Diedrich Diederichsen (1984)

Cecil Taylor
Music For Two Continents

Ein Mann klingelt an der Villa von Mandelbaum.
„Haben Sie ein Almosen für einen stellungslosen Musiker?“ –
„Wieso stellungslos? Was spielen Sie denn?“ –
„Ich spiele Fagott“. – „Sie sind ja verrückt.
Warum spielen Sie fa Gott. Warum spielen Sie nicht fa die Leit“.
Jüdischer Witz

Ist es nicht, dass diese kleine Geschichte, alles zusammenfasst, was es über die so Wenigen vertraute Kunstform des Free Jazz zu sagen gibt? Nicht nur, dass diese Leute alle für Gott spielen, statt für die Leute, nein Cecil Taylors kleines Orchester hatte auch eine Fagottistin dabei, die sehr ausdauernd ihrem unförmigen Knüppel grunzende, schnarrende Laute entlockte.

Es gibt ein öffentliches Interesse, sich in diesen Zeiten einmal mehr zum Tabuthema Free Jazz zu äußern. Es gibt bei mir ein privates Interesse, das am Beispiel Cecil Taylors aufzuziehen.

So wäre sicher manchem von euch vieles erspart geblieben, wenn dieser Mann nicht in mein Leben getreten wäre. Als junger Mann hielt auch ich mich für einen begabten Pianisten und improvisierte gerne über Mittelteile von Doors-, Soft Machine- und Incredible String Band-Partituren. Die monotonen Quinten, die meine linke Hand zur Unterstützung der atemberaubenden Läufe der rechten beizutragen pflegte, sind Kennern noch heute ein Gräuel. So geriet ich in jungen Jahren in Musikerkreise und sah bald ein, dass der Jazz, in seinem unermüdlichen Kämpfen um das Einreißen von Barrieren, die Musikrichtung sei, der auch meine tatkräftige Unterstützung zuträglich sei, zumal sich bei diesen Improvisationen nie so klar feststellen ließ, ob ich gerade mal wieder eine Barrikade am Einreißen war oder einfach nicht spielen konnte.

Natürlich hörte ich fleißig diese Platten von Ornette Coleman, Archie Shepp, Pharaoh Sanders und wie sie alle heißen. Angefangen hatte alles mit einem Stück des Peter Brötzmann Oktett im Radio. Das hatte mein Interesse geweckt. Doch eines Tages fiel mir eine Cecil Taylor Platte in die Hände. Sie hieß „Conquistador“ Und war bei Gott das Atemberaubendste, was ich je gehört hatte. An diesem Tag wusste ich: So gut wirst du nie. Und wandte mich anderen, erfreulicheren Dingen als dem Musikmachen zu: dem Musikhören z.B.

Cecil Taylor war immer am weitesten vor. Miles Davis war cool. Lee Konitz war noch cooler. Und Lennie Tristano war so cool mit seinen europäoiden Kammermusiken, an der Gitarre Billy Bauer, das die Zeitgenossen, die gerade Existenzialismus am Fressen waren, schudderten wie Espenlaub. Aber als 1955/57 die ersten Aufnahmen von Cecil Taylors kalter und dazu noch freier, atonaler Pianomusik auf den Mark kamen, konnte auch Tristano nicht mehr mit. Taylor war von da an führend. Immer circa zwei bis fünf Jahre weiter, was die jeweiligen Befreiungsstadien betrifft. Der Atonalität von Ornette Colemans „Free Jazz“, der Platte, die einer Epoche den Namen gab, hatte er schon zwei Jahre früher erreicht. Und als er in den mittleren 60ern seine beiden Meisterwerke „Unit Structures“ und „Conquistador“ aufnahm, komplizierte strukturierte, verschachtelte, durchdachte Ensemble-Kompositionen, überhaupt nicht mehr cool, sondern irrwitzig, aufgeladen, durcheinander und frei, da war er eine knappe Dekade vor seinen Mitstreitern. Nur Sun Ra und Ornette Coleman bewohnten noch den gleichen Olymp, ohne jemals so weit gegangen zu sein wie der zurückhaltende, ins Piano gekehrte Glissando- und Cluster-Berserker Cecil Taylor.

Zwanzig Jahre später in der Kölner Oper. Was hatte ich um eine Begleiterin gekämpft! Die erste, die ich erreichte, nahm sofort Abstand, als mir bei meinem Bramabarsieren über diese äußerst schräge Welturaufführung in der Kölner Oper, für die ich Karten hätte, und ob nicht wir zwei und äußerst abstrus und seltsam und interessant, das Wort Free Jazz entschlüpfte. Die zweite wollte kein saures Bier. Und die dritte ging dann schließlich mit, weil sie um die Ecke wohnte und ansonsten für den Abend nichts Besseres vorgehabt hätte, als in der Badewanne zu drömeln.

Wir also dahin. Im Foyer traf sich alles was Rang und Bärte hat, und trotzdem war der Saal befremdlich leer. Immerhin ging es um die Uraufführung von „Music For Two Continents“, die einzige in Deutschland darüber hinaus. Hätte nicht sogar „Das Neue Werk“ vom NDR, wo jugoslawische E-Komponisten ihre neuesten Werke für Holzblasquartette aufführen, im Schnitt höhere Besucherzahlen? Habe ich nicht sogar bei einer so mörderisch langweiligen Angelegenheit wie einem Terry-Riley-Konzert einen „Spiegel“-Redakteur aus Fleisch und Blut getroffen? Bei Cecil Taylor war außer einem namhaften Ausstellungsmacher und einem Stadtzeitungsredakteur kein Mensch, der einem aufgefallen wäre. Nur die Free-Jazz-Elite mit ihren Bärten und Häubchen.

Und dann kamen sie auf die Bühne. Alle waren sie noch da. Der große Frank Wright, der es sich nicht nehmen ließ nach seinen Soli, wie ein siegreicher Boxer das Saxophon wie eine Kriegsbeute hochzureißen. Der Pole Tomasz Stanko. Der Italiener Enrico Rava. Die Frau. Am Fagott. Der Afro-Europäer in wallenden Gewändern und einem wollenen Häubchen: John Tchicai, der schon 1969 Yoko Onos 25minütigen Schrei („Cambridge 1969“ von der LP „Unfinished Music No 2“) mit auf- und abschwellenden Kreischtönen auf seinem Saxophon begleitete. Jimmy Lyons, der gedrungene Saxophonist, der seit Unzeiten mit Cecil Taylor zusammenarbeitet, sein Kongenius.

Und alle in diesen Free-Jazz-Klamotten, wie aus einer Künstlerkarikatur der fünfziger Jahre: Mützen, Hüte, Schals, absurde Cowboy-Stiefel, Jockey-Käppis. Nichts hatte sich verändert in den 20 Jahren.

Und doch. Und doch war jeder Ton dieser zwei eineinhalbstündigen Kompositionen Lichtjahre weiter als irgendwelche auf den Geschmack der Atonalität gekommene Waver, von Test Department bis 23 Skidoo. Der Free Jazz in dieser hochentwickelten Form kann sich nach wie vor damit brüsten, weiter zu sein als die Pop-Musik.

Nun wissen wir alle, dass es in der Pop-Musik nicht um Musik geht, sondern um die Bezüge dieser Musik, und dass die altmodische Kunst der reinen Musik im Jazz respektive Free Jazz ihr verdientes angestaubtes Altersheim gefunden hat.

Doch dem begegnen die Apologeten des Jazz mit der weitverbreiteten Rhetorik der Intensität. Schon als Free Jazz noch hip war und Rockmusiker wie Eric Clapton sich glücklich fühlten, wenn man sie mit Pharaoh Sanders verglich, in einer Zeit als also auch noch in der Rock-Musik Stücke verlängert, Grenzen eingerissen und Dämme gebrochen wurden, schon damals wurde das Produkt „Intensität“ entwickelt, um die es im Jazz gehe und die dem Pop-Song fehle, diesem distanzierten, schändlichen risikolosen Ding, das man einem Milchmädchen anbieten könnte, aber keinem Intellektuellen. Ich erinnere mich dabei, wie ein Schreiber der „Filmkritik“ in einer Blatt-internen Diskussion eine Eloge auf den Film „Help“ erwiderte, indem er darauf hinwies, Ringo Starr spiele viel schlechter Schlagzeug als der Drummer von Ornette Coleman, q.e.d.

Intensität war das ominöse, eschatologische, unaussprechliche letzte Ding, der Finger, der in dieser japanischen Tuschzeichnung auf den Mond deutet, das Numinose. Wie zu früheren Zeiten „Swing“ oder in der Rock-Rhetorik das „Abrocken“, „Fetzen“ etc.

Ein Blick auf dieses im Dienst an der Intensität ergraute Cecil Taylor-Ensemble belehrt uns eines besseren. Sicher steht der Schweiß zentimeterhoch auf den weißen Tasten des Pianos, die schwarzen umspielend. Sicher ist die eine oder andere Stirn eines Reeds-Bläsers leicht angefeuchtet. Aber im Großen und Ganzen sind diese Leute da unten von allem, was wie Ekstase aussieht, weit entfernt. Sie sind Musiker. Hochqualifizierte, solche, die ihren Job tun, einen, der viel verlangt an Aufmerksamkeit, Disziplin und Überlebenswillen im Alltag.

Die vorgebliche Intensität, dieses innere Gehirnschwitzen, dieses letzte Ding beschreibt einfach die Gelungenheit einer Darbietung in den Regeln einer bestimmten Form. Einer Form, die sich jetzt nach zwanzig Jahren deutlich als Genre abzeichnet, das mit Befreiung und “Weiter, weiter“ nicht mehr zu tun hat als Papa Bue’s Viking Jazz Band.

Denn wenn es wirklich um diese immer weiterführenden Schritte in das Land der Intensitätserzeugung vermittels irgendwie strukturierter atonaler Kollektiv-Improvisation (in festgelegten Teilen) ginge, warum dann das traditionalistische Festhalten an den immer gleichen Stilmitteln: der Klang der überblasenen Saxophone, die Piano-Cluster, die Stillehalten-aus-dramaturgischen-Gründen-Riten, das tiefe Röcheln einer geplagten Bassklarinette, die Töne einer von polnischen Lippen schier zum Bersten gebrachten Trompete? Das alles ist Genre und hat eine Sprache, die aus festen wiederkehrenden Elementen besteht. Wie Pop. Nicht intensiv, sondern referentiell.

Auf der anderen Seite sind diese Musiker ja nun ein paar Seelchen, die ihren Trost brauchen. Die Zahl der religiös ausgeflippten Free Jazzer ist Legion und noch deutlich höher als bei Soulern. Ob Don Cherry das buddhistische „Mu“ auf den Lippen führt. John McLaughlin Sri Chimnoy huldigt, Chick Corea bei Scientology sein sauer Verdientes lässt, ob Albert Ayler „Music“ für „the healing force of the universe“ hält oder Sun Ra glaubt, er stamme vom Saturn, diesen Sparren haben sie alle. Cecil Taylor übrigens kaum.

Und wenn man mal in so ein Leben hineinschaut, kann man das auch verstehen. Ich hab’s in diesem Punkt mit Gunter Hampel. Unter den Armen und Erniedrigten des East Village, die auf kleinen Teppichen ihre letzte Habe verscheuern („Hunger Sale, each item 2 $“), sah ich auch ihn, Exemplare von LPs seiner Galaxie Dream Band verscheuern. Als ich ein paar Stunden später aus dem Kino in der Lafayette Street zurückkam, hatte er immer noch nichts verkauft.

Wenn er dann ein Jahr später in der Kölner Oper seiner Klarinette das letzte entlockt, neben dem „vor Intensität berstenden“ (Jazzkritiksprache, Marke Joachim-Ernst Berendt, den nun auch endlich der Bhagwan erwischt hat) Jimmy Lyons, dann befindet er sich in heiliger Kommunion mit seinem Gott, für den er dieses Leben auf sich genommen hat. Egal ob der Intensität oder Vishnu heißt. Eine Sprache also, eine erlernbare hohe Kunst. Und was sagt sie?

Zunächst mal können wir uns freuen, dass sie in Wirklichkeit, egal was auch immer die Musiker über sich denken, nicht dem Avantgarde-Götzen der permanenten Befreiung huldigt. Was sie sagt, ist mehr als man scheinbar sprachloser Musik zutraut. Sie sagt, dass sie ist, weil sie unter Feuer ist. Nicht unter wirklichem Feuer („Intensität“), sondern unter codifiziertem Feuer, sie benutzt Zeichen für Feuer. Sie sagt, sie ist ständig angebracht, sich hysterisch zu benehmen. Es ist ständig angebracht im Superlativ zu reden. Ja, sie ist, weil sie Superlativ ist.

Und das ist eine Qualität, die die Pop-Musik, ja Kinder, das müssen wir wohl zugeben, am Verlieren ist: Die Fähigkeit zur Hysterie, zum Superlativ. Das ist eine Kunst, die man vielleicht noch bei Thomas Bernhard findet, aber wo sonst? Und ganz unreligiös will sie damit, aus ihrem objektiven Wollen heraus, nicht aus dem subjektiven ihrer Vertreter, nichts anderes als eine weitere Ausdrucksform am Leben lassen, die nicht „denen ihr Spiel spielt“, wie Ken Kesey sagen würde. Keine avantgardistische Kunst ist Free Jazz heute, sondern, wenn man von all dem ethnischen Firlefanz und religiösen Muff, von dem sie auch an diesem Abend begleitet war, absieht, eine revolutionäre.

Nachdruck aus SPEX No. 11/1984