechet, Monk und Mingus. Trotz allem wird die Musik aber sicher die größte Anziehungskraft und Wirkung auf die haben, die sich schon länger mit Free Jazz beschäftigen.

Das einzige, was man bei dieser Musik ganz sicher voraussagen kann, ist dass sie keinerlei Wirkung haben wird, wenn man sich nicht die Mühe macht, ihr wirklich einmal zuzuhören.

Vielleicht ist es hilfreich, wenn ich erzähle wie ich zu dieser Musik kam. Ich glaube, das erste Mal, dass mir ein Name auffiel, war auf Eric Dolphy's "Last Date" (1964 - Limelight), einer Aufnahme mit Han Bennink am Schlagzeug. Jazz Forum (besonders Ausgabe # 38, gegen Ende 1975) machte gelegentlich auf bestimmte 'Namen' aufmerksam, ähnlich wie Melody Maker und die inzwischen eingestellte Jazz & Blues (ehemals Jazz Monthly). In den Anfängen von Cadence bekamen wir schon mal sanfte Stupser und Andeutungen von Martin und Mandy Davidson, und nicht ganz so sanfte von Milo Fine, dass die Europäer aufregende Dinge im Free Jazz machten. Aber das alles waren immer noch Erfahrungen aus zweiter Hand, nachempfunden und ohne Bedeutung. Schließlich bekamen wir einen Brief von Matt Gardner von Innovative Records, der fragte, ob wir interessiert wären Material, das sie in die Vereinigten Staaten importierten und dort vertrieben, zu besprechen. Ganz im Einklang mit Cadence's offener Haltung alles zu behandeln sagten wir, ja klar, und die Sache geriet in Vergessenheit.

Eines Tages kam ein Paket von Innovative Records. Normalerweise versuchen wir, wenn auch nur kurz, in alles reinzuhören, das man uns zuschickt, bevor wir es an unsere Kritiker weitergeben. Glücklicherweise war das der Fall bei Brötzmanns, Van Hoves und Benninks "Outspan #2" (FMP 0200), was mich, sozusagen, aus der musikalischen Spur warf - die Musik war großartig, es war mein erster direkter Kontakt zur FMP und ich fühlte mich wie von einer großen Blindheit (und Unkenntnis) befreit, vor mir ein vollkommen neuer musikalischer Bereich, der nicht nur aufregend war, sondern auch sehr wichtig schien (FMP 0200, Review im Februar 1977, S. 35). Endlich bekamen all diese gedruckten Worte, die mich vorher nicht erreicht hatten, eine Bedeutung - aber eben erst nachdem ich eine musikalische Verbindung herstellen konnte - und wenn man sich nicht wirklich bemüht, sich mit der Arbeit der FMP vertraut zu machen wird einem das auch alles nichts sagen, deshalb rate ich dringend, sich dieser Musik auf irgendeine Weise zu öffnen. Free Jazz hat seine eigenen Hindernisse zu überwinden, bevor er empfängliche Ohren erreicht, und weiß Gott hat der europäische Free Jazz noch zusätzliche Hindernisse beim Import und Vertrieb in den USA. Nachdem ich einige dieser Aufnahmen zum ersten Mal gehört hatte, schrieb ich begeistert an einen Freund, dessen Offenheit und musikalischer Geschmack fast grenzenlos sind, und fragte, ob er mit FMP Material vertraut sei. Seine Antwort war "nein, ich habe nichts von FMP, mein Eindruck von dem Label war, dass es ziemlich abgedrehtes Zeug ist. Ich habe zwar überlegt, mich näher damit zu beschäftigen, aber mit meinen bescheidenen finanziellen Mitteln kaufe ich mir lieber Sachen, mit denen ich mehr vertraut bin." Leider ist das nach der Reaktion "FMP ??", der zweithäufigste Kommentar. Eines der wichtigsten Ziele von Cadence ist es, auf jede hörenswerte (oder auch nicht so hörenswerte) Musik aus allen Bereichen des Jazz und Blues aufmerksam zu machen - und ich schätze, das ist für die meisten Leute auch der Grund Cadence zu abonnieren - daher diese überlange Einleitung - ich bitte Sie eindringlich, tun Sie sich etwas Gutes, und probieren Sie's mit dieser Musik.

 

Zerbam! Gerberfoibleschelter!

Teil 2: in dem Autor versucht, Teile der Musik zu beschreiben

Wegen der besonderen Qualität und der vielleicht größten Zugkraft würde ich empfehlen, als erstes "Outspan # 2" (FMP 0200) oder Breuker's Kollektief "Live in Berlin" (SAJ 06) (wahrscheinlich die zugänglichste und traditionellste von allen) zu hören, die an anderer Stelle in dieser Ausgabe besprochen werden. Beides sind hervorragende musikalische Aussagen und nutzen bizarren Humor und Ironie auf großartige Weise; das macht sie so zugänglich und ist gleichzeitig auch typisch für viele andere FMP Aufnahmen. Daneben charakterisiert aber auch eine todernste, fast aufrührerische, explodierende, anarchistische Qualität viele Platten der FMP, und es gibt Leute, die behaupten, der Musik fehle der afro-amerikanische Einfluss. Nach dem was ich gehört habe, glaube ich, dass dies vollkommen falsch ist, diese Musik ist eindeutig Jazz und basiert gerade auf diesem afro-amerikanischen kulturellen Konzept. Sicherlich gibt es europäische und deutsche Aspekte, die ja auch notwendig sind, um die Musik wirkungsvoll und künstlerisch ehrlich zu machen; vielleicht ist es aber auch ein natürliches Verschmelzen beider Einflüsse. Jedenfalls ist immer deutlicher geworden - und diese Aufnahmen belegen das ganz klar - dass die Amerikaner erkennen müssen, dass die USA nicht mehr der einzige Schauplatz linearer Weiterentwicklungen im New Jazz sind. Die jetzige Generation ist möglicherweise die letzte, deren innovative Einflüsse überwiegend aus dem afro-amerikanischen Bereich kommen. Mit Sicherheit erweist sich Albert Ayler in Europa als größerer Einfluss als in seinem eigenen Land. Meiner Meinung nach arbeiten die Europäer viel stärker mit diesen Ideen als die Amerikaner und entwickeln sie weiter, deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass wichtige Innovationen und Entwicklungen von dort kommen. Sogar die amerikanischen Musiker, die zu neuen Grenzen und Horizonten drängen, wie Braxton, Mitchell, Lacy und einige andere, scheinen viel ihrer kreativen Energie und Unterstützung außerhalb der Vereinigten Staaten bekommen zu haben. Es könnte ganz einfach so sein, dass nach Jahren kultureller Vernachlässigung, systematischem Missbrauch und Rassismus und daraus entstandener Selbstgefälligkeit eine Verschiebung des kontinentalen Gewichts erfolgt.

Die FMP veröffentlicht seit 1969 und drei ihrer produktivsten Künstler sind: Peter Brötzmann, (ein Holzbläser, der als eine Art Vaterfigur des europäischen Free Jazz gilt), Fred Van Hove (Piano) und Han Bennink (Percussion). Zu Konzerten beim "Free Music Market" in Berlin am 27. und 28. August 1971 kam der Posaunist Albert Mangelsdorff hinzu, den man sicher nicht mehr vorstellen muss. Aus dieser Begegnung entstanden drei Aufnahmen: "Elements" (FMP 0030), "Couscouss De La Mauresque" (FMP 0040) und "The End" (FMP 0050). Das Ergebnis ist eine Musik ohne viel Humor, viel mehr 'ernster' Free Jazz, mit Arbeiten von außergewöhnlicher Einheit und hoher Qualität. Es ist schwierig ein Album besonders hervorzuheben, aber durch die konstante Qualität fand ich FMP 0040 am überzeugendsten. Das Titelstück beginnt mit einem furiosen freien Dialog von Van Hoves Piano und Benninks Schlagzeug, ein bisschen schluderig, auch durch seine exzessiven Aspekte, aber daraus entsteht ein wunderbarer Dialog zwischen Brötzmann und Mangelsdorff. Diese Kombination hat eine beruhigende Wirkung, die Piano und Drums zu einem geschlosseneren freien Zusammenspiel führt und übergeht in einen fast surrealistischen Dialog zwischen Mangelsdorff und etwas, das sich anhört wie eine wild gewordene Essensglocke mit unterschiedlichster Klangunterstützung aus dem Ensemble. Eine hervorragende Zusammenarbeit. "Wenn mein Schätzlein auf die Pauke haut", das die gesamte zweite Seite einnimmt, folgt den vertrauten freien Läufen der Entwicklung, in einem dichten Crescendo-Höhepunkt gipfelnd - und endet abrupt ohne musikalische ,Erlösung', wodurch es einen packenden körperlichen Effekt hat. Eine weitere einmalige Erfahrung auf "The End" (FMP 0050) bei "Albert's" entsteht durch einen absolut unglaublichen Wechsel von Soli zwischen Brötzmann und Mangelsdorff. Auf allen drei Aufnahmen werden die Kompositionen ausgebaut (insgesamt 7 Kompositionen); die Arbeiten von Mangelsdorff sind auf dem gleichen Niveau wie die auf "Wide Point" (MPS 20-22569-0), bis zu diesem Punkt das Beste, das ich von ihm gehört hatte.

Am 25. Februar 1973 machte die Gruppe eine weitere Aufnahme, aber ohne Mangelsdorff, es entstand "Brötzmann/Van Hove/Bennink" (FMP 0130). Hier gibt es zehn kurze Stücke, im Durchschnitt vier Minuten lang. Vielleicht liegt es an der Kürze der Stücke, dass die Musik konzentrierter wirkt, die Gruppe verfällt nicht in ihre Routinen, dadurch entwickelt sich ein langsamerer, durchdachterer Verlauf. Klangliche Vielfalt: von Bomben und Kugelhagel bis zum Geschrei der Bronx, die Spanne der Musik reicht vom schrägen Boogie Woogie bis zu respektlosem Humor, zu beängstigender Leidenschaft, zu Crescendos mit physischen und instrumentalen Ausbrüchen, bei denen Brötzmann seine Instrumente (cl, as, ts, bar s, bs) bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringt. Obwohl aus kurzen Stücken zusammengesetzt, wirkt die Platte auch als Ganzes oder als verlängertes Stück. Eine Kostprobe des Humors gibt "Gere Bij". Ich bin mir nicht sicher, aber bei "The Yanks are Coming" habe ich den Eindruck, dass Brötzmann, Van Hove und Bennink hinter sich gucken und sich fragen, wo zum Teufel sind wir hier? Eine weitere Platte dieses unheiligen Trios "Tschüs" (FMP 0230) wurde am 14. September 1975 aufgenommen, ein Titel, "Zigan, Zigan" (4:54), einen Tag vorher im Quartier Latin in Berlin. Das ist vielleicht die schwächste Aufnahme, die ich von ihnen kenne, mit einigen Stücken, die sich furchtbar in die Länge ziehen. Trotzdem hält sich die Spannung beim ersten Hören, aus genau dem Grund, aus dem das alle ihre Aufnahmen tun - Erwartung. Beim ersten Hören kann man nie sicher sein, mit welchen Zügen, Klängen, Routinen dir diese Gruppe kommen wird. Es ist der Überraschungseffekt, obwohl manches hier nach dem ersten Hören eher Last als Freude wird, aber Gott sei dank leben wir ja nicht in einer Zeit von Wegwerf-Platten, nur Wegwerf-Musik, und das ist schlimm genug. Trotz der Schwächen gibt es hier viele Elemente, die das Zeug haben, typisch für diese Gruppe zu sein, wie etwa die hyperkinetische Energie, die explosive Spötterei, Ironie, unbekannte Klänge und Ayler'sche Register, respektlose Germanismen und diese allgemeine hemmungslose Un/Vernunft, die für so viele ihrer Arbeiten typisch ist. Ein Teil des Problems für mich ist der gelegentliche Einsatz des Akkordeons auf dieser Aufnahme durch Van Hove und Bennink, das wirklich nicht mein Lieblingsinstrument ist und hier auch keine großen Vorzüge zeigt.

Die Veröffentlichung von Aufnahmen des Globe Unity Orchestra ist eine weitere Seite der Arbeit der FMP. Das Globe Unity Orchestra ist eine freie großformatige Jazzgruppe - sofern man sich das vorstellen kann - unter Leitung und Produktion des Pianisten Alex Schlippenbach. Dieses Orchester hat das Who's Who des europäischen Free Jazz zusammengebracht, mit Musikern wie Steve Lacy, Evan Parker, Mangelsdorff, Paul Rutherford, Kenny Wheeler, Peter Kowald, Michel Pilz, Manfred Schoof, Brötzmann und Bennink in seinen Reihen. "Live in Wuppertal" (FMP 0160) wurde am 25. März 1973 aufgenommen. Die Tatsache, dass live aufgenommen wurde erscheint mir wichtig, weil ich glaube, dass einige dieser Musiker, die sehr extrovertiert scheinen, am besten in einer enthusiastischen und ungehemmten Live-Umgebung funktionieren. Die Aufnahme beginnt mit einer kurzen sarkastischen Ensemble Version von "Wolverine Blues", sehr wirksam als Spannungsbrecher und Entschlüsselung, aber eher merkwürdig als Eröffnungstitel. Danach folgt "Payan", ein freies Ensemblestück mit Momenten explosiver Kraft, das aber auf seltsame Weise ausgeblendet wird, vielleicht weil Produzent Schlippenbach meinte, dass es ab diesem Moment nicht mehr funktionierte. "Bollocks" hebt Kenny Wheelers Trompete hervor über frei schwebenden Rhythmen und "Yarrak" bietet einige schöne Dialoge zwischen B. Niebergalls Bass und Paul Lovens' Drums. Das geht über in "Bavarian Calypso" alias "Muskrat Ramble", das dieselbe Funktion hat wie schon bei "Wolverine Blues" beschrieben. Die Seite endet mit "Out of Burton's Songbook"/"Solidaritätslied", das sich wie eine Mischung aus John Lewis und Richard Wagner anhört. Sehr theatralische, melodramatische Musik/Märsche - der Sturm der vorrückenden Truppen oder so etwas - ein amüsantes Bild, unterhaltsam, aber nicht sonderlich befriedigende Musik mit anscheinend wenig direkter Komposition und Improvisation. Seite zwei ist vollständig Peter Kowalds (Tuba, Alphorn) "Maniacs" gewidmet. Das Stück beginnt mit einem Jammern und langsamem Trauergesang, ein Dröhnen, angestimmt von den Holzbläsern und Benninks Bagpipes. Aus einem freien Ensemble Crescendo baut sich furioses Posaunenspiel auf (Paul Rutherford?), der Dialog wird von Michel Pilz' Baritonsaxophon aufgenommen und begleitet und führt zu einem Hauptteil mit wechselnden Soli von Bennink (as) und Brötzmann. (Ich nehme an der Posaunist ist Rutherford, er ist der einzige, von dem ich eine solche Technik gehört habe, allerdings ist auch der Posaunist Günter Christmann bei diesen Aufnahmen dabei). Niebergall führt Elastizität und Spannung des Stücks mit schönem Pizzicatospiel auf dem Bass weiter, während Manfred Schoof oder Wheeler wirkungsvolle Trompetenstöße beisteuern. Diese Stelle wäre ein logischer Schluss für das Stück, aber das Adrenalin fließt und der Strom wird wieder aufgenommen von einem Saxophon Solo, entweder von Evan Parker oder Peter Brötzmann, oder von beiden, das ganz einfach elektrisierend ist und in das das Ensemble (der Rhythmus) schließlich mit einfällt, es aufnimmt - wirklich unglaubliche und explosive Momente, deren pure Energie und Kreativität Köpfe, Lautsprecher, Tuner und Instrumente in dieser großartigen Explosion zu zerreißen scheint. Free Jazz der feinsten und verwüstendsten Art und für mich eine Infusion purer Energie, die auch Sie, glaube ich, umhauen wird. Musikalische Technologie, jeder Technologie von Worten sie zu beschreiben weit voraus. "Maniacs" ist einfach unglaublich, mir fehlen die Worte es besser zu beschreiben, aber das alles heißt gar nichts, wenn man sich nicht selber die Mühe macht, es zu erleben.

Globe Unity Special "Into The Valley: Vol. 2" (FMP 0270) ist eine Live-Aufnahme vom Workshop Freie Musik in Berlin. Die Musik hier ist differenzierter durch die individuellen freien Improvisationen, Hauptgrund - abgesehen von den ,kosmischen' - ist wahrscheinlich, dass das Ensemble kleiner ist. Zwei lange Stücke: das Titelstück und "Of Dogs, Dreams and Death" beide von Evan Parker, bilden diese Aufnahme. Neben Parker und Schlippenbach spielen auch hier wieder Wheeler, Rutherford, Kowald und Lovens, hinzu kommen Steve Lacy, Gerd Dudek (ts), Mangelsdorff, und ein unbekannter Hund, der eine stimmliche Einlage auf "Of Dogs, etc" beisteuert. Für mich ist dies eher ein Versuch etwas in Gang zu bringen, als dass es tatsächlich funktioniert hätte, und es wäre nicht fair diese Aufnahme mit "Live in Wuppertal" zu vergleichen, mit so außergewöhnlichen Momenten in "Maniacs", dass ein Vergleich mit irgendetwas anderem sicherlich nur Enttäuschung bedeuten könnte. Mangelsdorff und Wheeler schaffen Ansätze für solche Entwicklungen auf "Valley", aber es zündet hier nicht, während es auf "Dogs, Dreams and Death" daran krankt, dass man versucht die Situation auszutasten, und es dauert zu lange bis Schlippenbach sich bemüht, mit entschiedenem perkussivem Pianospiel alles zusammenzubringen. Trotzdem ist das Ergebnis nicht besonders spektakulär, ein durchschnittlicher Ensemble Höhepunkt der aufbricht in ein Wechselspiel hoher Register zwischen Lacy, Parker und Lovens (Singende Säge), was man getrost vergessen kann und das gilt auch für den Rest des Stücks - viel Lärm um nichts, nicht geschmacklos oder schrecklich, aber auch in den besten Momenten nur Durchschnitt.

Alex von Schlippenbach macht einen Trio-Ausflug auf "Pakistani Pomade" (FMP 0110) mit Lovens (dr) und Evan Parker (ss, ts), aufgenommen im November ´72. Sieben neue Titel, beigesteuert von den verschiedenen Mitgliedern des Trios, bilden diese wirklich exzellente Aufnahme, die besonders gut eingespielte freie Trio Musik präsentiert. Parker spielt herausragend, eigentlich alle, aber sein Saxophonspiel ist am durchdringendsten, er macht Dinge auf seinem Instrument, die sogar heute noch wenig erforscht sind; an einer Stelle klingt er wie eine Posaune. Lovens spielt außerordentlich aufmerksam unterstützend, bleibt aber immer sein eigener Herr, kein bloßer Timekeeper. Time wird hier nur angedeutet, und wenn tatsächlich ausgespielt, dann von der ganzen Gruppe getragen. Musik auf hohem Niveau, ausgewogen zwischen den drei Musikern, mit starkem Einzel- und Zusammenspiel.

Ein weiteres Globe Unity Mitglied, Posaunist Günter Christmann, hat die Aufnahme "Remarks" (FMP 0260) herausgebracht. Seite eins besteht aus vier Kompositionen, gespielt vom Duo Christmann / Detlef Schönenberg (perc), Seite zwei ist unterteilt in drei Soloausflüge Christmanns und vier Triostücke mit Schönenberg und Harald Bojé (Synthesizer). Christmann erforscht ähnliche Stoffe, die schon Paul Rutherford bearbeitet hat, jedoch nicht so fragmentiert, in meinen Ohren klingt sein Solospiel jedenfalls logischer, obwohl es nicht die hohen emotionalen Spitzen erreicht, zu denen Rutherford gelangen kann. Ich ziehe die zweite Seite vor, hauptsächlich wegen des schönen Zusammenspiel des Trios mit dem Synthesizer, der hier unter ,menschlicher' Kontrolle zu sein scheint und sozusagen kein Eigenleben führt; auch mit der Posaune zusammen wirkt er sehr gut. Wie auf den meisten FMP-Aufnahmen ist auch hier der Schlagzeuger ein guter Zuhörer und gleichberechtigtes Mitglied im Zusammenspiel der Gruppe.

Der Perkussionist Paul Lovens liefert auf "Carpathes" (FMP 0250) vorbildliche Arbeit ab, zusammen mit Michel Pilz (bcl) und Peter Kowald (b). Genau genommen ist dies hauptsächlich Pilz' Auftritt, weil er durchgehend auf der ganzen Aufnahme spielt, Solo, Trio oder im Duo mit Kowald. Trotzdem ist es Lovens, der mich hier am meisten beeindruckt, wie er klopft, klingelt, klimpert auf dem Schlagzeug, und es schafft, sowohl rhythmische Freiheit und Abstraktion zu schaffen und gleichzeitig einen eher traditionellen Rhythmus zu unterlegen und sich immer ausgezeichnet zu behaupten weiß. Die Rhythmiker spielen wirklich durchgehend hervorragend, weil sie oft jenseits der traditionellen Rolle funktionieren, besonders gut gefällt mir der Einsatz von Kowald's Bass, der auf einigen dieser acht Stücke fast wie ein Blechinstrument klingt (aufgenommen August und September 1975). Pilz' Technik auf der Bassklarinette steht außer Zweifel und hat ihre starken Momente, aber auch unklare und zögernde Seiten - im Gesamtbild ist das aber zweitrangig und lenkt kaum von der Ernsthaftigkeit und der hohen Qualität des Ganzen ab. Manchmal, so zum Beispiel bei dieser Aufnahme, komme ich an einen Punkt, wo ich die FMP Leute gerne in einem etwas traditionelleren Zusammenhang hören würde. Eine Ellington Komposition zum Beispiel würde sich der Struktur dieses Trios sehr anbieten und wäre nicht nur ein passendes und inspirierendes Ausdrucksmittel, sondern würde auch zu noch mehr Vielfalt in einem schon so umfassenden Werk beitragen.

Der Pianist Ulrich Gumpert und der Schlagzeuger Günter "Baby" Sommer bilden das "Gumpert/Sommer Duo", das Musik mit dieser typischen freien Ausgelassenheit spielt, aber doch verschieden von anderer Musik der FMP, über die ich hier schreibe. Auf "The Old Song" (FMP 0170) gesellt sich der Alto Spieler Manfred Hering auf sechs der zwölf Titel zu ihnen, aufgenommen am 17. und 18. Juli 1973. Diese Musik scheint eine viel stärkere Tendenz zu selbst auferlegter Struktur zu haben, was im Endergebnis (bewegende - befriedigende Musik) das Gleiche ist wie eine weniger strukturierte Musik. Hier gibt es wohl ein bewussteres Bemühen des Einzelnen, sich an manchen Stellen zurückzunehmen und eine Stimme in den Vordergrund zu stellen. Die gelungensten Momente sind die Begegnungen mit Hering, bei dem man sowohl beim Spielen in hohen Lagen als auch in seinen Kompositionen (wie bei Gumpert) starke Einflüsse von Albert Ayler erkennt. Tatsächlich hören sich manche Kompositionen an, als wären sie von einem deutschen Ayler geschrieben. Die Duostücke sind voller Energie und hyperaktiv, der Schwerpunkt eindeutig auf dem Schlagzeug, aber für mich sind es die Saxophonpassagen, die Tiefe hineinbringen (und die Aufnahme so gelungen machen) und die Gumperts Klavierspiel zu den großartigsten Höhenflügen inspirieren.

Gumpert und Sommer haben am 6. und 7. März 1974 eine weitere Aufnahme gemacht, dieses Mal mit Ernst-Ludwig Petrowsky, Saxophon, und Conrad Bauer, Posaune: "Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil" (FMP 0240). Neben den vielen anderen Höhepunkten auf FMP Aufnahmen ist hier nur das Ensemblespiel von vergleichbarer Qualität, denn Petrowsky und Bauer sind keine starken Vertreter der einzelnen Aussagen, und obwohl auch sie kompetent genug sind, klingen sie ein bisschen zweitrangig; am besten gelungen ist das lange Stück "Krisis eines Krokodils" (16:30), auch auf dem Duostück "Zweisam" (3:34) gelingt ihnen eine gute Performance. Insgesamt fand ich diese Aufnahme aber fast nervend fade.

Der Gitarrist Hans Reichel hat einige Aufnahmen bei FMP produziert, die ich immer noch als ziemlich experimentell und in Entwicklung befindlich bezeichnen würde. Ich könnte mir vorstellen dass man, mit geeigneter Verstärkung, seine Arbeiten gut in größere Gruppen integrieren könnte, aber das ist reine Spekulation, denn die beiden Aufnahmen, die ich von ihm gehört habe, "Wichlinghauser Blues" (FMP 0150) und "Bonobo" (FMP 0280) sind Soloarbeiten. Die erste wurde im Juni 1973 aufgenommen und präsentiert eher traditionelle Gitarrenklänge (nicht traditionelle Musik): Reichel erzeugt Klänge vom klassischen Deltastil bis zu Synthesizer Effekten, indem er die Gitarre bearbeitet und eine Auswahl an Hilfsmitteln benutzt. Darunter 1-3 Pick-ups, Schnapsglas (Echo) und sogar einen elektrischen Rasierapparat an den Gitarrensaiten, mit dem er sehr interessante Effekte erzeugt, insgesamt aber ein eher experimentelles als ausgereiftes Produkt. Auf "Bonobo", aufgenommen im Oktober 1975, hat Reichel die Gitarre noch radikaler verändert, indem er die Hälse von zwei Gitarren abnimmt und sie miteinander verbindet (wodurch eine Art langer ,Stock' entsteht) und dann den gesamten ,Stock' verstärkt. Das Ergebnis ist ein Klang irgendwo zwischen einer Gitarre und einem Cembalo. Generell beeindrucken mich Reichels Ideen zwischen Klang und Instrument mehr als die eigentliche Musik, die er erzeugt. Aus diesem Grund fand ich diese Aufnahme auch die am wenigsten gelungene von allen FMP Produktion, die ich gehört habe.

Generell ist alle FMP Musik, die ich gehört habe, von einem gesunden Selbstbewusstsein geprägt, und obwohl die FMP zweifellos gerne ein breiteres Publikum erreichen würde, ist es offensichtlich, dass die einzelnen Aufnahmen hier hauptsächlich als künstlerischer, kreativer Ausdruck entstanden sind und nicht überwiegend mit kommerziellen Absichten. Das erklärt einige Ecken und Kanten, aber es gibt auch großartige Momente und Höhepunkte, wie das bei durchschnittlichen kommerziellen Aufnahmen nur selten der Fall ist. Bei den Lesern, die vielleicht schon die Freuden, Anforderungen und Inspirationen des FMP-Katalogs kennen gelernt haben, möchte ich mich für meine vielleicht blauäugige Naivität entschuldigen. Meine Absicht beim Schreiben dieses Artikels war es, etwas von meiner Begeisterung mitzuteilen, so wie es mir spontan einfiel, in der Hoffnung, genügend Neugier zu wecken, diese Aufnahmen zu nutzen und selber zu hören. Wenn nicht, war meine Mühe umsonst, die Namen werden abstrakt 'fremd' bleiben, die Musik wird nicht gehört werden und meiner Meinung nach wird Ihnen in Ihrer eigenen musikalischen Erfahrung viel fehlen.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

aus: Cadence Magazine # 3, März 1977
© Cadence, veröffentlicht mit Erlaubnis des Autors / Herausgebers

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