Konrad Heidkamp (1988)

So WIE mit falschen Schuhen im Kopfhörer

Kopfhörer um Kopfhörer…immer wieder ein Ausfallschritt nach links.
Das Einordnungspersonal bei WOM beobachtet mich manchmal etwas misstrauisch, wenn ich mir Notizen mache. Branford Marsalis, Peter Erskine – mir fällt nichts ein. Miles Davis ‚Sketches of Spain’ – ich bleibe hängen. Es sollte etwas Neues sein. Wayne Horvitz, Christ Jarrett…es klingt immer WIE etwas. Ich will das nicht hören. ‚Thelonious Monk himself’. Er selbst, persönlich. Er drückt zwei Akkorde und es klingt wie Thelonious Monk. Nach jedem Ton wartet man darauf, wie es weitergehen wird. Man weiß es schon und jedes Mal ist es wieder aufregend. Es sind Improvisationen als Tasten an den Gehirnströmen entlang, ohne die Möglichkeit anders abzulaufen. Er hätte nie seine Hüte und Mützen abnehmen können, man hätte sie sehen müssen – diese Tonsprünge in seinem Gehirn.

Eine Woche Berliner Jazz-Tage im November. Kaum einer hatte einen Hut auf. Man stolpert durch die Regale, verstaubt und beschriftet nach Stilen mit dem Alibi eines Namens: Tribute to XV. Oder andersrum: so WIE. Der Stil ist identisch mit einer Methode. Trompete, Saxophon, Klavier, Bass, Schlagzeug oder manchmal ließ man den Bass aus und das Schlagzeug durfte nur vier Takte. Oder a+b, b+c, a+c und der gemeinsame Nenner tonal, modal oder frei und die einen blätterten im Programmheft und die anderen hörten zu – wahlweise. Kaum jemand ging, niemand schrie Scheiße. Man hatte nur kurzfristig den falschen Kopfhörer aufgesetzt. Dieses Stilbarometer eines Berliner Jazzclubs musste verbindlich als Aufkleber vorgeschrieben werden: Rockjazz, Swing, Bebop, Free Jazz. Zwei, drei Kopfhörer überspringen und nicht zu befürchten, serviert zu bekommen, was man nicht bestellt hatte. „Ach Gott, das ist ja Free Jazz“ hörte ich vor ein paar Monaten in einem Jazzclub, in dem Tonfall, mit dem man feststellt, dass man in die falsche U-Bahn eingestiegen ist. Man muss nur bei der nächsten Station aussteigen und zurückfahren. Die Avantgarde läuft seit Jahren ins Leere, es gibt keine Feinde mehr, in jeder Stadt ein Obdachlosenasyl für stellungslose Revolutionäre. Man braucht nichts mehr wahrzunehmen, es klingt so WIE.

Die Schallplattenläden zeigen an, wann ein Musikstil der Vergangenheit angehört. Das Fach ‚Free Jazz’ wurde wie die Fächer ‚Punk’ oder ‚New Wave’ schon vor langer Zeit aufgelöst. Die Revolution wird für beendet erklärt und alphabetisch einsortiert. John Coltrane steht vor Eddie Condon, nach Nat King Cole kommt Ornette Coleman, das Art Ensemble folgt auf Armstrong und Taylor und Tatum sind sich ganz nahe. Und das zu Recht. Was hatte John Coltrane mit Ornette Coleman, was Cecil Taylor mit Albert Ayler zu tun? Sie sind sich aus dem Weg gegangen und sie wussten schon warum. Ich besaß ‚My Favorite Things’ und mein Freund, ‚Change of the Century’ und wir waren beide Free Jazz Fans. Seine Eltern sprangen vom Wohnzimmersofa auf und meine auch – es funktionierte. Ein Stil war definiert. Er hörte Miles Davis und ich Dizzy Gillespie und wir hielten beides für Bebop. Die behrendtschen Stammbäume hatten nicht nur uns verwirrt. Die verzweifelte Suche Coltranes nach dem einzig möglichen Ton, der alles in sich enthält, die rhythmischen Stenogramme Taylors, um einen zusammenhängenden Atem zu entwickeln, die endlosen Melodieschleifen Colemans, um eine Stimmung einzukreisen, sie gehen vielleicht auf ein Ziel zu, aber es sind unvereinbare Wege. Cecil Taylor steht schon richtig neben Art Tatum.

Für 24,95 DM Ornette Colemans ‚In all languages’. Stimmen, die sprechen. Der einzige Tonfall, der möglich ist, für das, was man sagen will. Er kann nicht ‚falsch’ spielen, weil das musikalische System mit der Person identisch ist. Denkbar sind nur Augenblicke, in denen er nicht bei sich ist und dann spielt er ‚schlecht’. Aber nie ‚schlechter ALS’. Oder er ist in falscher Gesellschaft. Und dann schämt man sich für ihn und es ist peinlich, aber es lässt einen nie kalt. In den besten Momenten sind Inhalt, Tonfall und Form eins, oder es plappert inhaltsleer und formlos, aber der Tonfall macht in unvergleichlich. Plattenbesprechungen erübrigen sich da. Ist Parkers ‚Lover man’ schwächer als ‚Confirmation’? Ist Regen weniger zu empfehlen als Sonne? Wer die Augen und die Stimme Robert Mitchums liebt, wird ihm auch seine banalen Filme verzeihen, wenn auch wehmütig.

Randy Brecker – es wird eisig. Ein Feld überspringen zur Belohnung: John Coltranes ‚Ballads’. Bei jedem Umzug stehe ich vor dem Plattenschrank, sehe die Stockwerke vor mir, höre meine entschuldigend gemurmelten Floskeln beim Versuch anderer, die Schachteln mit den Platten hochzuheben und beschließe, wieder einiges zu verkaufen oder zu verschenken. Die alte Frage: welche Platte höre ich selten oder nie? Und dann lege ich sie auf, um mein Gewissen zu beruhigen, vielleicht, um einige Stücke auf Kassette aufzunehmen. Ich habe vieles weggegeben und kaum vermisst, aber noch nie eine John Coltrane Platte. Es ist immer das Gleiche. Als ob man Briefe wieder liest, manche kennt man auswendig, manche hat man vergessen, manche sind ärgerlich, aber man darf sie nicht verleugnen. Coltrane Time, Taylor Time, Monk Time. Oft höre ich monatelang nichts von ihnen und dann weiß man, dass es Zwischenzeit war, verlorene Zeit oder auch notwendige Zeit, um zu spüren, was wichtig ist. Gil Evans spielt Bud & Bird. Das John Coltrane Quartet ohne John Coltrane. Das Bill Evans Trio ohne Bill Evans. Das Ellington Orchester ohne Duke Ellington. Es ist Zombie-Jazz. Untot, lippensynchrones Wachsfigurenkabinett. Tonfälle werden imitiert und es klingt WIE – echt. Aber nur fast. Und dieses ‚Fast WIE’ ist noch entsetzlicher als das ‚So WIE’, weil Musik nicht einmal mehr als mögliche Ausgangsbasis für die Suche nach einem eigenen Stil nachempfunden wird, sondern Tote etikettiert und rosa geschminkt zu Exponaten werden. Hollywood betrieb seine Leichenfledderei zumindest immer ehrlich naiv. Der offizielle Jazzbetrieb wird aber immer verlogener, weil er vorgibt, ein Erbe zu würdigen, ohne den Lebenden eine Chance zu geben auszuprobieren, welche Teile des Erbes noch brauchbar sind. Es ist ziemlich eintönig, die Abwesenheit großer Persönlichkeiten zu beklagen, die Postmoderne zu bemühen oder den gesellschaftspolitischen Kontext zu beschreiben – der Kopfhörer mit Ornette Coleman ist wieder frei geworden. Coleman klingt genauso wie Coleman.

Ein Fetzen elektrisches Gebrodel, Schummermusik, Tablatrommeln, lyrische Trompeten, der Vergleichsreflex setzt wieder ein. Ein bisschen wie, nicht ganz so wie, schlechter als, besser als. Das ‚Elend des Vergleichens’ nannte das Peter Handke einmal. Liegt es an mir, fehlt mir die Kraft oder bin ich nicht mehr auf dem Laufenden? „Ich weiß nicht, was momentan in der Popmusik los ist. Ich war zwei Wochen krank“ stichelte Ray Davies von den Kinks. Die Gefahr, einen Stil zu verschlafen, besteht beim Jazz sicher nicht, nur die Namen sagen einem nichts mehr. Und dann hört man, dass die Namen austauschbar sind. Und ich stehe vor den Regalen, hilflos blätternd. Informieren wollte ich mich. Grundsätzliches über neue Tendenzen im Jazz schreiben, die New Yorker mit der englischen Avantgarde vergleichen, und es lässt mich völlig kalt. An Monk & Trane bleibe ich angehängt und kann nicht mehr unterscheiden, ob es einfach gut oder nur vertraut ist. Meist höre ich nur mehr Modelle und Methoden, aber keine Menschen. Sich wieder ins Auto zu setzen und 600 Kilometer zu fahren, um einen Klang wiederzufinden, den man einmal gehört hat und der dich verfolgt. Es geht nie um irgendwelche harmonischen oder rhythmischen Neuerungen. Man weiß nur, dass man am Montagfrüh wieder zurück sein muss und dass es ein anderer Montag sein wird. Es lohnt sich immer loszufahren und die Platten zuhause zu vergessen. Peter Brötzmanns Nacken, Ornette Colemans Sakko, Cecil Taylors Socken, Chet Bakers Stuhl, Dexter Gordons Augen, Archie Shepps Schuhe – wer sie nicht gesehen hat, kann ihre Musik nicht hören. Sie improvisieren nicht über irgendwelche Harmonien, sondern über sich. Die Beziehung zu den Schuhen ist wichtiger als jede Musiktheorie. Die Musik, die zu den Schuhen passt, ist dann nicht mehr beliebig. Das nennt man dann Stil, denke ich. Die endlosen Klagen über die zu große Freiheit, die der Free Jazz mit sich brachte, die Parallelität von musikalischem Laisserfaire und gesellschaftlicher Indifferenz der 80er Jahre würden sich erübrigen, wenn die Musiker wieder mehr Wert auf ihre Schuhe legen würden. Und dann verschwindet langsam das Blättern in den Regalen und wird wieder zur Suche.

„Ornette Coleman ist Bullshit. Wenn ein Typ sagt: Mann, ich improvisiere darüber, wie ich mich fühle, ist meine Antwort: Fuck you!“ bemerkte einmal Steve Reich und strich mit der Hand an seinem maschinengestrickten Pullover entlang. Es klingt wie aus den Verließen der Jazzinquisition der 60er Jahre. Gefühle, die geäußert werden, besitzen immer eine Struktur, und sei es nur das Atmen und die Pausen beim Sprechen. Improvisation bedeutet, was und wie es gesagt wird. Aber der Inhalt einer Aussage wird in jeder Form von Kunst durch das WIE definiert. Man wird das Fernsehbild ebenso wenig mit dem Schaltplan in Einklang bringen können, wie die Transkription eines Jazzsolos mit dem, was man hört. Man muss Steve Reich nicht schlecht machen, um zu wissen, wie gut Alexander von Schlippenbach ist. Und immerhin hat Steve Reich zu einem Stil gefunden, der zu seinem Pullover passt. Musiker wie Steve Reich wissen, was sie komponieren. Musiker wie Ornette Coleman können über ihre Gefühle improvisieren, weil sie das richtige Sakko tragen. Und sie müssen nicht mehr darüber nachdenken, wann und wo sie es gekauft haben. Oder, um auf Robert Mitchum zurück zukommen: „I’m not sure how I do what I do. But anyone is welcome to try. I mean the store is open to anyone to buy the same materials Picasso uses”. Ein schöner Ausblick.

aus: Broschüre „improvised music“, Free Music Production (FMP), 1988