1998 TMM / "Podewil"

Bert Noglik (1998)

Das Programm macht Punkte und Linien in einem Prozess bewusst. Linien musikalischer Entwicklung und Lebenslinien. Kaum Fixpunkte, eher Verweise auf Persönlichkeiten und deren musikalische Praxis, Punkte im fortwährenden Verlauf der Flüchtigkeit als Beispiel gesetzt. Erhellen von Wesentlichem, das sich am Konkreten entzündet. Verbindungslinien zwischen Klangwellen, die sich zunehmend differenziert haben und doch - sei es indirekt - miteinander kommunizieren.

Die Free Music Production hat der von ihr präsentierten bzw. produzierten Musik nie einen vor gefassten Begriff zugrunde gelegt. Ausgangspunkte waren stets die Integrität und die Informationen der mit ihr verbundenen Musiker. Mit deren Lebensläufen und Werkfolgen (improvisierte Musik als work in progress begriffen) wandelten sich Klangbilder. Was blieb und zum Bestand zählt; kann mit einer Musizierhaltung beschrieben werden, die sich der Austauschbarkeit, der Beliebigkeit widersetzt und in der Nähe zur Improvisation eben jene Qualität ausprägt, die in den Verschleißzyklen des Kulturbetriebs allzu schnell verloren geht: Authentizität.

Die auf dem Programm des Total Music Meeting 1998 angeführten Namen und Besetzungslisten kann man auf so unterschiedliche Weise lesen wie einen Text oder eine Partitur. Es lohnt, die Solostimmen zu verfolgen, und es erscheint aufschlussreich, nach Parallelen, Entsprechungen, Kontrapunkten im Stimmengeflecht zu suchen. Schließlich erweist es sich auch als sinnvoll, die aktuelle Situation und die historische Dimension zu reflektieren.

Mit Alexander von Schlippenbach und Tony Oxley kommt der musikalische Dialog zweier Wegbereiter dieser Musik auf die Bühne. Da die beiden Jubilare in der eigenen Arbeit einem Langzeitkontinuum folgen, erschiene es widersinnig, sie als Klassiker abfeiern zu wollen. Es ist ein Hochplateau, auf dem sich die beiden begegnen. Das sie, vom Jazz herkommend, eine eigene Sprache ausgeformt haben, die bei Oxley schon in der sechziger Jahren "die Befreiung vom Dogma des Beat" und bei Schlippenbach die Faszination für die Klangwelten der Neuen Musik bei gleichzeitiger Verehrung für die großen Jazzinnovatoren einschloss, macht das Spiel mit gemeinsamen Erfahrungen möglich. Die Nuancen in dieser interaktiven Selbstverständigung bestehen im Ausformulieren und Weglassen, im Vermeiden und im Akzentuieren.

Auch Misha Mengelberg zählt zu jenen Musikern, die schon vor Jahrzehnten im Spannungsfeld von Monk und Dolphy, europäischer Tradition und Fluxus etwas begründet haben, das viel zu originär erscheint, um Schule zu machen - es sei denn als Methode. "Wenn ich Klavier spiele", bekannte der Pianist, " fühle ich mich wie ein Mann, der ein Fahrrad repariert. Es geht darum, dass das Fahrrad wieder fährt." Das Unterbrechen und Weiterführen beschreibt einen Prozess, der meilenweit davon entfernt erscheint, Musik als bürgerliche Selbstgefälligkeit oder Andacht zu zelebrieren. Und obwohl sich das vom Umkreis Neuer Musik ausbrechende Ex tempore Vinko Globokars anders mitteilt, betrachtet auch er die "Improvisation als eine Art musikalische und visuelle Beschreibung alltäglicher Probleme". Das schließt "Widersprüche, Verzweiflung, Neurosen, Ausweglosigkeit" ein, führt aber auch dazu, den fortgesetzten improvisatorischen Versuch als Chance zu begreifen. als "einen Raum, in dem man Lösungen finden kann".

Mit der Präsentation des Duos Ulrich Gumpert und Günter Sommer wie auch mit Selbdritt, dem Trio der Vaterfigur jenes freien Spiels, das sich jenseits der Mauer musikalische Bahn brach, als der Landstrich davor bzw. dahinter noch als DDR eingetragen war, kann die FMP auf eine jahrzehntelange Kontinuität verweisen. Sie hat von West-Berlin aus lange Zeit als moralisch-musikalischer Einflussfaktor in den Osten hinein gewirkt. Ohne die FMP wären wichtige Phasen dieser Musik (auch der des Duos Gumpert/Sommer und des Petrowsky Trios) nur noch Erinnerung ohne klingende Dokumente. Schließlich schuf die FMP selbst auch Podien. Mit dem Total Music Meeting 1978 - vor genau zwanzig Jahren - begann die Vorstellung ostdeutscher Musiker auf westlichen Bühnen. Bereits ein Jahr später folgte die Konzertreihe mit dem programmatischen Titel "Jazz Now. Jazz aus der DDR". Nun, da sich alles Spektakuläre gelegt hat, lohnt es sich, nach- und hinzuhören, um mitzubekommen, was sich im Spiel von Musikern wie Gumpert, Sommer und Petrowsky wandelte und was sich als Bestand, in Gestalt von Erfahrung akkumulieren ließ.

Die Musik, die Manfred Schulze mit seinem Bläserquintett entwickelte, entstand gleichfalls in der DDR, mutet aber mit Abstand beinahe exterritorial an. Schulze, der geniale, von Modeströmungen des Jazz unbeeinflusste, und in Kreisen der Neuen Musik nie etablierte Einzelgänger, initiierte Spielprozesse und schuf Klangstrukturen, die in keiner Schublade unterzubringen sind. Wie sich fünf Musiker nachwachsender Generationen dieses Erbes annahmen, macht die Aktualität, die Frische und Prägnanz der Kompositionen und Konzeptionen von Manfred Schulze bewusst. Weil Gert Anklam weiß, dass er Schulze nicht durch Nachahmung, sondern nur durch eigene Mitteilungen auf dem Baritonsaxophon gerecht werden kann, gelingen ihm von der Konzentration auf den einzelnen Klang bis zur quasi orchestralen Verdichtung reichende, auf Wesentliches konzentrierte und zugleich viel dimensionale Solokonzerte.

Durchgängig als Untertext und in einzelnen Punkten thematisiert kreist das Programm des Total Music Meeting 1998 auch um das Verhältnis von Improvisation und Neuer Musik. Es erschiene töricht, die hinsichtlich der Klangeindrücke fließend gewordenen Bereiche voneinander abgrenzen zu wollen. Dennoch unterscheidet sich das Profil der FMP deutlich von kammermusikalischen Veranstaltungen, die in den Zentren der zeitgenössischen, komponierten Musik angesiedelt sind. Beim Total Music Meeting geht es weniger um Materialien und Methoden (seien sie improvisiert, komponiert oder kombiniert), sondern um die Authentizität von Musikern, um die Identität von Klangschöpfer und Spielendem. Fernando Grillo, Komponist und Kontrabassist aus Perugia, begreift sein Spiel als Realisieren von "Klangskulpturen", dabei nach geistiger Versenkung strebend. Folgerichtig geht es ihm nicht um das Vorzeigen all der virtuosen Techniken, die er entwickelt hat und die ihm als Medium zur Verfügung stehen, sondern um die Tiefenschichten des Musizierens.

Obwohl ihn sein Weg von Lyon über Paris in die Welt geführt hat, wird Louis Sclavis noch immer mit dem von ihm mitbegründeten Workshop de Lyon und der Vision von einer imaginären Folklore assoziiert. Doch die Musiksprache von Sclavis ist mit den Jahren immer individueller geworden. Das spiegelt sich sowohl in seinen Gruppenprojekten, die zuweilen einem Abstrahieren von Jazz und Neuer Musik ähneln, als auch in seinem Solospiel. In dem aus Marseille anreisenden Jean-Marc Montera, Mitbegründer einer Kooperative improvisierender Musiker und auch multimedial engagierter Gitarrist, trifft er auf einen eigenwilligen Klangzauberer, der schwirrende Töne, Noise und Klangbänder durch den Raum schwirren lässt. Matthew Shipp, senkrecht gestarteter Pianist mit schwarzen Roots in der Musik von John Coltrane und Sun Ra, als Kontrapunkt verstehen zu wollen, könnte zu einem Trugschluss führen. Denn Shipp lässt in seinem Solospiel gleiche Nähe bzw. Ferne zu Cecil Taylor wie zu Bill Evans vernehmen und weiß außerdem Klangspuren- und Formelemente europäischer Provenienz aufzugreifen.

Bereits vor fünfzehn Jahren, zum Zeitpunkt des Entstehens, erschien das King Übü Örchestrü wie eine Antwort auf die frühen improvisierenden Großformationen wie das Globe Unity Orchestra. Im Wechselspiel von neu aufgeworfenen Fragen und Antworten gelingt dem Ensemble eine unverwechselbare Orchestersprache, die sich im Prozess des Improvisierens bildet. Wolfgang Fuchs komponiert dabei mit den Individualitäten der beteiligten Musiker. Was entfernt an eine aus dem Jazz kommende Methode erinnern mag, manifestiert sich klanglich als eine jazzferne "neue", eine radikal improvisierte und zugleich form bewusste Musik. Doch Begriffe sind hier wie anderorts in diesem Programm allenfalls dazu gut, dass über sie hinweggespielt werden kann. Hin zum Klingenden, zur Musik. Deshalb wohl auch nennt sich die vom Einzelnen auf das Ganze verweisende Veranstaltung der FMP nun schon im 31. Jahrgang Total Music Meeting.

aus: Faltblatt TMM 1998

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