1991 WFM / Akademie der Künste

Bert Noglik (1990)

Der diesjährige Workshop Freie Musik verzichtet auf ein übergreifendes Motto oder eine thematische Klammer, erweist sich aber dennoch als eine Veranstaltungsfolge mit innerem Beziehungsreichtum – sei es in der Entsprechung oder der Entgegensetzung von Spielhaltungen und Musizierweisen. Die allabendlichen Solo-Performances von jeweils zwei Musikern/Musikerinnen unterschiedlicher Mentalität, Generationen oder musikkultureller Herkunft stehen ebenso zueinander in Korrespondenz bzw. Kontrast wie jeweils zwei Sets improvisierender Quintett-, Trio- oder Duo-Formationen. Wechsel von Alleingang und Interaktion, Nebeneinander individueller musikalischer Handschrift und gemeinsam unternommener Spielversuche mit offenem Ausgang.

Am ersten Abend die Stimmen: Dorothea Schürch, außerhalb der Schweiz bisher nur in Insider-Kreisen bekannt, arbeitete mit Musikern wie dem Posaunisten Hans Anliker und dem Saxophonisten/Klarinettisten Markus Eichenberger zusammen. Als Mitglied des Ensembles ’90 wirkte sie zu den Tagen der improvisierten Musik in Leverkusen in einer internationalen Besetzung um den Bassisten Hans Schneider mit. Der englische Sänger Phil Minton bedarf längst nicht mehr der besonderen Vorstellung. Seine hochexpressiven Stimmeskapaden - gemeinsam etwa mit Musikern wie Peter Brötzmann oder Roger Turner - haben ebenso Aufsehen erregt wie seine unkonventionellen Liedinterpretationen, begleitet vom Pianisten Veryan Weston. Das Quintett mit dem Trompeter Raphé Malik, der in den siebziger Jahren eng mit Jimmy Lyons und Cecil Taylor zusammenarbeitete, kommt durch den Workshop Freie Musik erneut als Protagonist der Jazz-Moderne ins Bewusstsein.

Der Schweizer Gitarrist Wädi Gysi wurde u.a. als Mitglied von Werner Lüdis Blauem Hirsch, in der Zusammenarbeit mit Hans Reichels Sonic Renegades und durch Gruppen wie Nuage de Courage bekannt. Helmut „Joe“ Sachse ist bereits seit Anfang der siebziger Jahre auf der Jazzszene aktiv - mit Musikern wie Manfred Schulze und Manfred Hering, dann auch mit eigenen Gruppen und Werkstattbesetzungen, u.a. mit David Moss und George Lewis. Das Trio Petrowsky/Phillips/Kellers vereint einen der „Väter“ der freien Musik in der ehemaligen DDR, Ernst-Ludwig Petrowsky, Feind aller musikalischen Schmalspurphilosophien, mit Barre Phillips, dem in Frankreich lebenden Bassisten mit einer über Jahrzehnte gereiften Erfahrung als Improvisator, und Willi Kellers, einem vergleichweise jüngeren, doch seit langem durch eigene Projekte, als Solist wie auch im Kontext mit Musikern wie Peter Brötzmann und Keith Tippett bekannt gewordener Schlagzeuger.

Mit Friedrich Schenker betritt ein Komponist als Instrumentalist das Podium. Neben der Arbeit an seinem umfangreichen Œuvre und der Assoziation mit der Leipziger Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ hat Friedrich Schenker auch den Kontakt zu Improvisatoren gesucht. Zum Workshop Freie Musik wird er, der Voraussicht nach, ein Stück aufführen. Alan Tomlinson zählt zum festen Stamm der britischen Improvisatoren-Szene, ist u.a. Mitglied des London Jazz Composers Orchestra und wiederholt auch mit Solokonzerten hervorgetreten. Lol Coxhill, der auf eine bewegte Vergangenheit als Bebop-, Rhythm & Blues-, Straßen- und Theatermusiker zurückblicken kann, widerstrebt allen Kategorien, erweist sich im Trio mit Mike Cooper und Roger Turner gleichermaßen als Freistil-Saxophonist und Melodie-Shopper. „Ich bin“, sagt Coxhill, „ein Improvisator, wenn immer möglich, in meiner Arbeit und auch in meinem Lebensstil. Mein Lebensstil ist ziemlich unsicher, aber beweist nicht die Tatsache, dass ich überlebe, dass ich von etwas viel Stärkerem motiviert bin als von Unsicherheit?“

Die Leipziger Pianistin Simone Weißenfels hat nach einer klassischen Ausbildung, u.a. am Moskauer Gnessin-Institut, ziemlich im Alleingang Wege zur Improvisation gesucht und bei aufmerksamen Beobachtern der Szene zunehmend Beachtung gefunden. Borah Bergman zählt, wie er selbst sagt, zur Generation von Cecil Taylor, hat aber eine gänzlich eigene Art energetischen Klavierspiels ausgeprägt. Die Kritik hob die Qualitäten seiner linken Hand hervor; Bergmans musikalisch-philosophische Intention ist die Gleichberechtigung beider Hände. Das Zusammentreffen von Wolfgang Fuchs, bekannt u.a. als Solist, durch zahlreiche Gruppen und das von ihm mit ins Leben gerufene King Übü Örchestrü, mit Georg Katzer, Komponist von Orchester- und Kammermusik, radiophonen Stücken und musiktheatralischen Werkern, führt eine viel beachtete Kooperation im Schnittbereich von freier Improvisation und Neuer Musik fort. Im prozessualen Umgang mit Computer und Live Electronics, dialogisierend mit Wolfgang Fuchs, versetzt sich der Komponist Georg Katzer dabei selbst in den Modus des Improvisierenden.

Ilias Papadopoulos steht als Lyra-Spieler einerseits in der Tradition des Instrumentes und der überlieferten griechischen Musikkultur; er ist andererseits aber auch als Interpret und Komponist zeitgenössischer Musik, sowie u.a. mit Peter Kowald und Floros Floridis, auch als Improvisator hervorgetreten. Ernst Reijseger hat sich im Bereich der improvisierten Musik zu einem der gefragtesten Cellisten profiliert. Beim Total Music Meeting 1990 war er im Trio mit Georg Gräwe und Gerry Hemingway zu hören. Er ist u.a. Mitglied des Amsterdam String Trio und diverser ICP-Besetzungen um Misha Mengelberg. Mit dem Alexander von Schlippenbach Trio wird schließlich eine der am längsten existierenden und noch immer Musik in der Bewegung entwickelnde Improvisationsgruppe erneut mit ihrem „work in progress“ vorgestellt. Evan Parker, Alexander von Schlippenbach und Paul Lovens haben jeder auf eigene Weise, in unterschiedlichen Kontexten und nicht zuletzt in der Trio-Konstellation das Vokabular und die Dimension improvisierter Musik beständig erweitern. Es geht heute kaum mehr um das Einreißen von Wänden, sondern um das konsequente Ausschreiten des musikalischen Innenraums. Paul Lovens sagt über das Trio: „Wo es vorher mehr Suchen gab, ist es jetzt mehr Finden“.

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