1994 TMM / "Podewil"

Steve Lake (1994)

Dieses ist das 27. Total Music Meeting in Berlin. Als die Geschichte begann, 1968 bedeutete das "Total" wie das total in "totaler Krieg": die gestauten Wutgefühle und gesellschaftspolitischen Frustrationen der Ära, die einfließen in die programmatische Beschaffenheit solcher Werke wie Brötzmanns Machine Gun. Mehr als ein viertel Jahrhundert später ist noch immer eine gute Portion von Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit geblieben: Es hilft nichts, diese Musik muss oppositionell sein, ihr eigentliches Dasein eine fortwährende Kritik am status quo kommerzieller Musik. Doch sie ist auch großzügiger geworden, weniger exklusiv. Ende der 60er hat keiner der Musiker sich vorgestellt, dass eines Tages das Total Music Meeting dem Obertongesang von der sibirisch-mongolischen Grenze eine Plattform bieten würde - zum Beispiel. Die Musik ist gewachsen und umfassender geworden, denn die Männer und Frauen, die das Genre initiierten - manchmal wird es (fälschlich) als "nicht-idiomatische Improvisation" bezeichnet -, sind gereist und mit Musikern in den entlegendsten Winkeln des Globus in Berührung gekommen. "Total", heute, meint etwas wie all-umfassend, wobei versteht sich, Kritikfähigkeit und notwendiger Skeptizismus intakt bleiben. Freie Musik kann heute so viel wie nötig von parallelen Genres an Bord nehmen, kann an den Säumen der Performance Art zupfen (etwa Shelley Hirsch in der September Band) oder kann sich, zu dialektischen Zwecken, der Komposition bedienen. Sie kann ihre eigene Geschichte untersuchen: in seinem derzeitigen Quartett erkundet Peter Brötzmann glänzend die Parallelen zwischen Albert Aylers Kunst und seiner eigenen Entwicklung. Das Zentralquartett nimmt die Stücke der ostdeutschen Jazzgeschichte auf und bewegt sich in die Zukunft. Die Musik kann heute über sich selbst lachen, ein gesundes Zeichen, und mit Sicherheit kann man voraussagen, dass es bei der selbstironischen Darstellung der Melody Four des Vereinigten Königreiches keinen Mangel an komischen Momenten geben wird.

Gitarrensolisten und Bands sind die "Themen" dieses Jahres. In der Anfangszeit gab es nur eineinhalb "freie" Gitarristen: Derek Bailey war schon immer "frei", und Sonny Sharrock war "frei", wenn er nicht gerade Herbie Manns Pop-Jazz-Melodien spielte. (Eigentlich gab es zweieinhalb freie Spieler, aber Keith Rowe wurde ignoriert, damals wie jetzt.) Bailey und Sharrock waren beide frühe Besucher beim Total Music Meeting (Sharrock jammte 1968, verheerend, mit John Stevens; Bailey ist über die Jahre ziemlich regelmäßig da gewesen) und lange Zeit lieferten Derek und Sonny den maßgeblichen Bezugsrahmen für jede Diskussion über Gitarristen - mittlerweile gibt es deren Hunderte - , die versuchen, "out" zu spielen. In einer frühen Ausgabe der britischen Zeitschrift Musics findet man beispielsweise den Londoner John Russel beschrieben als einen, der "ein einzigartiges Territorium zwischen Bailey und Sharrock" besetzt habe. Bei seiner Vorliebe für die akustische Gitarre ist Russel heute kaum noch mit ihnen zu vergleichen, auch wenn er temperamentsmäßig Bailey näher steht. Er ist ein sturer Spieler mit seinem eigenen System trockener, scharrender Geräusche und verminderter Akkorde, aus denen er eine provisorische Architektur konstruiert oder wenigstens einen groben Schuppen (ein Sound wie "Kratzen in einer Hundehütte", so im Wire) - jedes Mal wenn er spielt. Seit Anfang der 70er hat er sich dem Konzept des freien Spiels verschrieben: "Auf diese Weise kann ich als Musiker am besten arbeiten, indem ich das Intellektuelle und das Emotionale mit dem Praktischen zusammenbringe und so eine Musik erschaffe, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einzigartig ist." In England ist die Überlegenheit halb-spontaner Gruppierungen von Musikern über feste Gruppen (oder umgekehrt) in improvisierenden Kreisen noch immer ein debattiertes Thema - ein Russel umgeht das, indem er beiden Richtungen anhängt. Sein flexibles Ensemble Quauqua hat eine wechselnde Besetzung, aber er arbeitet auch in dauerhaften Gruppieren, etwa bei den bejubelten News from the Shed (mit Paul Lovens, Radu Malfatti, John Butcher und Phil Durant), in Duos mit Evan Parker, Roger Turner und anderen sowie in Malfattis großem Ensemble Ohrkiste. Solokonzerte sind lange ein Mittel zur Entdeckung frischen Materials gewesen, das in das kollektive Bemühen eingebracht werden kann.

Der französische Gitarrist Jean-Marc Montera, in Marseille zu Hause, war 1978 Mitbegründer der Organisation für musikalische Forschung und Improvisation namens GRIM und war während der 80er in seiner Heimat tätig: Er schrieb viel für Film, Tanz und Video-Installationen und spielte mit Barre Phillips, Joe McPhee, Hervé Bourde, André Jaume und anderen. Ohne sich auf irgendwelche Definitionen von freier Musik festzulegen, hat er in allen Genres gearbeitet und seit 1988 beispielsweise auch als Artistic Advisor für junge Rock-Gruppen in den nördlichen Bezirken von Marseille gewirkt. In den 90ern hat er sich etwas weiter von seiner heimatlichen Rennbahn entfernt und Anerkennung für internationale Zusammenarbeit geerntet. Er ist Mitglied im Mediterranean Ensemble, das den tunesischen Oud-Spieler Anouar Brahem, den griechischen Saxophonisten Floros Floridis, den portugiesischen Geiger Carlos Zingaro und andere herausstellt. Oft spielt er im Duo mit dem Gitarristen Fred Frith und mit der Pianistin Christine Wodrascka, und regelmäßig bereichert er das Quintett des italienischen Bassisten/Cellisten Paolo Damiani. Eine weitere italienische Formation hat sich als fruchtbar erwiesen: Montera erscheint auf dem Album Unlike des Saxophonisten Mario Schiano (in einem Quartett, das auch Paul Lovens und Maarten Altena einschließt), wo sein Spiel einige radikale Abstraktionen über den Blues vorführt. Gegenwärtig ist Montera dabei, ein neues Ensemble zusammenzustellen, Et Plus Si Affinités, eine Bigband bestehend aus Rock-Musikern.

Die Vollendetheit und extreme Originalität der Kunst des Gitarristen Stefan Dill ist mehr als eindrucksvoll und ruft in Erinnerung, dass die interessanteste Musik es an sich hat, an unwahrscheinlichsten Orten zu blühen. Dill ist aus Albuquerque, New Mexico, einst Heimat einer anderen kreativen Wüstenpflanze, Harry Partch, aber sein Resümee umfasst Studien außerhalb der Stadt mit George Russell, Cecil Taylor und, vor allem, mit Joseph Gabriel Maneri. Maneri, einer der unbesungenen Innovatoren neuer Musik, ist ein Meister mikrotonaler Improvisation und hat eine komplexe und in sich konsistente Sprache entwickelt, die auf dem Slur (Bindung, Verschleifung) aufgebaut ist. Mikrotonale Musik auf der akustischen Gitarre zu spielen, ist jedoch keine einfache Sache; Dill benutzt die Ränder seiner Fingernägel, um in die Räume zwischen den Noten zu gleiten. Inspiration hat er aus vielerlei Quellen bezogen: die perkussive Kraft des Flamenco hat eine Rolle zu spielen, wobei die Expressivität des Free Jazz und die strukturellen Belange post-Schönberg´scher "ernster" Musik balanciert werden, mitsamt allem, was Dill aus seinen Studien der Maya-Dichtung ("meine Familienwurzeln") extrapoliert haben mag. Entscheidend dabei: seine Musik ist kein Potpourri. Sein Geschmack mag eklektisch sein, aber seine Kunst ist fokussiert. Er hat seine eigene, sehr charakteristische Stimme.

Wie die meisten Gitarristen seiner Generation - er ist 1951 geboren - wuchs Erhard Hirt beim Hören von Rock und Blues auf, spielte mit 16 Jahren Blues und tourte dann in den 70ern mit Blues Bands, wobei er eine Weile eine Art schizophrener, dualer Identität aufrechterhielt, bis zuerst der Free Jazz, dann die freie Improvisation nachdrücklich die Oberhand gewannen (die Biographien von Mike Cooper und Davey Williams sind ähnlichen Kurven gefolgt). Ab ´79 gab er Solokonzerte improvisierter Musik und leitete seine eigene Band, deren wechselnde Besetzungen Wolfgang Fuchs, Martin Theurer, Hans Schneider, Torsten Müller und "Pinguin" Moschner einschlossen, alle begabte Angehörige der "zweiten Generation" deutscher Free Music. Die Verbindung mit Wolfgang Fuchs ist besonders fruchtbar gewesen: der Saxophonist und der Gitarrist arbeiteten zusammen in der Gruppe Xpact, bevor sie 1984 das King Übü Örchestrü mitgründeten, ein Kollektiv, das neue und subtile Mittel entdeckte, um die Herausforderung großer Ensemble-Improvisation anzugehen. Als Solist ist Hirt vor allem ein elektrischer Gitarrist - wie es scheint, möchte er die durch seine Kabel summende Energie hörbar machen, und er hat keine Bedenken, die Geräusche von Pedalen oder das Ein- und Ausstöpseln von Klinkensteckern in seinen Sound mit hineinzuarbeiten.all das ist Teil des Prozesses.

Achim Knispel ist ein weiterer deutscher Gitarrist, der über die Rockmusik zum freien Spiel kam, das Lager aber bereits 1970 wechselte. Das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass er in Wuppertal Malerei studierte, ein Unternehmen, das auf mehrere Musiker eine radikale Auswirkung gehabt hat (Brötzmann war ein Dixieland-Spieler, bevor er sich an der Werkkunstschule einschrieb! Ein Musikologe sollte einmal die Wechselbeziehungen zwischen freier Musik und bildender Kunst in Deutschland untersuchen). Knispel ist, wie Hans Reichel, auch Instrumentenbauer (für den Eigenbedarf) gewesen, und es überrascht kaum, dass die zwei Gitarristen sich einklinkten - zuerst 1974 in einem Quartett und drei Jahre später dann als Duo, wo sie auf der Aufnahme Erdmännchen einander seltsame Geräusche zuwerfen. Ein Veteran mehrer Total Music Meetings, hat Knispel im Laufe der Jahre mit ausgesuchten Teilnehmern der diesjährigen Veranstaltung zusammengearbeitet; so spielte er Mitte der 80er z.B. ziemlich oft mit Lol Coxhill, und gelegentlich hat er auch mit Peter Brötzmann und mit Steve Beresford gearbeitet. Seine dauerhafteste musikalische Allianz war jedoch mit dem Trommler und Vibraphonisten Willi Kellers: Sie haben seit 1980 zusammen gespielt. Und über 20 Jahre hat Achim Knispel auch Solokonzerte gegeben.

Peter Brötzmanns deutsch-amerikanisch-japanisches Quartett ist - man mag darüber streiten - die beste Band, die er geleitet hat, und ihre Debüt-Aufnahme Die Like A Dog, untertitelt Fragments of Music, Life and Death of Albert Ayler, ist glänzend formuliert, ausgehend von Aylers und Brötzmanns gemeinsamer Liebe zum frühen Jazz (besonders zu Bechets breitem Vibrato) und sich durcharbeitend durch die Geschichte und Wandlung der Musik, wie sie in verschiedenen Kulturen erlebt wird. Die japanische Rolle in der Geschichte des Jazz ist vor allem eher eine der Synthese gewesen als größerer Innovation; in dieser Gruppe wirkt sich das zu Toshinori Kondos Gunsten aus. Während eines einzigen Solos vermag er sowohl Don Aylers rasendes Wiehern heraufzubeschwören als auch - mittels Wah-Wah-Pedal - die elektrischen Gitarren, die Ayler ebenfalls brauchte (z.B. Henry Vestine). (Auch Echos an Miles` unterschätztes Werk der 70er klingen hier an.) Brötzmanns Musik ist von Miesmachern oft als bleifüßig wahrgenommen worden, doch das ist nur dann so, wenn seine Partner seinen modus operandi nicht begreifen. Kondo, der schneller als der durchschnittliche Musiker denken kann und zudem einen exzellenten Sinn für Tonhöhe hat, kann die überraschendsten Explosionen Brötzmanns antizipieren und in sie einstimmen und in einer Weise mit ihm spielen, wie es über die Jahre nur wenige andere Hornspieler getan haben. Folglich singt die Musik in schöner Klarheit, großartig unterstützt durch das mächtige Bass- und Trommel-Gespann von William Parker und Hamid Drake. Parker, am besten bekannt vielleicht durch seine Arbeit mit Cecil Taylor, ist ein wesentlich rhythmischer Spieler. Er hat davon gesprochen, dass er seine tiefe Saite als Basstrommel höre und die hohe Saite als Becken, und die Interaktion mit Drake basiert oft auf reich detailliertem, sich überkreuzendem Wechselspiel, das die Bemühungen der Hornspieler verdichtend auflädt. Der Chicagoer Drake war trotz gediegener Aufnahmen mit der Mandingo Griot Society und mit Fred Anderson in Europa kaum bekannt, bis Don Cherry ihn mit der Multi-Kulti Band herausbrachte; bald wird man ihn als einen der wirklichen Meister spontaner Erfindung preisen. Kurz, dies ist eine Band von enormer Kraft und Reichweite.

Die September Band bewohnt ein anderes Universum als das von Brötzmanns progressivem und doch traditionsbewusstem Free Jazz. Rüdiger Carl mag einst, als er ein Tenorsaxophon bediente, ähnliche Gipfel erstürmt haben, doch seit er sich auf das Akkordeon verlegte, haben praktisch alle "Jazz-Bezüge" in seiner Musik sich aufgelöst. Die September Band spielt eine Art "Kunstmusik", und trotz aller bedeutenden Fähigkeiten der Instrumentalisten (und der Gitarrist Hans Reichel und Paul Lovens sind Innovatoren ersten Ranges) neigen die Spieler dazu - aus Ritterlichkeit und/oder Notwendigkeit - hinter die charismatische Präsenz der Sängerin Shelley Hirsch zurückzutreten. Eine beherrschende Gestalt auf der Bühne, überragt Hirsch die dichten Reihen improvisierende weiblicher Vokalisten - deren viele auf dem ergrauten Scat-Konzept des Imitierens von Instrumentalsoli herumreiten - durch ihre unheimliche Fähigkeit, ganze Songs aus der Luft zu holen, mit Text und allem. Sie singt in bekannten und unbekannten Sprachen, wobei sie während eines improvisierten Songs nicht selten sämtliche Personen eines ganzen Theaterstückes verkörpert. Manchmal hat man den gespenstischen Eindruck, Cathy Berberian und Judy Garland hätten sich in einem einzigen Körper reinkarniert, so schwankt ihre Performance zwischen Kabarett und Hochmoderne. Bei so einer exotischen Frontfrau haben Carl, Reichel und Lovens kaum eine andere Wahl, als den Szenarien, die sie enthüllt, zu folgen und sie zu illustrieren, indem sie ihre eigenen Eigenheiten in verdünnten Dosen hinzugeben. Aber auch ein gedämpfter Lovens oder Reichel ist mehr als interessant. Die September Band liefert jedenfalls einen Kontext für subtiles Spiel, ein guter Ort für Reichel, um vermittels des neo-operativen Potentials seines selbstgemachten Daxophons "background vocals" zu liefern; und für Lovens, um seiner singenden Säge Geisterstimmen zu entlocken.

Englands Melody Four ist ein Trio. Zunächst war das keine Überraschung für diejenigen, die ein wenig vertraut waren mit dem Leistungsstand von Lol Coxhill und Steve Beresford, deren kaputter Sinn für Humor viele Jahre lang das Publikum bezaubert, aber auch gefoppt und abgestoßen hat. Bei den Melody Four spielt Coxhill Sopransax, Tony Coe spielt Tenorsax und Klarinette, und Beresford spielt (meistens) Klavier. Alle drei singen auch. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass die Teilnehmer sich jemals groß mit Konzipierung ihrs gemeinsamen Bemühens beschäftigt oder Manifeste verfasst haben, gehen die Melody Four systematisch daran, alle Erwartungen zu enttäuschen. Ihr Repertoire umfasst Huldigungen an die Marx Brothers, einen bodenlosen Sack kläglicher Fernsehthemen und feiert das Triviale und macht in den besten Momenten Kunst aus Müll.oder fordert uns zumindest auf, Musik, die "lediglich" zur Unterhaltung geschrieben wurde, neu zu bewerten. Kunst beiseite, die Idee, ein Free Jazz-Publikum mit Musik aus The Munsters zu nudeln, hat etwas schuljungenhaft Reizvolles. Für Tony Coe, einen Virtuosen, müssen die Melody Four vorkommen wie Urlaub von der Tristesse und brauen gerunzelten Ernsthaftigkeit seiner Arbeit mit Franz Koglmann. Lol Coxhill ist einer der größten Soprano-Spieler der Welt - siehe die soeben erschienene CD Three Blokes mit Evan Parker und Steve Lacy, wo er überzeugend mit Ebenbürtigen zusammenwirkt - , aber seine streitlustige Natur erlaubt ihm selten, allzu lange in einer "ernsten" Tonart zu bleiben. Beresford hat immer behauptet, ein zweitklassiger Musiker zu sein (Misha Mengelberg jedenfalls bestreitet das: "Steves Arbeit hat was Geniales"), aber er hat bewiesen, dass er seit über zwei Jahrzehnten eine herausfordernde katalysatorische Persönlichkeit ist, und ein etwaiger Mangel an instrumentaler Kühnheit hat ihn nicht daran gehindert, sich auf einem sehr weiten Feld von Aktivitäten zu tummeln. Zum Beispiel: Produktion der Alben des Dedication Orchestra, Teilnahme an der Realisierung von Butch Morris´ "Conductions", Schreiben von Arrangements für John Stevens´ Band.

Die Sängerin Sainkho Namtchylak ist noch nicht allzu lange für die improvisierte Sache bekehrt. Sie ist 1957 in Tuva geboren, ehemals die tuvinische autonome sowjetische sozialistische Republik (etwa 300 000 Seelen) unweit der mongolischen Grenze. Ihre Großeltern waren Steppennomaden. Die tuvinische Religion, in der sie erzogen wurde, verbindet Schamanismus und Züge des Tibetischen Buddhismus. Wir haben uns ziemlich an Musiker gewöhnt - meistens in Städten aufgewachsene amerikanische Musiker -, die munter über Schamanismus und Geistbessenheit und "Erdverbundenheit" daherschwatzen, aber diese Dinge gehören zu Namtchylaks Familiengeschichte. Seit 1986 singt sie in der Öffentlichkeit, und seit 1988 beschäftigt sie sich mit improvisierter Musik, aber noch immer betrachtet sie sich primär als eine Volkssängerin, die in freier Musik arbeitet. Die freien Musiker waren sofort hingerissen von Namtchylaks außerordentlichen stimmlichen Fähigkeiten - Peter Kowald sollte ihre erste FMP-Aufnahme produzieren - und besonders von ihrer magischen Adaption des traditionellen Obertongesanges und ihrer Beachtung von Timbre, Textur und Ornament. Die Handhabung der Obertöne ist ein zentrales Anliegen des neuen Jazz und der freien Musik gewesen (vgl. Evan Parker, Albert Mangelsdorff, Phil Wachsmann, Barry Guy - um nur einige zu nennen); und dies allein schon würde es lohnen, Namtchylaks Musik konzentriert zu studieren. Sie hat jedoch mehr zu bieten und kann ihre eigenen Visionen in die freie Welt integrieren: siehe z.B. When The Sun ist Out You Don`t See The Stars, ihre höchst spannende, mit bloßen Nerven aufgenommene Zusammenarbeit mit Kowald, Butch Morris und Werner Lüdi. Beim Total Music Meeting tritt Namtchylak jedoch mit Biosintes auf, einem tuvinischen Trio, das in Deutschland zum ersten Mal zu hören ist. Offenbar - ich beziehe mich auf eine Pressemitteilung - begann die Gruppe 1991 ein vom Jazz-Rock beeinflusstes Ensemble, bevor sie, nach vielen Besetzungsänderungen, zu ihrer jetzigen Formation und zu einem Stil fand, der versucht, den traditionellen sibirischen Obertongesang mit Elementen zeitgenössischer europäischer Improvisation zu versöhnen.

Zum Abschluss der diesjährigen 5-Tage-Veranstaltung gibt es das Zentralquartett, ein Quartett alter Gefährten aus der ehemaligen DDR. Ernst-Ludwig Petrowsky, Conrad Bauer, Ulrich Gumpert, Günter "Baby" Sommer . sie scheinen heute fast wie Namen für Haushaltsartikel. Unser Wissen von ihren Fähigkeiten verdanken wir weitgehend der FMP und deren umherziehenden Musikern. Ab 1972 machte eine Welle freier Spieler, darunter Peter Brötzmann, Peter Kowald, Alex Schlippenbach, Paul Rutherford, Detlef Schönenberg und Paul Lovens ihre ersten musikalischen Raubzüge hinter die Berliner Mauer, Günter Sommer hat diese Begegnung mit westdeutschen Zeitgenossen anerkannt, und besonders die Trommler bestätigten seine Meinung, dass es nicht mehr genüge, Herangehensweisen der Amerikaner an die Musik zu adaptieren und zu kopieren. Die frühen 70er waren Jahre beschleunigter Innovation im DDR-Jazz. Die Westler ihrerseits waren überrascht von der Kraft der besten der ostdeutschen Spieler, deren Musik unter dem Zwang extremer kultureller Isolation hatte aufwachsen müssen: Man war innerhalb und außerhalb des Landes allgemein der Meinung, dass eine Band namens Synopsis von allen die heißeste sei. Die Besetzung? Genau die des Zentralquartetts. Nach viel bürokratischem Hin und Her konnte die FMP deren Album Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil in Lizenz für den Westen übernehmen. Danach war es möglich, regelmäßig Kollegen aus Leipzig und Dresden und Weimar in Westberlin zu präsentieren - und umgekehrt. Es ist heute nicht ungewöhnlich, dass europäische freie Musiker mit verträumtem Blick vom Goldenen Zeitalter des ostdeutschen Jazz sprechen (obwohl die involvierten Musiker das nicht ganz so sehen können.) Synopsis war 1973 beim Warschauer Jazz Jamboree eine Sensation, aber die Originalbesetzung und die Konzeption überlebte nur bis ´75 , als Conny Bauer (jetzt als der herausragende improvisierende Posaunist angesehen) die Gruppe verließ. Davor und seither haben die vier Individuen in vielen Kontexten miteinander gespielt - Gumpert und Sommer im Duo und im Peter Brötzmann-Trio; Petrowsky, Bauer und Sommer im Hans Rempel-Oktett. Alle vier in Gumperts Workshop Band. Anfang der 90er, wiedervereint als Zentralquartett, haben sie eine Menge gemeinsamer Geschichte - schmerzlicher und triumphierende -, von der sie zehren können. Und wie sie gern betonen, dies ist kein "Revival": es ist eine Fortsetzung.

Übersetzung: Wulf Teichmann

aus: Faltblatt TMM 1994

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