1999 TMM / "Podewil"

Bert Noglik (1999)

Das Komitee für Unterhaltungskunst präsentiert:
10 Jahre Maueröffnung

Aspekte und Stationen einer friedlichen Revolution

Das Volk der freien Improvisationen (und das ist ja letztlich nicht mehr oder weniger als ein Völkchen mit einer eigenen internationale ohne Komintern) dürfte John Cage, dem Guru des neumusikalischen Informels, gewiss zugestimmt haben, wenn dieser behauptete, die Musik komponiere sich selbst. Das gilt gleichermaßen für die Spontan-Komponisten, für deren klang-rhythmische Binnenstrukturen wie auch für ein Programm wie dieses, in dem sich unterschiedliche Erfahrungen zu einem Netzwerk verdichten. Dieses hat mit der Geschichte improvisierter Klangproduktion, aber auch mit den Erlebnissen in jüngster Vergangenheit eines Zeitabschnittes zu tun, den Historiker Neuzeit nennen. Zeitzeugen und Klangabenteurer, Passinhaber und Ausgegrenzte, Traumtänzer und Grenzgänger. All das kann man musikalisch und geschichtlich ausdeuten.

Erinnerungen an Orte: an die Montaqssessions im "Haus der jungen Talente" (dem heutigen Podewil), an die "Große Melodie" und an "Jazz in der Kammer" in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, an die Pilgerfahrten zu den Jazzwerkstätten in Peitz und weiter zum Jazz Jamboree nach Warschau, an die Leipziger Jazztage und an den Jazzkeller Treptow…Jeans-Blau und Parka-Oliv als die Nationalfarben einer der gängigen und gängelnden Unterhaltungskunst abtrünnig gewordenen Subkultur. Die Schreiklänge von Brötzmann oder Petrowsky als die Klang gewordene Katharsis beim Durchbrechen der zweiten Mauer, der der allgegenwärtigen Betonköpfe. Doch es ging immer auch um die Differenzierung des Klanges, um die Dimension des Ästhetischen im Koordinatensystem der versteinerten und bestenfalls zum Tanzen zu bringenden Verhältnisse. Es ging und geht auch um Ausdruck und Ausformungen von Befindlichkeiten im Medium des musikalischen Improvisierens, um Musizierhaltungen, um Klänge, die mehr meinen als die an sich schon wunderbaren Schreie der Möwen beim Flug über die Spree.

"Doppelmoppel" inkorporiert nicht nur die Verdoppelung der Gitarren- und der Posaunenstimme, bedeutete Potenzierung durch das Aufeinanderprallen von Erfahrungen unverwechselbarer Individualitäten, unterschiedlicher Generationen. Die Power des Free Jazz und die Energien des Rock fanden und finden sich in einem Spiel zusammen, dessen Logik nicht mit Begriffen wie Fusion erfasst werden kann. Die Personen, nicht die Stilelemente ergeben spontan das Kompositum. Filigranklang und Brachialgewalt, Jazz Me Blues und Rock Me Baby, das Rauschen der märkischen Wälder und die Rückkoppelungen der Lautsprecherboxen in den Jugendklubhäusern. "Doppelmoppel", dieser Kultband in der freien Musikszene, war ein vergleichbar kurzes Glück beschieden. Nachdem Uwe Kropinski im Westen geblieben war, hatte das Quartett keine Chancen auf weitere Auftrittsmöglichkeiten innerhalb der Grenzen der DDR. Doch die Scheiben drehten sich weiter auf den Plattentellern. "Round About Midnight", erinnert von einem Topos aus, der Helmut "Joe" Sachses Heimat im Sächsischen markiert: "Round About Mittweida". "Doppelmoppel" erweist sich, ähnlich wie "Synopsis" alias "Zentralquartett", als ein Glücksfall und als ein Garant für die einander geschworene Spielgesinnung. Nur so ist zu erklären, dass die Band nach all den Jahren noch immer einen -und keinesfalls den kleinsten - gemeinsamen Nenner findet, ohne sich selbst zu zitieren. Auch wenn die vier nur sporadisch zusammenkommen, brauchen sie keine verbale Verständigung mehr, um zu gemeinsamen Höhenflügen abzuheben.

In improvisierter Musik lässt sich Erfahrung weiter tragen, aber nicht konservieren. Folgerichtig sind im vereinten Berlin recht bald musikalische Netzwerke entstanden, in denen Erlebnisströme aus Ost und West zusammenfließen. Nachwachsende suchen nach Orientierungen in gänzlich neuen Koordinatensystemen. Und doch gibt es .Einzelne wie Gert Anklam, die sich auf die jüngste Geschichte dieser Musik beziehen, diese nicht wiederholen, sondern in die Zukunft projizieren. Gut vorstellbar, dass Gert Anklam, der das Instrument von Manfred Schulze spielt, nicht beständig mit dem genialen Vor-Läufer assoziiert werden will. Manfred Schulze erscheint, je nach Blickwinkel des Betrachters, als ein Außenseiter und als eine Zentralfigur der Musikszene in der DDR. Gerd Anklam knüpft, durchaus auch stolz darauf, an jenen Klängen, Klangstrukturen und Konzeptionen an, die Manfred Schulze in die Welt gesetzt hat. Wer sich dabei nicht in der Kopie verlieren, sondern zu sich selbst finden will, muss sehr stark sein. Gert Anklam trat Ende der achtziger, Anfang der neunziger Szene auf den Plan, etwa zu jener Zeit, als Manfred Schulze wegen schwerer Krankheit gezwungen war, seine Instrumente beiseite zu legen. Merkwürdig auch, dass sich Anklam, der als Mitglied des Bläser Quintetts die Musik von Manfred Schulze lebendig hält, bisher vor allem als Solist profilierte. Er muss sehr stark sein, und er ist es auch.

Mit dem Bill Dixon Ensemble weitet sich der Horizont zur Welt, die immer in diese Musik hineinspielt, hier nun aber in Gestalt von Protagonisten der europäischen und der amerikanischen Avantgarde (rückblickend wird man diesen problematisch gewordenen Begriff hier weitgehend widerspruchslos anwenden dürfen) präsent ist. Bill Dixon, der, aus der schwarzen Tradition kommend, zu einer neuen Ästhetik der improvisierten Musik beigetragen hat, trifft nicht zum ersten Mal mit dem europäischen Free-Music-Pionier Tony Oxley zusammen. Dixon zählt fast schon zu den Stammgästen von Tony Oxley`s Celebration Orchestra. Eine solche Kooperation erschien keineswegs von Anfang an selbstverständlich, ging es doch in der europäischen improvisierten Musik nicht selten um die bewusste Abgrenzung von den amerikanischen Vorbildern und Entwicklungen. Weitblickende und -hörende vernachlässigten jedoch nie, was Innovatoren wie Bill Dixon, Cecil Taylor oder Ornette Coleman zu sagen hatten. Bill Dixon hat bereits in den sechziger Jahren mit seinen in New York unter dem Titel "October Revolution in Jazz" veranstalteten Events neue Türen aufgestoßen und dann beharrlich an Konzepten weitergearbeitet, die sich mit denen von Tony Oxley als kompatibel erweisen. Kaum ein anderer, von außen kommender und schließlich quasi als Artist in Residence integrierter Musiker beeindruckte und beeinflusste die freie Improvisationsszene in der DDR so stark wie Tony Oxley. Wenn etwas zu hören war, das er schon vor Jahren hinter sich gelassen und weiterentwickelt hatte, blitzte sein leicht ironisches Lächeln auf, kommentierte er lakonisch: "Many years too late." Tony Oxley, der die jahrzehntelangen Erfahrungen der englischen Improvised Music mit in die DDR brachte, hat sie mitgerissen und sie haben seine Ideen mitgetragen: die Musiker aus Ost-Berlin oder Mittweida. Im Bill Dixon Ensemble spielt er nun mit einem der vergleichsweise jüngeren Bassisten, Matthias Bauer, und dem bereits seit den frühen Tagen mit Joachim Kühn auf der Szene präsenten Klaus Koch zusammen. Musik, die Einflüsse unterschiedlicher Generationen und aus verschiedenen Himmelsrichtungen vernetzt. Musik, die sich selbst komponiert und die - damals wie heute - nie zu spät kam.

aus: Programmheft JazzFest Berlin 1999

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