1998 WFM / Akademie der Künste

 

Patrik Landolt (1998)

30. Workshop Freie Musik

 

Manche Musikerlebnisse haben prägenden Charakter und bleiben unvergesslich. Nein, ich meine nicht die schon Legende gewordenen Ereignisse Ende der 60er Jahre, als alles neu und revolutionär war, das Total Music Meeting als Opposition zum Berliner Jazzfest erstmals über die Bühne ging, oder der Workshop Freie Musik noch "Three nights of living music and minimal art" hieß. Als Dreikäsehoch sang ich damals noch im Schülerchor. Heute sind mehrere Generationen von MusikerInnen und ZuhörerInnen dazugestoßen, die die Anfänge der europäischen freien Musik nicht miterlebten und nur vom Hörensagen kennen.

Unvergesslich bleibt für mich ein ganz unspektakulärer Jahrgang anfangs der achtziger Jahre. Eingeladen war zum Workshop Freie Musik eine Schar MusikerInnen, feste Gruppen wurden nicht angekündigt, die Konzeption war offen und entwickelte sich über mehrere Tage. Die MusikerInnen spielten mehrmals und konnten so in verschiedenen Formationen und Situationen erlebt werden. In Erinnerung sind helle, aufregende Momente. Der Bassist William Parker und der Trompeter Toshinori Kondo bekannten ihre Freundschaft in einem wundersamen Bluesspiel. Nach einer bis ins letzte Detail einstudierten Soloperformance warf sich die griechisch-amerikanische Sängerin Diamanda Galas in die Improvisation und sang sich durch den rauen Klangschotter des Saxophonisten Peter Brötzmann. Musikalische Höheflüge. Selbst die anwesenden Punks im Publikum wackelten mit den Ohren. Im Spiel der von den Grenzen befreiten Klänge verflüchtigten sich die verschiedenen Kulturen und die unterschiedlichen Biografien der MusikerInnen. Jetzt realisierte ich: Das ist befreite Musik. Was denn ist freie Musik anders als eine Möglichkeit, sich über Traditionen, Kulturen und Stile hinweg im Gefilde der von den Grenzen los gespielten Klänge zu begegnen? Kommunikation auf höchstem Niveau.

Ende der neunziger Jahre kann der freie Jazz - und deren wichtigste Institution in Europa, die Free Music Production (FMP) - auf Erfahrungen einer dreißigjährigen Geschichte zurückblicken. Was als Revolte gegen Abhängigkeiten und Konventionen begann, ist eine eigenständige Kunstform mit unzähligen Varianten, Dialekten und Idiomen geworden. Alexander von Schlippenbach, seit Beginn im nächsten Umfeld der FMP, beschreibt das "Arbeiten in Gruppen und mit Musikern über Jahre hinweg" als einen Prozess der Verfeinerung und Ausdifferenzierung. Und Peter Brötzmann fasst die Entwicklung so zusammen: "Zur Leidenschaft ist nun ein bisschen mehr Sensibilität, ein bisschen mehr Kopf und ein bisschen mehr Form gekommen". Brötzmann erläutert diesen Prozess am Beispiel des Saxophon-Satzes der in der sechziger Jahren aufgenommenen Platte "Machine Gun": "Wenn du die drei Saxophonisten, die auf dieser Platte spielen - Evan Parker, Willem Breuker oder Peter Brötzmann - anhörst, dann realisierst du, dass wir drei vollständig verschiedene Richtungen entwickelt haben. Es sind heute drei eigenständige, radikale, konsequent ausgeprägte Stile oder Spielweisen."

Der dreißigjährige Prozess hat die freie Musik offener und vielfältiger werden lassen. Das Spektrum ist beinahe grenzenlos. Freie Musik kann heute, schreibt der in München lebende britische Musikkritiker Steve Lake, "so viel wie nötig von parallelen Genres an Bord nehmen, kann an den Stämmen der Performance Art zupfen, oder kann sich, zu dialektischen Zwecken der Komposition bedienen. Sie kann ihre eigene Geschichte untersuchen" und "die Musik kann heute über sich selbst lachen". Eine kaum mehr überschaubare Vielfalt individueller und gruppenspezifischer Spielweisen prägt den Jazz Europas. "Freiheit bedeutet, alle musikalischen Bereiche zu nutzen", sagt der Gitarrist Derek Bailey, einer der Väter der europäischen Free Music. Wichtiger als Stile sind in dieser Situation die hörbaren Persönlichkeiten, die Spielhaltungen geworden. Es sind MusikerInnen, die musikalisch etwas zu sagen haben, das heißt, wie Bert Noglik treffend schreibt, "die Übereinstimmung von Musikerpersönlichkeit, Erfahrung, Lebensprozess und musikalischer Expressivität". Oder wie Maggie Nicols und Irène Schweizer in einem Interview sagten: "Wir improvisieren unser Leben".

Der Workshop Freie Musik hat die Entwicklung der europäischen Musik während dreißig Jahren nicht nur dokumentiert, sondern mitinitiiert und mitgestaltet. Der Workshop ist nicht wie andere Festivals ein Schaufenster, wo Gruppen, (oft auf Guckkastenbühnen) einfach präsentiert werden, sondern er bietet in seiner offenen Form, wo die Musiker und Gruppen mehrmals zum Spielen kommen und öfters auch im Publikum sitzen und ihren KollegInnen zuhören, Raum für Entfaltung und Entwicklung: Musik nicht als Produkt, sondern als Prozess. Am Workshop wirkt Stargehabe nicht, Nichtskönner und Wichtigtuer kommen flach raus.

Was mich über all die Jahre beeindruckte, ist der Mut der FMP zur Kontinuität. Hartnäckigkeit, in einem gewissen Sinne sogar Sturheit, ist eine der großen Qualitäten der FMP. Denn als Mitglied des Veranstalterteams in der Zürcher Roten Fabrik kenne ich den Druck des Publikums und insbesondere der Medien zum Spektakulären, Exotischen, bekannt-Unbekannten. Die ständige Suche nach dem Neuesten führt in den Medien und im Kulturbetrieb zu einer "Formel-1-Ästhetik", wo jeder einzig die Nase vorne haben will und nicht mehr wahrnehmen kann, was um ihn geschieht und an was seine KollegInnen arbeiten. Und wer den Sprung an die Spitze geschafft hat, fährt einsam ins Ziel.

Da habe ich bei meinen Besuchen des Workshop Freie Musik eine andere Kultur kennen gelernt. In einer heute unzeitgemäßen Verlässlichkeit lädt der Workshop Freie Musik auch immer wieder Persönlichkeiten ein, deren Namen schon auf dem Programm früherer Jahre standen. Dies zeugt vom Respekt vor der kontinuierlichen, stillen und in der Regel unspektakulären Arbeit der MusikerInnen. In der regelmäßigen Präsentation können die feinen Entwicklungen mitvollziehbar gemacht werden. Und nicht genug hervor streichen kann ich die Tatsache, dass es ganz einfach ein Genuss ist und Spaß macht, die Größen der europäischen Improvisationsmusik immer wieder zu hören; am diesjährigen Workshop Freie Musik als Solist Fred Van Hove und Konrad Bauer, Alexander von Schlippenbach im legendären Trio mit Evan Parker und Paul Lovens, Ulrich Gumpert mit Tony Oxley und Dietmar Diesner. Spannende Abenteuer versprechen auch die Konzerte mit MusikerInnen der zweiten und dritten Generation freier Improvisation, wobei einige schon mehrmals bei der FMP gespielt haben; die Schweizer Sängerin Dorothea Schürch mit dem britischen Saxophonisten John Butcher und dem deutschen Gitarristen Erhart Hirt, die Saxophonisten Hans Koch, Wolfgang Fuchs und Peter van Bergen, der französische Gitarrist Jean-Marc Montera sowie der Drehleierspieler Dominique Regef. Dass die europäische Improvisationsmusik in den achtziger Jahren stark auf die amerikanische Szene ausstrahlte, und eine jüngere Generation von MusikerInnen der New Yorker Down-Town-Szene um John Zorn prägte, haben viele Musiker bezeugt. Der Grenzgänger Eugene Chadbourne mit seinem "free improvised heavy metal country & western bebop" hat in Paul Lovens den europäischen Duo-Gefährten gefunden.

Zur Begegnung mit der afrikanisch-amerikanischen Jazzmusik, der großen Musiktradition des 20. Jahrhunderts, mit deren Auseinandersetzung sich die hiesige Improvisationsmusik über all die Jahre entwickelte, kommt es mit dem Quintett des Bassisten William Parker, der Saxophonisten Rob Brown und Assif Tsahar, des Pianisten Cooper Moore und der Schlagzeugerin Susie Ibarra mit einem die ökonomische und soziale Situation des freien Jazz in den USA bezeichnenden Namen "In Order To Survive".

Der 30. Workshop Freie Musik: fünf Tage Musik von und mit einer bunten Schar Musikerinnen und Musiker verschiedener Kulturen. Fünf Tage Begegnungen mit einer der aufregendsten Musiken des 20. Jahrhunderts. Ein Versprechen auf Kommunikation auf höchstem Niveau. Eben, freie Musik.

aus: Programmblatt WFM 1998

zurück