Eberhard Janke (1982)

Free Music Production: Records-Informations

Die Abbildung auf dem Rückendeckel dieser neuen Jazzpublikation zeigt einen Laden, über dem eine reichlich ramponierte Neonschrift „Fisch-Wild-Geflügel“ anpreist. Renommiersucht oder übermäßiger Geschäftssinn scheinen sich hinter dieser Fassade nicht zu verbergen. Die Schaufensterauslagen stellen zwar „Lebensmittel“ dar, aber leider nur für eine kleine Minderheit: Schallplatten, ein Saxophon, Konzertplakate…..Beim genaueren Hinschauen entdeckt man dann über der Eingangstür die Initialen der Free Music Production, die hier inzwischen ihr Büro einquartiert hat. Dass dieses Büro „bis auf weiteres“ nur sporadisch besetzt ist, deutet etwas von den Schwierigkeiten an, denen eine nur gelegentlich subventionierte Musiker-Kooperative hierzulande gegenübersteht. Seit nun fast anderthalb Jahrzehnten prägt und trägt die FMP mit ihren Aktivitäten die Free-Jazz-Szene in einem fortwährenden Kampf um ein so bescheidenes Ziel wie Kostendeckung. Immerhin hatten die Berliner Kulturbehörden wenigstens im vorliegenden Fall ein Einsehen und ermöglichten der FMP mit einem finanziellen Zuschuss, eine beeindruckende Dokumentation ihrer Arbeit vorzulegen.

Achim Forst weist in seinem einleitenden Beitrag auf die definitorischen Schwierigkeiten beim Erfassen des „Phänomens“ FMP hin. Ohne institutionelles Korsett will die Free Music Production freie improvisierte Musik in Konzertveranstaltungen und Schallplattenproduktionen präsentieren, doch ist sie weder eine Musikeragentur noch eine Plattenfirma im herkömmlichen Sinne. Gegen die Marktmechanismen der Phonoindustrie und gegen die einschränkenden Bedingungen des Frontalkonzertes mit festgelegtem Auftrittsschema hat die FMP dem Free Jazz in Deutschland nicht nur ein ihm angemessenes Forum, sondern überhaupt erst so etwas wie eine Existenz- und Wirkungsmöglichkeit geschaffen. Getragen wird diese Initiative von den Musikern selbst, von Jost Gebers als Betreuer der Konzert- und Plattenproduktionen einschließlich der Technik sowie von Dieter Hahne als kaufmännisch-organisatorischem Mitarbeiter. Ein Rückblick auf die Vorgeschichte zeigt, dass es in Deutschland schon seit Anfang der sechziger Jahre Aktivitäten im Bereich des Free Jazz gab.

Die Musiker um Irène Schweizer, Peter Brötzmann und Manfred Schoof konnten immerhin in die Medien vordringen,1965 nahm Gunter Hampel bei MPS die erste deutsche Platte mit freier Musik auf, und ein Jahr später war bei den Berliner Jazztagen das Globe Unity Orchestra vertreten. Doch das geistige Klima der Studentenbewegung schuf auch bei den Musikern eine wachsende Empfindlichkeit gegenüber institutionellen und ökonomischen Zwängen. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung in dieser Aufbruchszeit führte dann 1969 zur Konstituierung der FMP als Beginn des „Marsches gegen die Institutionen“. Geographisch lässt sich für die FMP-Aktivitäten zwar eine Schwerpunktachse Berlin-Wuppertal mit Verästelungen ins nordrhein-westfälische Umland feststellen, doch waren die Unternehmungen stets international angelegt – sowohl hinsichtlich der beteiligten Musiker als auch der Wirkung. In der vorliegenden Dokumentation kommt dies durch den zweisprachig (deutsch-englisch) dargebotenen Text ebenso zum Ausdruck wie durch die internationale Vielfalt der reproduzierten Pressestimmen. Neben einer Fülle von Berichten und Rezensionen aus deutschen Quellen finden sich Belege aus England, Frankreich, Holland, USA, Japan usw. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob weniger nicht mehr gewesen wäre, denn fast immer, wenn man sich in einem der Texte festgelesen hat, bricht dieser wegen der collagenhaften Anordnung der Zeitungsausschnitte unvermittelt ab. Dass der erste und verhältnismäßig ausführlich wiedergegebene Textauszug einem Beitrag Wilhelm Lieflands gewidmet ist, erinnert an den unersetzlichen Verlust, den auch die Jazzkritik durch den tragischen Tod des Frankfurter Schriftstellers und Journalisten erlitten hat. Liefland, der der FMP stets freundschaftlich verbunden war, sah in der Musiker-Kooperative einen hoffnungsvollen Ansatz seiner sozialen Utopie: „Schafft zwei, drei, viele Freiheiten…“. Dieser Aufforderung sind die Musiker nachgekommen, wie der Bericht über die verschiedenen Konzertaktivitäten zeigt. Neben den in Berlin nun schon in langer Tradition bestehenden Reihen „Workshop Freie Musik“, „Total Music Meeting“ und den jetzt leider eingestellten „free concerts“ im Charlottenburger Rathaus sind dies die an verschiedenen Orten stattfindenden „Jazz Now“-Veranstaltungen, der jährliche „Free Jazz Workshop“ in Wuppertal, das Aachener „Festival für improvisierte Musik“, die Wittener Oster-Jazzfestivals usw.

Den Hauptgegenstand der Dokumentation bildet die Schallplattenproduktion der FMP. Der dabei verfolgten Aufzeichnungsästhetik liegt ein „akustisches“ Prinzip zugrunde, das die technischen Aufnahmemittel auf ihre rein registrierende Funktion beschränkt, d.h. auf klangmanipulierende oder „schönfärberische“ Effekte wird konsequent verzichtet. Dem spontanen Aspekt der hier festgehaltenen Musik entspricht der hohe Anteil von Live-Aufnahmen (80 Prozent). Die „opera omnia“ werden in zweiten Teil der Publikation in Form von Abbildungen sämtlicher Plattenhüllen mit Angabe der diskographischen Daten vorgeführt. Beginnend mit dem für die FMp programmatischen Titel „European Echoes“ (FMP 0010), 1969 spannt sich der Bogen über die Präsentation von DDR-Musikern (ab 1973) bis zu den für 1982 geplanten Veröffentlichungen z.B. mit den Duos Theurer/Lovens oder Guy/Kowald. Gespannt darf man auch dem Album „Dedication“(FMP 0900) mit Hans-Günther Wauer an der Kirchenorgel und dem Perkussionisten Günter Sommer entgegensehen. Dass sich Peter Brötzmanns Rolle als Integrationsfigur des deutschen Free Jazz wie ein roter Faden durch das umfangreiche Programm zieht, braucht hier wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden. Auch das stilistisch auf breiterer Basis angelegte Nachbar-Label SAJ, hinter dem sich die Initialen des schwedischen Schlagzeuges Sven-Åke-Johansson verbergen, ist hier vertreten. Johanssons „Schlingerland“ (1972) eröffnet die Reihe, die dann über Aufnahmen mit John Tchicai (1977) und die Giessener Free-Jazz-Formation Grumpff (1978) bis zu den für dieses Jahr vorgesehenen Alben mit Keith und Julie Tippett führt. Den Abschluss bilden vier Single-Produktionen der FMP, darunter das von Brötzmann/Van Hove/ Bennink kraftvoll-eigenwillig interpretierte Einheitsfrontlied (Eisler), und die beiden – in limitierter Auflage herausgebrachten – „Special Editions“. Die Kassette „For Example“ bietet auf drei Langspielplatten und in einem umfangreichen Begleitband einen Rückblick auf die ersten zehn Jahre „Workshop Freie Musik“, während das Doppelalbum „Snapshot“ mit beigebundenem Text/Bild-Band der freien improvisierten Musik in der DDR gewidmet ist. Insgesamt werden hier mehr als 140 Schallplatten vorgestellt – eine eindrucksvolle phonographische Bilanz der Free-Jazz-Entwicklung in Europa. Zusätzlichen Informationswert erhält die Dokumentation durch zahlreiche Photos von Dagmar Gebers, die schon seit Jahren die FMP-Arbeit lichtbildnerisch begleitet. Die Präsentation des vielfältigen Text- und Bildmaterials (Design/Layout: Jost Gebers, Peter Brötzmann und Manfred Kussatz) ist übersichtlich und klar gegliedert. Erst der geringe Preis dieser Publikation, der nur als Unkostenbeitrag verstanden werden kann, erinnert daran, dass hier gleichzeitig ein FMP-Gesamtkatalog vorgelegt wird – sicher für manchen Jazzfreund Anlass und Anreiz, seine Schallplattensammlung zu ergänzen und zu vervollständigen. Aber allein schon wegen des informatorischen und dokumentarischen Wertes sollte diese Publikation in keiner Jazz-Bibliothek fehlen, zumal die Zahl deutschsprachiger Veröffentlichung zum Free Jazz nicht gerade überwältigend ist.

aus: Jazz Podium # 7, Juli 1982