1993 WFM / Akademie der Künste

Bert Noglik (1993)

Es ging von Anfang an um neue Präsentationsformen, um offene Räume für improvisierte Musik, um Platz zur Entfaltung und Raum zur Entwicklung. 1969 zum ersten Mal organisiert, bildet der Workshop Freie Musik neben dem Total Music Meeting das wichtigste Live-Podium der Free Music Production. Unterstützt von der Akademie der Künste, entstand eine Veranstaltungsreihe, die sich vom Warenhauscharakter landläufiger Festivals ebenso unterscheidet wie von singulären Konzertereignissen. Bei Auswahl der Programmpunkte und Konzeption der Abfolge wird, in enger Tuchfühlung mit den Musikern, Freiraum für musikalische Entwicklungen und Begegnungen eingesetzt, ohne Resultate vorzuplanen. Auf diese Weise gelang es, anstelle von Fertigem musikalische Prozesse in ihrer Begegnung erlebbar zu machen und weit über die einzelne Veranstaltung hinausreichende Prozesse in Gang zu setzen. Die Geschichte der improvisierten Musik in Europa verknüpft sich auf vielfältige Weise mit dem Workshop Freie Musik, der nicht nur die Vorzüge eines Schaufensters, sondern auch die einer Werkstatt aufweist und in der Verbindung von Programmstruktur und Freiheit dem Charakter der präsentierten Musik aufs engste verbunden ist. In den vorangegangenen Folgen gelang es, eine Vielzahl der weltweit wichtigen Improvisationsmusiker vorzustellen, zum Teil mit eigens für den Workshop entwickelten Projekten. Die internationale Ausstrahlung zeigt sich auch darin, dass andere engagierte Veranstalter dem Weg des Workshops Freie Musik gefolgt sind.

Cecil Taylor darf man getrost eine Jahrhundertpersönlichkeit nennen. Wie nur wenigen gelang es ihm, einen neuen Stil, eine neue Weise des Klavierspiels zu entwickeln und die Musik um zuvor ungekannte Dimensionen zu bereichern. Trotz unverwechselbarer Individualität hat sich Cecil Taylor eine Vielzahl von Einflüssen zu eigen gemacht: afrikanisch-amerikanische, indianische, europäische…Bereits Mitte der fünfziger Jahre gründete er eine bemerkenswerte Gruppe mit Steve Lacy, Buell Neidlinger und Dennis Charles. Es folgten Besetzungen mit Bassisten wie Henry Grimes und Alan Silva, mit Schlagzeugern wie Sunny Murray und Andrew Cyrille, mit Saxophonisten wie Archie Shepp, Albert Ayler, Sam Rivers und Jimmy Lyons, mit dem Cecil Taylor eine besonders enge Zusammenarbeit verband. Die Free Music Production stellte Cecil Taylor mehrfach in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten und brachte ihn auch mit europäischen Improvisatoren zusammen. Die groß angelegte Arbeitsphase und Konzertfolge mit Cecil Taylor im Juni und Juli 1988 gilt inzwischen international als ein beispielhaftes Projekt und wurde umfänglich dokumentiert. Aus den Spielerfahrungen in Berlin sind längerfristige Kooperationsbeziehungen wie beispielsweise "The Feel Trio" mit Cecil Taylor, William Parker und Tony Oxley erwachsen. Auf Initiative der FMP wurde Cecil Taylor in Berlin auch mit "Music & Poetry" sowie in der Akademie der Künste in der Zusammenarbeit mit einem Tanz-Ensemble vorgestellt.

Peter Kowald gelang es, über einen langen Zeitraum hinweg weit gespannte Arbeitszusammenhänge zwischen improvisierenden Musikern mit unterschiedlichem Background herzustellen. Der Wuppertaler Bassist, der schon Anfang der sechziger Jahre mit Peter Brötzmann zusammen spielte, zählte von Anfang an zu den aktiven Kräften der Free Music Production. Gemeinsames Spiel verbindet ihn mit nahezu allen herausragenden Improvisatoren/Improvisatorinnen der europäischen Szene sowie mit Musikern aus Japan und Amerika. Bereits Ende der siebziger Jahre entstand ein Trio mit Leo Smith und Günter "Baby" Sommer , später folgten Gruppen mit Charles Gayle, "Global Village" mit dem Altsaxophonisten Danny Davis und dem Geiger Takehisa Kosugi, gemeinsame Spielabenteuer mit Butch Morris und Sainkho Namtchylak. In Japan, den USA und Tuwa spürte Peter Kowald den kulturellen Kraftquellen der Improvisation nach. Seine Affinität zur bildenden Kunst ließ ihn mit Malern, sein Interesse für grenzüberschreitende Begegnungen mit Tänzerinnen wie Anne Martin und Cheryl Banks, auch mit Butoh-Tänzern wie Kazo Ohno und Min Tanaka zusammenarbeiten. Peter Kowalds fortgesetzte Bemühungen, im Prozess gemeinsamen Spiels Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Spielhaltungen und Musiktraditionen deutlich zu machen, schlugen sich zuletzt in drei LPs mit dem Titel "Duos" nieder, auf denen der Bassist in dreißig Stücken mit dreißig verschiedenen Musikerinnen und Musikern zu hören ist. Zum Workshop Freie Musik wird Peter Kowald wechselnde Gruppierungen mit der bulgarischen Sängerin Yildiz Ibrahimova, mit dem Shakuhachi-Spieler Seizan Matsuda und der Koto-Spielerin Kazue Sawai, die beide in der traditionellen japanischen Musik verwurzelt sind, mit der Harfenistin Zeena Parkins, der Geigerin India Cooke und dem Perkussionisten Lê Quan Ninh zusammenstellen.

Hans Reichel entwickelte in einem langzeitig angelegten Arbeitsprozess eine völlig eigene Klangsprache und im Zusammenhang mit dieser zugleich ein spezielles Instrumentarium, zu dem neben selbst- und umgebauten Gitarren auch das von ihm erfundene Daxophon zählt. Mit Sounds von einer zuvor ungehörten Qualität erregte der bereits früh zum Kreis der FMP gestoßene Wuppertaler Musiker bald auch in Ostasien und in den USA Aufmerksamkeit. Andere Erneuerer des Gitarrenspiels wie Fred Frith und Derek Bailey suchten Kontakt mit Hans Reichel, der sich in besonderem Maße als Solist profilierte, seine Spielweise jedoch stets auch in wechselnde Kontexte mit anderen Improvisatoren gestellt hat. Zu den viel beachteten Produktionen aus jüngerer Zeit zählen die schon heute als Kultalbum gehandelte Daxophon-CD "Shanghaied on Tor Road", Produktionen mit X-Communication, Wädi Gysi, Tom Cora, Fred Frith und Kazuhisa Uchihashi. Mit Kazuhisa Uchihashi, einem jungen, im Schnittbereich zwischen Jazz, Rock und freier Improvisation aufgewachsenen Gitarristen wird Hans Reichel die in Japan begonnene Zusammenarbeit in Berlin fortsetzen. Zum 25. Workshop Freie Musik spielt Hans Reichel weiterhin mit der koreanischen, in New York lebenden Komungo-Spielerin Jin Hi Kim, in einem Daxophon-Quartett mit Jan Kazda, Harald Eller und Ingo Specht sowie in einer Besetzung mit Paul Lovens, Shelley Hirsch und Rüdiger Carl. Geschichtsbewusste Hörerinnen und Hörer seien an die Duo-Produktion "Buben" von1978 erinnert, auf der Hans Reichel als Violinist und Rüdiger Carl als Concertina-Spieler nach zu erleben sind. Neueren Datums ist ein Daxophon-Projekt, das Hans Reichel für das New Music America Festival/Montreal zusammenstellte und mit dem er große Resonanz auslöste. Bei der Daxophon-Gruppe "All Dax Band", die der Innovator in Berlin präsentieren wird, handelt es sich um eine Welturaufführung.

Alexander von Schlippenbach hat über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, improvisierte Musik mit europäischer Identität zu schaffen. Sein 1966 formiertes "Globe Unity Orchestra" zeigte neue Wege orchestralen Jazzmusizierens auf und entwickelte sich als ein "work in progress", zu dem führende Improvisatoren unterschiedlicher Herkunft und Spielhaltung beitrugen. Bei allen Freiräumen für die Beteiligten blieb stets die gestaltende Kraft Alexander von Schlippenbach zu spüren. Der Pianist und Bandleader war von Beginn an in die Projekte der FMP involviert, ist auf den ersten Produktionen dokumentiert und war 1968 beim ersten Total Music Meeting ebenso dabei wie ein Jähr später beim ersten Workshop Freie Musik. Neben den orchestralen Besetzungen, dem Globe Unity Orchestra und dem in jüngerer Zeit formierten "Berlin Contemporary Jazz Orchestra" sind Alexander von Schlippenbachs Solo-, Duo-, Trio- und Quartett-Konzerte bzw. -Aufnahmen ebenfalls herausragend. Das Trio mit Evan Parker und Paul Lovens sowie das Duo mit Sven-Äke Johansson offenbaren die Qualität langjähriger intensiver Arbeitsprozesse. Zum ersten Mal seit dem 1975 beim Workshop Freie Musik vorgestellten Projekt wird es in diesem Jahr wieder ein "Globe Unity Special" zu hören geben. Darüber hinaus sind für den Abend mit Alexander von Schlippenbach eine Reihe von spontanen Kombinationen vorgesehen, über deren Zusammensetzung und Abfolge die Musiker an Ort und Stelle entscheiden.

Günter Sommer profilierte sich zu einem herausragenden Schlagzeuger und Perkussionisten, lange bevor er in den Westen reisen konnte. Er war seit Ende der sechziger Jahre maßgeblich am jazz-musikalischen Aufbruch in Ostdeutschland beteiligt, spielte im Duo mit Ulrich Gumpert und in dessen Workshop Band, entwickelte international beachtete Soloprogramme ("Hörmusik") und fein gesponnene Dialoge mit dem Organisten Hans-Günther Wauer. Im Laufe der Jahre profilierte sich Günter Sommer im Zusammenspiel mit exzellenten Improvisatoren aus allen Himmelsrichtungen, wobei die FMP dazu beitrug, dass musikalische Verbindungslinien zwischen Dresden und Wuppertal und dann auch nach Chicago und anderswohin geknüpft werden konnten. Bereits Ende der siebziger Jahre entstand das Trio mit Peter Kowald und Leo Smith, dem eine Vielzahl internationaler Spielkonstellationen, oftmals mit französischen und italienischen Freunden, folgte. Zu den Ensembles, die bereits Anfang der siebziger Jahre von neu gewonnenen musikalischen Freiheiten in der DDR kündeten, zählt das Quartett "Synopsis", das später wesentlich auf Initiative Günter Sommers unter dem Namen "Zentralquartett" neu formiert wurde und zum Workshop Freie Musik in der Originalbesetzung mit Conrad Bauer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Ulrich Gumpert und Günter Sommer auftritt.
Überdies wird Günter Sommer im Duo mit der Tänzerin Inge Missmahl mit "Immer noch nicht mehr" nach Samuel Beckett, im Trio "Triade" mit zwei langjährigen Freunden aus Ost und West, Conrad Bauer und Peter Kowald, sowie im Duo mit der Schweizer Vokalistin Dorothea Schürch zu erleben sein.

aus: Programmblatt WFM 1993

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