1990 WFM / Akademie der Künste

Bert Noglik (1990)

Im musikalischen Dialog werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Improvisierenden auf feinnervige Weise erlebbar. Der Workshop Freie Musik, in diesem Jahr zum 22. Mal veranstaltet, wird sich auf Duos in europäisch-amerikanischen Konstellationen konzentrieren. Über Korrespondenzen im Umgang mit dem musikalischen Material hinaus geht es um Entsprechung und/oder Entgegensetzung von Musikermentalitäten. Die in Europa gewachsene improvisierte Musik bedarf keiner Abgrenzung, um ihre Besonderheit unter Beweis zu stellen. In der Begegnung von Musikern und Musikerinnen, die unterschiedlichen Traditionskreisen entstammen, kommt zum Ausdruck, in welchem Maße sich die musikalische Sprache der Improvisation differenziert und individualisiert hat. Was in den sechziger Jahren als europäische Eigenentwicklung begriffen und forciert wurde, hat seinerseits musikalische Bewegungen in anderen Teilen der Welt beeinflusst. Eine Vielzahl von Wechselwirkungen – seien sie nun bewusst oder unbewusst – deutet auf weitreichende Zusammenhänge und fordert Haltungen heraus: gleichermaßen neugieriges und respektvolles aufeinander zugehen. Der Workshop Freie Musik stellt eine Folge von Duos vor, die innerhalb der fünf Tage jeweils zweimal auftreten werden. Vorstellbares und Unvorstellbares, bereits erprobte Spielkonstellationen und völlig neue Kontexte, ein Spektrum ganz unterschiedlicher musikalischer Mitteilungen. Wenn Peter Kowald vor wenigen Jahren einmal sagte, er empfinde eine Nähe zu Musikern, die den Blues spielen, so ging es ihm nicht im entferntesten um die Übernahme entsprechender Ausdrucksformen, sondern um eine Bekenntnis zu einer Musik, die aus eigenem Erleben eine Geschichte zu erzählen weiß. In der Begegnung mit Julius Hemphill wird das wohl ebenso spürbar werden wie in Peter Brötzmanns Zusammenwirken mit Bill Laswell. Sowohl für Irène Schweizer wie auch für Marilyn Crispell geriet einst die Begegnung mit der Musik Cecil Taylors zu einem Schlüsselerlebnis, das ihnen den Weg zu individuellen Spielweisen wies. Dietmar Diesner, einer der profiliertesten Improvisatoren der DDR trifft in Gerry Hemingway, dessen Name mit Anthony Braxton assoziiert wird, der aber längst auch für sich allein steht (beispielsweise mit seinen Solo-Musiken), auf einen gleichermaßen sensiblen Duo-Partner. Han Bennink, einer der Altvorderen der europäischen improvisierten Musik, sucht den Dialog mit Michael Moore, mit dem er bereits in Gruppen mit Misha Mengelberg zusammengearbeitet hat. Joëlle Léandre, über die Neue Musik zur Improvisation gestoßen, wird in der Begegnung mit William Parker unwillkürlich auch mit der neuen Jazztradition konfrontiert werden. Hans Reichel und Fred Frith schließlich, beide passionierte Außenseiter und außerordentlich tief- bzw. hintersinnige Klangkünstler, setzten ein musikalisches Zwiegespräch fort, das die Kategorien sprengt und das Attribut „unvergleichlich“ durchaus verdient.

zurück