Steve Lake (1988)

Die Improvisation befreien? Von was?

Die Geschichte hat einen Bart, aber trotzdem….:
Der alte japanische Maler schickte eine hohe Rechnung für sein Bild von Vögeln im Fluge. „Aber Sie haben es in einem einzigen Pinselstrich ausgeführt“, protestierte der Buchführer des Kaisers. „Ja, es war ein einziger Pinselstrich“, nickte der greise Künstler, „aber ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, mich auf diesen Strich vorzubereiten.“

Die Anekdote ist als Analogie durchaus brauchbar. Sie wirft einiges Licht auf den Argwohn, mit dem die Bannerträger der Komposition (noch immer) auf die Praktiker improvisierter Musik blicken. Zum großen Teil lässt diese Feindseligkeit sich auf Neid zurückführen. Da sie sich einer der etwas mühsameren Aufgaben im Universum verschrieben haben (eine Orchesterpartitur mit all ihren Stimmen zu Papier zu bringen, ist noch weniger erquicklich als die Arbeit einer Büroschreibkraft), ärgern Komponisten sich über die Tatsache, dass Improvisatoren ‚spielend erfinden’. Improvisatoren wiederum lehnen die überholte Auffassung ab, derzufolge der Komponist als Großer Mann und Autorität dasteht, und sie stellen das Herr/Diener-Verhältnis in Frage, dass die Komposition dem ausführenden Musiker auferlegt, indem sie ihn zum Knecht dieser kleinen schwarzen Tüpfelchen macht.

Doch die Hörer, wenn ich im Namen dieser schweigenden Minderheit sprechen darf, kann das oben Gesagte herzlich wenig kümmern. Derek Baileys Buch „Improvisation“ behauptet, wenn ich mich recht erinnere (ich besitze kein Exemplar mehr; lieh es einem Musiker; immer eine Fehler), Improvisation sei eine Kunstform ohne Endprodukt. Wir Hörer, umgeben von Regalen mit Platten improvisierter Musik, haben das nie geglaubt. Dem Plattensammler erscheinen vierzig Minuten von, sagen wir, Brötzmann und Bennink, wie sie im Schwarzwald herumtollen, genauso festgelegt und endgültig wie vierzig Minuten von den mathematischen Synkopierungen der musikalischen Zahnräder und Kolben eines Steve Reich. Wie oft man jede Platte auch spielt, sie bleibt bestimmt dieselbe. Das wird tatsächlich auch dadurch bestätigt, dass kleingedruckt auf dem Label eines jeden Improvisators zu lesen ist: „Alle Kompositionen von…“ Die Antipathie gegen den kompositorischen Arbeitsgang hat einen Improvisator noch nie dazu veranlasst, Publikationstantiemen auszuschlagen. Und übrigens: Was ist eine Komposition denn anderes als eine gefrorene Improvisation? Jedes Musikstück in der Weltgeschichte begann sein Leben als eine Improvisation. Im Konzertsaal wird der Hörer sich nur selten über die gesellschaftliche Philosophie des Auftretenden den Kopf zerbrechen. Als Kunden zahlen wir unseren Eintritt (manche von uns wenigstens) und wollen in Erstaunen versetzt werden. Die damit verbundenen Mechanismen – Partitur oder keine Partitur – sind jemandes anderen Problem. Ohne Sicherheitsnetz dargebotene Trapezkünste sind nicht automatisch erstaunlicher als solche mit Netz; die Sache ist nur etwas peinlicher, wenn jemand auf die Nase fällt. Innerhalb eines gegebenen Zeitrahmens – die Türen öffnen sich um 20 Uhr – tun Musiker ihr Bestes, um den Auftritt zu einem Ergebnis zu bringen, mit welchen Mitteln auch immer. Wie Gertrude Stein sagte, ein Gig ist ein Gig ist ein Gig.

Material oder kein Material? Das ist nur eine Frage der Definition. Keiner von uns wäre interessiert an einem Musiker ohne Material. Ein Musiker ohne Material ist nicht wirklich ein Musiker. Der interpretierende Musiker hat sein Notenblatt. Der Improvisator hat sein ‚Vokabular’.

Wenn Improvisatoren davon sprechen, „ein Vokabular aufzubauen“ (und sie tun es durch die Bank), dann geben sie zu, dass ihre Musik einer Methodologie folgt, die ihre eigenen Wegweiser, Gebärden, Formeln und – unausdenkbar! – Gesetzmäßigkeiten hat. Mittlerweile ist freie Musik ein Idiom, nicht nur ein Stil, sondern eine komplexe Mannigfaltigkeit vieler Stile, Vokabularien, Sprachen. Einige von diesen Sprachen kommen einem vielleicht so dunkel vor, dass sie fast private Geheimsprachen sein könnten, aber jeder, der sich dazu bequemt, ihnen nachzuspüren, wird entdecken, dass sie Zusammenhang haben, jede nach ihren eigenen Bedingungen. Unsere improvisierenden Männer und Frauen arbeiten nicht, oder nicht immer, im Dunkeln oder reden in Zungen. Wenn freie Musik für einige ihrer Praktiker einst eine Art Urschreitherapie war, so ist das heute nicht mehr der Fall. Zunehmend ist ihnen daran gelegen, beim Ordnen des Materials Wege zu finden, auf denen ihre persönliche Art des Musizierens bei anderen Musikern Anklang finden kann. Das hat zunehmend bedeutet, dass der Gruppenimprovisation irgendeine Art Struktur auferlegt wurde.

In den Sechzigern und Siebzigern war oft zu hören, Gruppenimprovisation sei im Trio schwierig, im Quartett verteufelt schwierig und in größeren Formationen gänzlich unmöglich. Die besten der größeren Bands, wie etwas das Globe Unity Orchestra, waren notorisch inkonsistent, wenn sie völlig „freie“ Programme spielten. Trotz aller Ansprüche, die die rivalisierende aleatorische Musik an unsere rundum entgegenkommenden Hörfähigkeiten stellte, machten so gut ein Dutzend Improvisatoren, gleichzeitig voll im Schwall, oftmals eine sehr schlammige Musik, ungefähr so, wie alle Farben zusammen auf einer Malerpalette sich zu einer Art Müllkübel-Graubraun vermischen. Und wenn größere Gruppen diesen tiefen Morast zu umgehen suchten, liefen sie Gefahr, ihre individuellen musikalischen Identitäten preiszugeben, wodurch eine Tendenz zur Schüchternheit oder Überhöflichkeit sich breitmachte („Nach Ihnen, mein Herr!“ – „Nein, nein, nach Ihnen“) Einige der besten Kräfte der freien Interpretation frönten einem gefährlichen Leben, sowohl auf als auch außerhalb der Bühne. Es war schwierig, sich gleichzeitig behutsam zu „kümmern“ und melodramatisch Eisen zu fressen.

Der Weg aus dieser Zwickmühle: mehr geschriebenes Material, mehr Struktur. Die Anarchisten waren gebeten, eine gesunde Leidenschaft für Ordnung zu entwickeln.

Das ist nicht ganz so widersprüchlich, wie es zunächst den Anschein hat. Die Schönheit der Improvisation liegt darin, dass die von vielen Spielern entwickelten musikalischen Systeme so gut wie nicht umsetzbar sind. Evan Parkers Atomisierung des Sopransaxophontones, die Hyperaktivität von Tristan Honsingers Cello, die Druckwellen, die von Han Benninks überlebensgroßen Gebärden ausgehen – die Liste könnte noch lange weitergehen -, sind Beispiele für eine nicht übertragbare, ganz eigentümliche Virtuosität. Jeder Musiker ist ein musikalisches Vehikel, er (oder auch sie natürlich) ist ein Kapitel per se in der Geschichte improvisierter Musik, ein Glied in der Kette. Every Single One Of Us Is A Pearl, wie ein Globe Unity-Titel es ausdrückte. An diesem Punkt angelangt, besitzt jeder Spieler seinen speziellen Informationsspeicher. Zurzeit gibt es keinen Computer, keinen Sampler, der machen kann, was Brötzmann oder Peter Kowald macht. Ein Komponist, der die Texturen und Töne benutzen will, die allein der freien Improvisation eigen sind, muss sich zu den Musikern bemühen. Penderecki hat es getan, desgleichen Hans Werner Henze. Eine besondere Unterströmung schöpferischer Musik in den Achtzigern bestand darin, Systeme aufzustellen, innerhalb derer Improvisatoren, ‚sie selber’ sein können; Gerüste, um sie ‚ins Licht’ zu setzen. Und wer könnte solche Systeme besser einstellen als die Improvisatoren selber? Der Gedanke scheint zunächst gegen die alten Argumente gerichtet (Form ist passe, Inhalt selber wird zur Form usw.usw.), ist in Wirklichkeit aber ein pragmatischer Kompromiss im Interesse des Hörens und Fähigseins zu hören, was die Spieler erreichen können. Die Beispiele von Butch Morris und John Zorn als Komponisten/Dirigenten weisen in die neuen Richtungen. Da Erfahrung gezeigt hat, dass große Gruppen selten Homogenität erreichen, und dass das Detail im individuellen Stil im Versuch steckenbleibt, haben Zorn und Morris eine schneller sich bewegende Klangwelt vorgelegt, die auf winzigen Ereignissen beruht, welche wirbelnd sich fortwährend verändern. Auf Einsatzzeichen rattern die Improvisatoren Solos, Duos, Trios herunter, die fast wie unterschwellig wahrgenommene Werbung vorbeiflitzen. Das ist Collage-Kunst, ein Schnitt-und-Klebe-Pointillismus, der hofft, dass seine Patchwork-Effekte schließlich in einem einzigen Bild zur Übereinstimmung finden. Unterdessen wird seine episodische Natur mit Titeln gefirnisst, die die größte Brennweite nahelegen, etwa „Current Trends in Racism in Modern America“. Im großen Ganzen findet die Kritik Gefallen an diesen schnell sich bewegenden Sachen, aber schon sind auch Stimmen der Ablehnung hörbar. Laufen diese Stürme von Bildern und Ideen auf mehr hinaus als auf ein Varieté-Programm mit drei Klingelzeichen. Wie unterscheidet sich der Reingewinn von einem trostlosen Abend vor dem Fernseher, wo man durch Knöpfedrücken und Kanälewechseln den letzten verzweifelten Versuch unternimmt, die Langeweile abzuwehren???

Wie dem auch sei, wir können froh sein, dass es ein paar Künstler gibt, deren Werk außerhalb aller historischen Trends Bestand hat und als solches Gesetz ist. Cecil Taylor hat einmal gesagt „Wir alle sind zeitliche Musiker“, doch diese Feststellung scheint tatsächlich auf jeden anderen, den man nennen könnte, mehr zuzutreffen als auf ihn selber. Radikal, seitdem er in Erscheinung trat, und vom Mainstream des Jazz ebenso weit entfernt wie von dem, was das Konservatorium unter gutem Geschmack versteht, ist sein Einfluss auf die europäische Improvisation besonders nachhaltig gewesen.

Bei seinen Berliner Konzerten und Workshops wird Cecil Taylor wohl kaum Konzessionen hinsichtlich der Verfahrensweisen der lokalen Improvisatoren machen (Konzessionen irgendwelcher Art scheint es in seiner Weltsicht nicht zu geben), aber nun ja, das braucht er auch nicht. Bei seiner Fähigkeit zu inspirieren, hat er allen Musikern, die bei diesen Berliner Ereignissen gefeatured werden, etwas von seinem musikalischen Denken eingeflößt, als sie noch bildbar waren, lange bevor sie es für möglich halten konnten, dass sie je miteinander spielen würden. Im europäischen freien Spielen leitet sich so viel her von den exemplarisch bahnbrechenden Aufzeichnungen Taylors im „Cafe Montmartre“, dass jede Zusammenarbeit gewissermaßen nichts anders sein kann als eine „Ernte einbringen“.

Improvisation ist zurzeit ein provisorisches Esperanto. Die Band, die der holländische Bassist Maarten Altena mit bringt, umfasst neben ihm Musiker aus Finnland, Österreich, Frankreich und England. Der Zeitpunkt, wo jeder einigermaßen zusammenhängend mit nationaler stilistischer Identität sprechen konnte, ist überschritten, die deutsche Schule, die holländische Schule und so weiter. (Waren diese Bezeichnungen jemals mehr als die herkömmlichen Aufkleber von Journalisten?) Doch wie universal die Form auch wird, wie nahe wir den alten Träumen von einer „Weltmusik“ auch kommen können, die besten Spieler werden nicht vergessen, woher diese Musik stammt.

Ich finde es ermutigend, dass Cecil Taylor bereit ist, mit europäischen Musikern zu spielen. Ich meine auch, dass die alten Soldaten der europäischen Improvisation die Ehre verdient haben. Mittlerweile ist das Verhältnis nahezu symbiotisch. Taylor und seine Zeitgenossen haben den Free Jazz erfunden und entwickelt, ja. Und Europa hat ihn großgezogen (ausgebeutet, sagen einige).

Ohne die europäische Unterstützung durch Gigs, Hörer, Plattenfirmen usw., und ohne eine Welle europäischer Improvisatoren zur Verbreitung der Botschaft, würde „energy music“ lediglich eine Fußnote in der Jazzgeschichte sein, eine unkommerzielle Abirrung der sechziger Jahre. Noch immer ist sie nicht geradezu eine Lizenz zu Gelddrucken, doch die Leute, die sie spielen, zeigen keine Anzeichen, von ihr ablassen zu wollen. Vielleicht, wie Brötzmann sagt, „weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen“.

Aber besser formuliertes es Cecil Taylor in einem Interview mit J.B. Figi: „Ich glaube, die größere Verantwortung liegt jetzt darin, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Leute uns spielen hören können…Es gibt eine Art Entwicklung, die nicht aufhört; die mit Worten nicht zu beschreiben ist: die Freude, die Musik wachsen zu sehen.“

Übersetzung: Wulf Teichmann

aus: Broschüre „improvised music“, Free Music Production (FMP), 1988