1997 TMM / "Podewil"

Steve Lake (1997)

Dreißig Jahre Total Music

Das Total Music Meeting, die langlebigste Institution in den Annalen des einst so genannten Free Jazz, liefert seit 1968 ein abendliches Alternativangebot zum Programm des Berliner Jazzfestivals.

Die meisten Künstler, die FMP zum dreißigsten TMM versammelt (wo ist nur die Zeit geblieben?), sind all denen, die schon mal vorbeigeschaut haben, sicher vertraut. Namen wie Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Irène Schweizer, Evan Parker, Rüdiger Carl und Sven-Äke Johansson waren für mich schon immer unauflöslich verbunden mit den eigenwilligen Klängen und Klangfarben, die der Begriff "Total Music Meeting" in der Erinnerung heraufbeschwört - was nichts anderes bedeutet, als dass es die Musiker waren, die das Ereignis prägten.

Leser unter 40 mag es überraschen, dass das Total Music Meeting um etwa ein Jahr älter ist als FMP selbst. Beim ersten Meeting im Quasimodo, wo ein mittlerweile legendäres Schild über die Kasse verkündete "Jazzkritiker zahlen doppelten Eintritt", gehörte Jost Gebers noch zum Fußvolk der Free Players: unbelastet durch Träume von Ruhm und Ehre im Plattengeschäft, spielte er einfach Bass in Donata Höffers Trio. John McLaughlin, heute auch nicht mehr das, was man sich unter einem freien Improvisator vorstellt, war bei Gunter Hampels Time Is Now dabei. Und John Stevens, ein Mann mit vielen Talenten, aber leider ohne Gespür für internationale Diplomatie, zerstritt sich anlässlich seines einzigen Gastspiels mit dem Spontaneous Music Ensemble mit fast der gesamten deutschen Delegation (die ganz hartgesottenen Vertreter mal ausgenommen) und ließ sogar Sonny Sharrock sprachlos zurück, der auf einen Jam vorbeigekommen war.

In der Anfangsphase lebte das TMM von Opposition, wenn auch in wechselnder Intensität. Ins Leben gerufen wurde es als "Anti-Festival", Antidot zur angeblich "glatten Professionalität" des eigentlichen JazzFests. (Dieser Teil der Geschichte ist eher verwirrend. Schließlich hatte Globe Unity, die erste freie Bigband in Europa, ihr Debüt 1966 bei den Berliner Jazztagen gegeben - in jenem Jahr stand auch Albert Ayler auf dem Programm! - drei Jahre, bevor FMP auf der Bildfläche erschien. Auch die großen Festivals riskierten damals etwas.) Anfang der 70er schloss man zähneknirschend einen Waffenstillstand, indessen Folge beispielsweise 1973 das von den Musikern (Brötzmann, Schlippenbach, Kowald und Paul Lovens) so benannte Hobby-Quartett auf der Bühne der Philharmonie erschien - was allerdings, so beeilte man sich zu versichern, keinen Pakt mit dem Showbiz-Teufel bedeute. Und der militante Programmtext kündigte an, die Festivalgage werde dazu verwendet, die Löcher im TMM-Budget zu stopfen.

Die Finanzierung des TMM ist seit jenen frühen, idealistischen Tagen immer eine heikle Angelegenheit gewesen, mit einem Zuschuss aus dem Kulturtopf hier und ein paar Sponsorenmärkern dort, die das Meeting immer noch so gerade im Kalender hielten. Das "letzte" Total Music Meeting wurde bereits 1983 angekündigt, und immer wieder musste in letzter Minute das Programm zusammengestrichen werden, weil das Geld ausging. Ebenso wie Symphonieorchester, zeitgenössische Klassik, die Oper und das Ballett kann auch freie Improvisation von seinem Publikum allein nicht (über)leben; anders als andere Kunstformen muss sie sich jedoch mit den mageren Resten am Boden des Subventionstopfes begnügen. Doch was ist mit der Musik?

Zwei Jahrzehnte lang fand das Total Music Meeting im Quartier Latin statt, einem ehemaligen Kino in der Potsdamer Straße. Sounds, die für den Raum viel zu groß waren - das ist bei mir die vorherrschende Erinnerung an die Musik, die dort in den 70ern gemacht wurde. Das Breuker Kollektief oder Globe Unity aus nächster Nähe zu hören, direkt in der Schusslinie ganzer Hornkommandos, war eine gleichzeitig begeisternde, ungeheuer witzige und klaustrophobische Erfahrung. Der Schweiß lief die Wände herunter. Und es waren nicht nur die Bigbands, die pure Energie ausspuckten; Fred Van Hove zum Beispiel konnte man zwar sehen, aber oft kaum hören, wenn Brötzmann und Bennink gigantische Krachwolken über seinen Kopf hinwegsegeln ließen. Platten wurden wichtig, um nachzuprüfen, was man unter anderen Bedingungen eventuell hätte hören können. Auf der anderen Seite gab es Künstler - und Bennink gehörte sicherlich dazu, ebenso wie Sven-Äke Johansson - die nicht glauben wollten, dass Improvisation nicht anders sein sollte als organisierter (oder unorganisierter) Klang. Der Trend zu einer spontanen Performance Art erlebte seinen Höhepunkt vielleicht in der Feminist Improvising Group (zu deren Personal auch Irène Schweizer gehörte), die 1979 ihre Staubsauer über die Bühne des Quartier Latin schoben. Um so etwas würdigen oder auch kritisieren zu können, musste man schon dabei gewesen sein..

Mit dem Beginn der 80er Jahre war die offen "politische" Phase des Total Music Meeting und seiner Musik beendet. Die meisten Musiker hatten aufgehört, die viel gepriesene "Emanzipation des europäischen Jazz" (ein aus dem Wunsch geborener Mythos) zu beschwören und verwendeten andere Anreden als "Genosse" (manchmal redeten sie sogar überhaupt nicht mehr miteinander). Alte Visionen einer proletarischen Kunstform von und für das Volk wanderten still und heimlich in die Mottenkiste, zusammen mit den Arbeitsstiefeln und Hosenträgern (früher de rigeur) und den Weill/Eisler-Noten), die bei vielen Gruppen immer für eine Zugabe gut gewesen waren. Als die Mauer schließlich fiel, schien die musikalische Solidarität zwischen Ost und West ebenso zu bröckeln - oder vielleicht gerieten alte Beziehungen einfach ein wenig ins Hintertreffen angesichts des ansteigenden Cecil-Taylor-Fiebers bei FMP.

"Total Music" konnte nicht länger für sich in Anspruch nehmen, ein lokales Phänomen oder gar eine einheitliche "Bewegung" zu sein. Aus allen Teilen der Welt und aus unzähligen Genres strömte Verstärkung herbei, und jeder Musiker hatte seine ganz eigene Vorstellung von der Bedeutung von Musik im Gepäck; es war schwierig, fast unmöglich, sich ein vollständiges Bild zu machen. Einige der "gegebenen Tatsachen", von denen sich die freie Musik in ihrer frühen Phase radikal verabschiedet hatte, wurden nun (selektiv) wieder rehabilitiert. War "frei aufgelöste Time", das "nervös pulsierende" Spiel der freien Percussionisten einer der gemeinsamen Nenner der Musik gewesen, so demonstrierten nun einige Auftritte der Drum-Gruppe Africa Djolé, dass die Möglichkeiten und Feinheiten "konventioneller" Rhythmen nicht nur noch nicht erschöpft waren, sondern dass Drummer aus dem Westen kaum damit begonnen hatten, dieses Potential anzuzapfen. Dies war auch etwa die Zeit, als man Brötzmann erstmals ketzerisch murmeln hörte, nur amerikanischer Rhythmus, auf einer echten Jazzbasis gründend, könne seinen Sound wirklich elektrisieren. Er hat in bekommen, beim Total Music Meeting und anderswo, von Drummern wie Andrew Cyrille, Shannon Jackson und Rashied Ali, und ist heute mehr als glücklich mit der rhythm section (um einen alten Begriff wieder einzuführen) aus William Parker und Hamid Drake, die immer noch treibende Kraft seines ausgezeichneten "Die Like A Dog" Quartetts ist.

FMPs intensive Zusammenarbeit mit Cecil Taylor machte auch Schluss mit der "Europa und nichts anderes"-Regel des Total Music Meetings, die so ganz hundertprozentig ohnehin nie eingehalten wurde - besonders in Schlippenbachs Gruppen spielten häufig amerikanische Musiker (Steve Lacy, Anthony Braxton, George Lewis, Bob Stewart, Alan Silva, Sunny Murray und andere, die kürzliche Zusammenarbeit mit Sam Rivers setzt den Trend fort). Mit Taylor begann jedoch ein wichtiges neues Kapitel euro-amerikanischer Kooperation. Die Total Music Meetings von `89 und `96 hatten ihren Schwerpunkt in Taylors Methodologien, und nicht zuletzt das große Taylor/FMP-Festival 1988 hat dazu beigetragen, die Bande zwischen europäischen Improvisatoren und den Überlebenden der schwarzen New-Jazz-Gemeinde zu festigen. Einer von Taylors zeitweiligen Akteuren, der Saxophonist Charles Gayle, kam zum TMM auf Empfehlung von Peter Kowald, der ihn das erste Mal an einer Straßenecke in New York gehört hatte. Gayles Auftritt beim `91er-TMM (erstmals im Podewil) stieß bei den Ledernacken des deutschen Fee Jazz auf helles Entzücken: endlich mal ein Amerikaner, der spielt wie wir - keine Noten, dem stream of consciousness folgend, viel Energie, keine konventionelle Technik - eine ziemlich paradoxe Einschätzung eines Künstlers, der sich selbst in der spirituellen/musikalischen Tradition Coltranes und Sun Ra'scher Saxophonisten sieht. Musik, die oberflächlich Gemeinsamkeiten aufweist, muss deshalb nicht notwendigerweise aus derselben Motivation entstanden sein.

1995 brach das TMM mit der eigenen Geschichte und überließ die künstlerische Leitung einem Dirigenten - eine Vorstellung, die `68 noch ideologisch unvertretbar, ja eigentlich ganz und gar widersinnig gewesen wäre. Butch Morris, der zuvor schon mit der Gruppe X-Communication und seinem eigenen Trio da gewesen war, präsentierte sein DAAD-gesponsertes Projekt "Berlin Skyscraper", fünf Tage akribisch gesteuerter Improvisationen und "conductions" mit einer 17köpfigen Band.

Solche "Formalitäten" gibt es nicht bei diesem 30. Jubiläum, das durchweg eher an ein Treffen der Stammesältesten erinnert. Jubiläen fordern zwar eigentlich naturgemäß zu resümierenden Betrachtungen des zurückgelegten Weges auf, aber ich persönlich erwarte nicht sehr viel Nostalgisches im Spiel der deutschen und englischen Musiker, die bis zum Öffnen der Bar in jeder Hinsicht zu den nüchternen Zeitgenossen zählen. Der TMM-Neuling Radici dagegen, ein Duo aus Gianluigi Trovesi (Klarinetten) und Gianni Coscia (Akkordeon), spielt eine Musik von solch überwältigender Nostalgie, dass vielleicht nur Italiener ganz in ihr aufgehen können. Swing, Folkballaden, Mazurka, Walzer, Tango, die Klänge der Synagoge und der Kirche fließen zusammen in Improvisationen und Kompositionen, die sich nach der Rückkehr in eine einfachere, vielleicht fiktive Vergangenheit zu verzehren scheinen. Ohne Frage die mit Abstand sentimentalste Musik, die je auf dem Total Music Meeting gespielt wurde.

Eine Formation mit Irène Schweizer, Pierre Favre und Rüdiger Carl - das weckt Erinnerungen an zwei alte Ensembles: die Schweizer/Carl/Moholo-Gruppe aus den 70ern und das noch frühere Schweizer Trio mit Favre und Peter Kowald. Wenn man bedenkt, wie sehr sich die Musik und das konzeptuelle Denken von Carl und Favre im Laufe der Jahre verändert haben, kann man von den beiden wohl eher neue Musik als einen Blick zurück erwarten. Vor fast 20 Jahren wurde es Carl offensichtlich schlagartig klar, dass das Schicksal ihn nicht zum Power-Tenoristen vom Schlage eines Brötzmann oder Parker erkoren hatte, woraufhin er das Akkordeon und die Concertina seiner Kindheit entstaubte, ernsthaft zu schreiben begann und das Repertoire des Quintetts COWWS (bei dem Schweizer ebenfalls dabei ist) mit Grooves, Loops und fast allem außer "Free Jazz" füllte. Mit Sven-Äke Johansson wird er, das ist anzunehmen, die Randbezirke der bizarren musikalischen Welt des Schweden erforschen, einer Welt voller erfundener Kunstlieder und Impromptu-Singspiele (wie ein "Pierrot Lunair", dem die Mitternachtssonne einen Strich durch die Rechnung macht). Carl, Johansson und Coscia: das 30. Total Music Meeting präsentiert ebenso viele Akkordeonisten wie Schlagzeuger, was einiges aussagt über die Versuche der westeuropäischen Improvisation, sich mit den etwas schattigeren Seiten ihres kulturellen Erbes auseinanderzusetzen.

Auch Pierre Favre distanzierte sich schon früh von den seiner Meinung nach "brutalen" Aspekten der freien Musik germanischer Prägung und hielt sich mehr an das, was älterer Jazz "Swing" nennt . (Big Sid Catletts Definition lautete: "Swing ist, wenn die Melodie so läuft, wie ich's mir vorstelle".) Seitdem hat er ethnische Musik und Komposition studiert, sein Drumset ist zu einer üppigen Soundskulptur gewuchert, und von dem Musiker, der Irène Schweizer in den freien 60ern zur Seite stand, ist nicht mehr viel übrig. Was Schweizer selbst betrifft, deren Einfallsreichtum und Vielseitigkeit sind legendär und wurden in den 90ern nirgendwo besser demonstriert als in den Aufführungen von Theoria, dem breit angelegten und schwierigen Klavierkonzert, das Barry Guy für sie geschrieben hat.

"Form ist überholt, der Inhalt schafft sich seine eigene Form" erklärte Sam Rivers, als er Anfang der 70er, unmittelbar nach seiner Zeit in Cecil Taylors Gruppe, eine Folge kraftstrotzender Trios anführte. Gleichzeitig war er Initiator und einer der Vorreiter der New Yorker Loft-Szene. In den folgenden Jahren wurde der Multiinstrumentalist in Europa nur äußerst selten gesichtet, und auch auf Platte gab es nicht viel zu hören. 1995 arbeitete Rivers, der mit 73 immer noch in glänzender Verfassung ist, mit Alex Schlippenbach als Solist und Komponist in einer Workshop-Formation namens Improvisors Pool zusammen, womit ein neues Kapitel begann.

Nach einem Mammut-Treck rund um die Welt, bei dem Begegnungen mit Musikern aus drei Kontinenten auf diversen CDs und LPs festgehalten wurden, verbrachte Peter Kowald zwischen Mai ´94 und Mai ´95 ein Jahr zu Hause und lud zur Abwechslung das Publikum zu sich ein - eine gute Gelegenheit, an seiner Solomusik zu arbeiten, die ihn, mit Unterbrechung, schon seit 15 Jahren beschäftigt.

Christine Wodrascka beeindruckte mit ihrem FMP-Soloalbum Vertical - ein wenig Bley hier, ein Hauch Monk da, aber insgesamt sehr europäisch - das sie dem Bassisten Yves Romain widmete, "ohne den ich nicht einmal daran gedacht hätte, Pianistin zu werden". In diesem Jahr spielen Wodrascka und Romain, die auf eine langjährige künstlerische Partnerschaft zurücksehen können, zusammen beim TMM.

Keith Tippett muss wohl als Total Musician der zweiten Generation gesehen werden, er spielte seine eigene Variante freier Improvisation schon lange, bevor die Einladungen aus Berlin kamen. Seine "semi-prepared" Solo-Piano-Sets erinnern mitunter an Nancarrow, Cage oder Koto-Musik. Mit einfachen Holz- und Plastikstücken, die auf den Klaviersaiten liegen, und einem Fuß beharrlich auf dem Fortepedal entlockt Tippet dem akustischen Instrument immer wieder quasi-elektronische Klänge.

Auch Evan Parkers Zirkularatmung und Obertonarbeit hat Kritiker oft zu Vergleichen mit elektronischer Komposition und Systemmusik inspiriert. Neuerdings hat Parker seine Experimente mit real-elektronischer Klangsynthese auf Eis gelegt, zugunsten eines neuen akustischen Quartetts mit Mark Sanders, John Edwards und dem Gitarristen John Russell (dessen Soloauftritt einer der Höhepunkte des `94er Meetings war).

Die einzige echte Elektronik, die es diesmal zu hören gibt, ist an Toshinori Kondos Trompete angeschlossen; sie verleiht der Musik des Brötzmann Quartetts, das mehr Jazzgeschichte in sich vereint als die meisten anderen Gruppen, ein willkommenes Gefühl von Weite und Tiefe. Brötzmann und Co. finden nicht nur Verbindungen zwischen Ayler und Bechet (der "St James Infirmary" zum Beispiel) sondern in Hamid Drakes Spiel auf Djembe, Tabla und Rahmentrommel auch Berührungspunkte mit anderen Improvisationstraditionen.

Machine Gun klang vor 30 Jahren nicht wie eine Einladung zu einer "world music", aber merkwürdigerweise hat es sich als solche entpuppt.

Übersetzung: Caroline Lake

aus: Programmblatt TMM 1997

zurück