1999 TMM / "Podewil"

Fredi Bosshard (1999)

Cecil Taylor ist ein musikalischer Brückenbauer. Brücken, die neue Verbindungen erschließen, Entwicklungen möglich machen, ein hochkomplexes System vernetzen und so der musikalischen Einfalt entgegenwirken. Nach einem Konzert im Dezember 1990 in Zürich, bei dem das Feel Trio mit William Parker und Tony Oxley im musikalischen Zentrum stand - ein Trio, das wir letztlich den Free-Music-Production-Aktivitäten um den Pianisten von 1988 in Berlin zu verdanken haben -, hat Cecil Taylor viel über Brücken erzählt. Er verglich sein Konzert mit dem Bau einer Brücke. Es muss schon vor dem Beginn klar sein, wo der Weg durchführen soll und wo die Brücke gebaut werden soll, damit er weiterführt. Selbst wenn - wie im Konzert - der Bau von mehreren Seiten gleichzeitig aufgenommen wird und darunter ein Abgrund liegt. Improvisierte Musik ist aber gleichzeitig auch immer ein Tanz über diesem Abgrund, bei dem intensiv am leicht Flüchtigen in der Musik gearbeitet wird und der natürlich auch mit dem Risiko verbunden ist zu fallen.

Cecil Taylor zeigte in Zürich ein Fotobuch mit Brücken aus dem Alpenraum, war fasziniert von den eleganten Bauwerken der Eisenbahn, die den Zugang zu den entlegendsten Bergtälern ermöglichen. Neun Jahre später, im Mai dieses Jahres, ist er über einige dieser Brücken gefahren, um am "Uncool-Festival" im Puschlav - einem dieser entlegenen und zauberhaften Täler an der Grenze zu Italien - in einem Zelt, am Ufer des Lago Poschiavo an allen drei Tagen den Schlusspunkt des Festivals zu setzen, in dessen Zentrum der eben siebzig Jahre alt gewordene Pianist stand. Zweimal tat er dies mit seinem europäisch besetzten Quintett und einmal solo - aber immer mit einer furiosen Intensität. Es war glasklar strukturierte Musik die das Spaceship Taylor mit den beiden Finnen Harri Sjöström (Saxophon) und Teppo Hauta-Aho (Bass), dem herausragenden Paul Lovens - einem frühen FMP-Protagonisten - und dem nicht weniger beeindruckenden Cellisten Tristan Honsinger (der hier als unamerikanischer Amerikaner zählt) in die ebenso glasklare dunkle Nacht des Val Poschiavo entschweben ließ. Dabei blieben, neben den von weit her angereisten Festivalbesuchern, auch eine ganze Reihe von unvoreingenommenen Talbewohnern, die zum ersten Mal mit dieser Musik konfrontiert war, hingerissen zurück. Wenn Cecil Taylor jetzt für das Total Music Meeting `99 ein neues Quartett zusammengestellt hat, dem wiederum Tristan Honsinger angehört, zu dem mit dem Gitarristen Franky Douglas ein neues Gesicht dazu stößt und bei dem Andrew Cyrille hinter dem Schlagzeug sitzt, mit dem ihn eine gemeinsame Geschichte seit "Unit Structures" und "Conquistador!" - den legendären Aufnahmen für Blue Note von 1966 - bis zu "Spring Of Two Blue-J´s" und "Akisakila" von 1973 verbindet, wird der Faden weitergesponnen und der Tanz ohne Netz und doppelten Boden fortgeführt.

Mit dem Schlagzeuger Tony Oxley und dem Bassisten William Parker stellen die beiden anderen Musiker des Feel Trios aktuelle Formationen vor. Tony Oxley ist einer der Pioniere in der Anwendung einfacher elektronischer Mittel zur Erweiterung des klanglichen Spektrums seines Instruments. Bereits Ende der sechziger Jahre begann er mit der Verstärkung einzelner Teile seines Perkussionsarsenals, integrierte kleine Motoren, Küchenmaschinen und Ähnliches in sein Spiel. Seine beiden ersten LPs "The Baptised Traveller" (1969) und "Four Compositions For Sextet" sind soeben in der Reihe "8 Great British jazz albums from the late ´60s & early ´70s" von Sony als CDs wieder veröffentlicht worden. Diese raren frühen Aufnahmen mit Derek Bailey, Evan Parker, Kenny Wheeler, Paul Rutherford und Jeff Clyne dokumentieren, wie viel schon damals konzeptionell angelegt war. Im Rahmen des TMM´99 stellt Tony Oxley sein Quartett vor, dem mit Phil Wachsmann, Matt Wand und Pat Thomas Musiker angehören, für die verschiedenste elektronische Komponenten zur Klagerzeugung Alltag geworden sind. Es ist ein Destillat aus seinem Celebration Orchestra, dessen Auftritt am Berlin Jazz Festival von 1994 auf der CD "The Enchanted Messenger" (Soul Note) dokumentiert ist. Beim in Oxford lebenden Pianisten Pat Thomas hat sich seine "Monkish Soul" in den vergangenen Jahren verstärkt in den Bereich der geistreichen Collage verlegt. Mit Hilfe von billiger Elektronik, treffsicher eingespielten Kassetten und Ähnlichem gelingt es ihm, nicht erwartete und witzige musikalische Farben und Texturen zu integrieren. Matt Wand aus Manchester steht mit einem Bein in der Welt des DJings. Er segelt mit der Gruppe Stock, Hausen & Walkman hart am Wind zwischen freier Improvisation und experimenteller, elektronisch zusammen geschnipselter Musik, mit einer Affinität zu Easy Listening. Der Violinist und Elektroniker Phil Wachsmann ist einer der frühen Weggefährten von Tony Oxley. Auf seiner LP "February Papers" (Incus 18) von 1977 sind sie gar beide als Violinisten zu hören. Mit elektronischer Unterstützung wird Phil Wachsmann zur sensibel und unaufdringlich agierenden "string section".

"Other Dimensions in Music" nennt der New Yorker Bassist William Parker ein Projekt, das er zusammen mit drei anderen Musikern seit bald fünfzehn Jahren verfolgt. Es stellt sozusagen das Gegenstück zur Gruppe in Order To Survive dar, mit der er vergangenes Jahr am 30. Workshop Freie Musik in Berlin zu Gast war, der als Livemitschnitt von FMP - in ihrem dreißigsten Jahr - veröffentlicht wurde. Die CD "Posium Pendasem" demonstriert - einmal mehr -, wie facettenreich "der lauteste Bassist", so Peter Kowald - und der muss es wissen -, mit Musik umgehen kann. Kowald schreibt dies in den mit "Kleine Hommage an große Töne: William Parker und sein Bass und seine Gruppe(n)" überschriebenen informativen Linernotes zur CD. In den frühen achtziger Jahren bildete William Parker zusammen mit Rashid Bakr das Rückgrat so mancher Formationen von Cecil Taylor. Gemeinsam mit dem Trompeter Roy Campbell waren sie mit dem Jemeel Moondoc Quartet unterwegs und haben mit dem Saxofonisten Daniel Carter, der auch Trompete spielt, zu Other Dimensions in Music mutiert. Letzterer ist übrigens mit der Gruppe Test regelmäßig in Manhattans Lower East Side in der Astor-Place-Untergrundstation zu hören - auch 1999 noch eine Realität und keine Anekdote aus den Anfängen des Free Jazz.

"Vom Glauben zur Vision war es nur ein kurzer Schritt, von der Vision zur Realität ein Sprung in den East River. Wenn auch noch so kurz, ist sein Leben doch beispielhaft und vor allem sein Tod ein gar nicht so ungewöhnliches Zeugnis für die alltäglichen Depressionen, denen ein Spieler "unverkäuflicher Musik" - so sein Freund und Mitstreiter Charles Tyler - in den USA, besonders in New York ausgesetzt ist", schreibt Peter Brötzmann - einer der Musiker, die ich zeitgleich mit dem Kürzel FMP erinnere - in den Linernotes zur CD "Die Like A Dog - Fragments Of Music, Life And Death Of Albert Ayler". Aus dieser als Hommage an den großartigen Tenoristen gedachten Produktion ist in kürzester Zeit eine Band geworden, die so viel Sinn macht wie 1986 Last Exit (Brötzmann, Sonny Sharrock, Bill Laswell, Shannon Jackson). Die Like A Dog gehen über Ayler hinaus und bleiben trotzdem seiner Spiritualität verpflichtet, klingen abenteuerlich und rebellisch, haben somit alles, was man von Musik erwarten kann. William Parker treffen wir hier wieder an, und wenn der zwischen Tokio und Amsterdam pendelnde Trompeter Toshinori Kondo und seine "rabenschwarze (elektronische) Trickkiste" nicht zur Verfügung stehen, ist mit Roy Campbell sozusagen die "unplugged" Version angesagt (vgl. Die Like A Dog Quartet, "From Valley To Valley", Eremite, 1998). Der Schlagzeuger Hamid Drake aus Chicago ist ein ebenso schillernder Vogel wie Toshinori Kondo. Er war seit den späten siebziger Jahren im weiten Umfeld der A.A.C.M. (Association for the Advancement of Creative Musicians) anzutreffen, spielte im Quintett des Tenorsaxofonisten Fred Anderson, der sein Mentor wurde, aber auch in Reggaebands und der Mandingo Griot Society. Inzwischen ist er eine der zentralen Integrationsfiguren in Chicago und Bindeglied zwischen der schwarzen und der weißen Szene. "Little Birds Have Fast Hearts" - aber nicht nur die!

Hans Reichel und Rüdiger Carl kennen sich seit "Buben"-Zeiten. Ihre musikalische Entwicklung ist eng mit derjenigen der FMP assoziiert, so ist doch der größte Teil ihrer dokumentierten Musik auf diesem Label erschienen. Der Gitarrist und Soundtüftler Hans Reichel ist auch der Erfinder und trickreichste Spieler des Daxophons, das inzwischen von einer ganzen Reihe anderer Gitarristen zwischen Kanada und Japan gespielt wird - wenn auch von keinem so virtuos. Wenn er nun mit Rüdiger Carl, der in den USA lebenden koreanischen Komungospielerin Jin Hi Kim (Komungo, eine sechssaitige koreanische "Zither") und dem aus Lissabon stammenden Violinisten Carlos Zingaro ein Quartett formiert, ist auch dies eine über die Jahre und unterschiedliche Begegnungen an verschiedensten Knotenpunkten der freien Improvisation langsam gewachsene Formation. Mit Jin Hi Kim traf sich Hans Reichel 1993 in Berlin am Workshop Freie Musik zu einem feinsinnigen Duo. Rüdiger Carl und Carlos Zingaro verbindet seit Anfang der neunziger Jahre das Canvas Trio mit der Bassistin Joëlle Léandre. Dann war vor kurzem Hans Reichel, dem in Wuppertal der Preis der Sparkasse zugesprochen wurde, mit Jin Hi Kim und Rüdiger Carl zu hören. Es ist eine eng mit dieser Musik verbundene Eigenheit, dass die geografische Verortung so oft keine Rolle spielt, einzig die musikalische Idee dahinter zählt.

Der englische Gitarrist Derek Bailey schreibt in "Improvisation - Kunst ohne Werk" (Wolke Verlag, Hofheim 1987): "Aber letztendlich liegt die größte Befriedigung, die freie Improvisation verschaffen kann, darin, mit anderen Musikern zu spielen. Was immer die Vorteile der Soloimprovisation sein mögen, Improvisation hat noch eine andere Seite, und diese ist die aufregendere und magischere, die man nur beim Zusammenspiel entdecken kann. Das Wesen der Improvisation, ihre intuitiven, telepathischen Grundkräfte, können am besten in der Gruppensituation erforscht werden. Und die denkbaren musikalischen Dimensionen der Gruppenimprovisation übertreffen die des Solospiels bei weitem". Das Solo findet am TMM ´99 nur im Gruppenzusammenhang statt, aber an drei Tagen ist zwischen die beiden Sets der Quartett-Formationen die intimste Form der musikalischen Interaktion geschoben: das Duo. Dieses Jahr sind es Saxofon-Bass-, bzw. Saxofon-Cello-Kombinationen. Bei Paul Dunmall und Paul Rogers handelt es sich um ein schon länger andauerndes Zusammenspiel, als Duo und als Teil von Keith Tippett`s Mujician. Ihre vor zehn Jahren eingespielte CD "Folks" (Slam, 1989) hatte kammermusikalische Qualitäten und einen Hang zu imaginärer Folklore englischer Ausprägung. John Butcher, einer der eigenwilligsten kantigen und schöpferischen Klangarchitekten des Sopran- und Tenorsaxofons, trifft sich mit dem Bassisten John Edwards, der von der Hardcoregruppe God und von B-Shops For The Poor herkommt, aber in letzter Zeit vermehrt im Umfeld von Evan Parker, Eddie Prévost und Veryan Weston anzutreffen ist. Gregor Hotz ist ein schweizerischer Wahlberliner, der zwischen Basssaxofon, Sopran und Alto Clarinet pendelt. Er trifft sich mit dem Cellist Nicholas Bussmann, den ich nur von der Gruppe Ich schwitze nie und ihrer CD "Träume der Sehnsucht - Lockender Rhythmus" (Manifatture Criminali, 1996) her kenne. Er hat mit Gregor Hotz 1997 die sechsteilige "Suite For Slow Dancers" für FMP eingespielt, die diesen Sommer veröffentlicht wurde. Es ist ein verhaltener, beinahe meditativ wirkender andersartiger Traum der Sehnsucht von zwei Musikern der nachfolgenden Generation.

Über den Inhalt des Total Music Meeting `99 lässt sich nicht streiten - es ist die improvisierte Musik -, und die beteiligten Musiker und Musikerinnen, genauso wie die Free Music Production als Veranstalter, sind zu ehrlich, dies mit einer stromlinienförmigeren oder einer modischeren Verpackung zu kaschieren - und dafür sei ihnen allen gedankt. Die Erkundung des Augenblicks verdient am TMM mehr Beachtung als die Reproduktion des Immergleichen, die so oft als Erfolg gefeiert wird. Damit das gemeinsame Schreiben in Wasser weitergehen kann, um einen Plattentitel von Phil Wachsmann zu zitieren ("Writing In Water", Bead, 1984), oder wie es William Parker formuliert: "The music called Jazz is less than a hundred years old - to young to repeat itself ". Das Wandern auf den Spuren dieser Musik macht Spaß, vielleicht gerade weil die Wege schmal sind und die fragilen Treffs oft abseits der großen Highways liegen. Sie sind Teil eines musikalischen Netzes, und auch auf ihm lässt es sich um die Welt reisen - real und nicht nur virtuell. Das Konzert bleibt dabei der Mittelpunkt, somit die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, der Begegnung und der Erfahrung.

aus: Programmblatt TMM 1999

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