1992 TMM / "Podewil"

Steve Lake (1992)

Dies ist, man höre und staune, das 25. Total Music Meeting in Berlin. Zum ersten Mal fand dieses Ereignis im November 1968 statt, damals noch im Quasimodo. Man ist fast versucht zu glauben, die freie Musik wäre das einzige, was sich in der Zwischenzeit nicht geändert hat. Jazz ist mindesteins ein Dutzend Mal zu Grabe getragen worden und dann doch wiederauferstanden. Im Rock haben sich - mit Psychedelic, "Progressive", Punk - ganze Epochen abgelöst. Die sogenannte klassische Musik hat Aleatorik, Minimalismus und neue Tonalität hinter sich gebracht und wirft derzeit einen sehnsüchtigen Blick auf das Mittelalter. Die Mauer ist gefallen und, Stück für Stück, in Touristenbesitz übergegangen. Und Brötzmann röhrt immer noch beim Total Music Meeting. So gesehen erhält der Begriff "Stehvermögen" (von Dickschädeligkeit mal ganz zu schweigen) neue Dimensionen. In Wahrheit hat es natürlich auch in der europäischen Improvisation vielerlei Veränderungen eben, und wenn das TMM diesmal vier der verlässlichsten Vertreter dieser Musik präsentiert, so werden dabei zwangsläufig zumindest einige davon hörbar. Doch bei einem Jubiläum erinnert man sich auch der Anfänge, und das 25. Total Music Meeting macht darin keine Ausnahme. Bevor Jost Gebers zum nicht ganz freiwilligen Svengali dieser Szene wurde (irgend jemand muss schließlich die Verantwortung für Programm, Organisation und Dokumentation übernehmen), stellten die Musiker ihren eigenen Schlachtplan auf und entschieden selbständig, mit wem sie spielen wollten. So ist es auch 1992: Peter Brötzmann, Misha Mengelberg, Paul Lovens und Evan Parker haben Carte blanche für die Gestaltung jeweils eines Abends erhalten. Langjährige Besucher des Total Music Meeting wissen natürlich, mit wem sie es zu tun haben, aber die früheren Begegnungen in Berlin haben nur begrenzt Einblick in die konzeptionellen Möglichkeiten der vier Hauptakteure gegeben.

Zur Mannschaft um Peter Brötzmann gehört diesmal der Chicagoer Ausnahmeschlagzeuger und -percoussionist Hamid Drake, der zuletzt mit Don Cherrys Multi-Kulti in Berlin zu Gast war. Gespielt und/oder aufgenommen hat Drake außerdem mit Fred Anderson, Foday Musa Suso, Michael Zerang und Jim Pepper, um nur einige Namen zu nennen. Schlagzeug-Kollege Frank Samba kommt aus Brötzmanns Ecke des Ruhrgebiets und ist bereits des öfteren mit ihm auf Reisen gewesen, unter anderem bei einer Westafrika-Tour in diesem Jahr. Er ist Schüler von Shannon Jackson und hat mit Jamaaladeen Tacuma, Linda Sharrock und Wolfgang Puschnig gespielt. Peter Oliver Jørgens, auch er Schlagzeuger, gehört, ebenso wie E-Bassist Peter Friis Nielsen, seit langem zu Brötzmanns Spezialeinheit für Guerilla-Überfälle auf Skandinavien, an denen bisweilen auch Pierre Dørge teilnimmt. Dørge, vor allem bekannt als Gitarrist und Taktstock-Verantwortlicher des New Jungle Orchestra war Gründungsmitglied von John Tchicais Candetia Nova Danica und studierte bei Ornette Colemann; seine Aufnahmen mit Walt Dickerson und einer Reihe kleinerer Gruppen sind zum größten Teil auf SteepleChase erschienen. Nielsen hat in einer Vielzahl dänischer Formationen mit solch extravaganten Namen wie Coronarais Dans, Cyklamium und Avantis gespielt. Die Karriere des britischen Sopran-/Tenorsaxophonisten Larry Stabbins nahm in den 80er Jahren eine unverhoffte Wendung, als er mit der Soul/Funk/Jazz-Band Working Week die Pop-Hitparaden stürmte. mittlerweile können ihn die Free-Jazz-Fans wieder in die Arme schließen: 1990/91 war er Dreh- und Angelpunkt in Brötzmanns März Combo. Für den Gitarristen Caspar Brötzmann, bis dahin gewohnt, in seiner lautstarken Düsterrock-Band Massaker nach Belieben schalten und walten zu können, erwies sich dieses Ensemble, im dem die Schwergewichtler das Tempo angaben, als improvisatorische Feuertaufe. Komplettiert wird die Brötzmannsche Truppe durch den Bassisten Dieter Manderscheid, dessen spielerische Bandbreite immer wieder beeindruckt. Von der spannungsgeladenen Ruhe in seinem Duo mit Thomas Heberer, das Jerry Roll Mortons Stücke zu intellektuell anspruchsvoller Kammermusik transformiert, bis zu ungezügeltem freiem Spiel - Manderscheid scheint sich in allen Jazz-Idiomen zu Hause zu fühlen.

Bring, wen du willst, hieß die Devise. Also brachte Misha Mengelberg seine Band. Das wird nur denen phantasielos erscheinen, die das Instant Composers Pool Orchestra nicht kennen, das derzeit zwar auf Oktett-Format geschrumpft ist, dank Mishas kundiger Führung aber um einiges gewichtiger klingt. Auftritte neueren Datums (unter anderem bei den Festivals in Zürich und Moers) wurden von der Presse mit ekstatischem Beifall bedacht, wobei man sich gern des Schlagworts "postmodern" bediente. Kenner wissen jedoch, dass Mengelberg schon "postmodern" war, als "Modern Jazz" sich gerade anschickte, in das Fachvokabular aufgenommen zu werden. Wenn man, wie Misha, seine Laufbahn im Spannungsfeld zwischen Fluxus und Monk beginnt, kann man nicht anders. als die Welt durch den Zerrspiegel koboldhafter Ironie zu sehen. Die Konservatoriums geschulte Violinistin Maartje ten Hoorn (außerdem eine begabte Komponistin) und der nach Europa emigrierte amerikanische Klarinettist/Altsaxophonist Michel Moore kamen aus Maarten Altenas Ensemble zu Misha, während Posaunist Wolter Wierbos, der unter anderem an dem preisgekrönten Projekt Cecil Taylor in Berlin `88 beteiligt war, weiterhin zwischen den beiden Gruppen pendelt. Ab Baars ist einer der interessantesten und vielseitigsten Saxophonisten, die Holland zu bieten hat, was er, außer in seinen eigenen Trios, auch in er Primal-Rock-Band The Ex beweist. Bassist Ernst Glerum ist unter anderem auf Aufnahmen mit dem amerikanischen Pianisten Curtis Clark, dem Südafrikaner Sean Bergin und Willem Breuker zu hören. Ernst Reijseger hat sich, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Georg Gräwe, Gerry Hemingway, Pino Minafra und anderen, als Europas führender improvisierender Cellist etabliert. Han Bennink schließlich braucht man FMP-Anhängern ganz sicher nicht mehr vorstellen. Er ist seit 30 Jahren bei fast allen Mengelberg-Unternehmungen dabei.

Paul Lovens gehört mit seinen "selected drums and cymbals" (plus singender Säge) schon längst zum festen Inventar des Total Music Meeting und des Workshop Freie Musik, hat aber bisher bei beiden Ereignissen merkwürdigerweise noch nie ein eigenes Ensemble geleitet. In den meisten Fällen kam seine energische Basisarbeit Alex Schlippenbachs großen und kleinen Kollektiven zugute. Dieses Mal hören wir ihn in drei anderen altbewährten Gruppierungen: mit Paul Lytton (Schlagzeug, Live-Elektronik), mit dem Pianisten Urs Voerkel und mit dem Quintet Moderne, das hier von vier Fünfteln seiner internationalen Besetzung vertreten wird. Voerkel und Lovens spielten Anfang der Siebziger mit dem Bassisten Peter Frey in einem interessanten Trio zusammen - ein wenig "straighter" als heute gemeinhin üblich - und fanden 1988 als Duo wieder zusammen. Das Duo Lytton/Lovens wurde 1976 ins Leben gerufen, und im Laufe von 16 Jahren haben die beiden Protagonisten ein gegenseitiges musikalisches Verständnis entwickelt, das sich in dem Albumtitel Was It Me? besonders schön ausdrückt. Teppo Hauta-Aho, Improvisateur und renommierter Komponist, ist einer der erfahrensten finnischen Bassisten und hat unter anderem längere Zeit mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra und der Finnish National Opera gespielt. Im Duo mit dem Pianisten Eerjo Ojanen erforscht Hauta-aho die Jazzgeschichte vom Blues bis heute. Harri Sjöström, ein weiterer Finne (derzeit in Berlin lebend) ist das bisher am wenigsten bekannte Mitglied des Quintet Moderne. Auf dem Album Ikunan Takana (Bead) beeindruckt er durch feinfühliges Saxophon-Spiel - und als free improvisor mit der Mondharmonika, die in diesem Kontext sicherlich noch nicht allzu oft eingesetzt worden ist. Der Violinist und Elektronik-Künstler Phil Wachsmann wurde in Uganda geboren und studierte in Paris bei Nadia Boulanger. Wachsmanns Beiträge in Barry Guys London Jazz Composers Orchestra sind wohl, im Vergleich mit denen der anderen Mitglieder dieses wunderbaren Ensembles, am weitesten vom "Jazz" entfernt; er zählt Berio und Webern zu seinen wichtigsten Einflüssen.

Evan Parker lässt sich in unseren Breitengraden am häufigsten allein oder im Trio mit Barry Guy und Paul Lytton sehen. Für ihn hat die Ensemblearbeit mehr Bedeutung als für die meisten freien Improvisateure, und die Jazzgeschichte (Parker sieht sich selbst immer noch als Teil der Jazztradition) gibt ihm recht - schon immer resultierte ein Großteil der bahn brechenden Leistungen in diesem Bereich nicht aus Ad-hoc-Experimenten, sondern aus dauerhaften kollektiven Anstrengungen. An Evans Abend kommt es also vor allem zur Auffrischung alter Bekanntschaften, obwohl bei der Konfrontation mit den Elektronikern in seinem Aufgebot wohl auch das eine oder andere Mal auf eine unbekannte Karte gesetzt wird. Parker, Barry Guy, Paul Lytton und Paul Rutherford definierten in den sechziger Jahren Vokabular und Syntax der britischen Improvisation und sind bis heute ihre herausragendsten Vertreter geblieben. Schlagzeuger Mark Sanders und Bassist Paul Rogers zählen zweifellos zu den bemerkenswertesten Stimmen, die Großbritannien seit der Blütezeit des Little Theatre Club hervorgebracht hat. Die beiden haben eine ganze Reihe von Ensembles angetrieben - darunter das Elton Dean-Howard Riley Quartet und das Jon Lloyd Quartet - und oft zusammen mit Parker gespielt. 1990 verwirrte Evan Parker einige seiner technisch eher asketisch eingestellten Zeitgenossen mit dem Album Hall Of Fame, auf dem sich sein unverwechselbares Sopransaxophon einer Behandlung durch den Mailänder Elektronik-Komponisten Walter Prati unterzog. Dessen Echtzeit-Bearbeitung (vermittels etlicher Synthesizer) von Parkers Horn-Improvisationen zeitigte Ergebnisse von beunruhigender Schönheit. Co-Produzent bei dieser Session war Mario "Bill" Vecchi, ein weiterer Mailänder Elektronik-Experimentator, der sich offene, unvoreingenommene Zusammenarbeit mit "modernen Komponisten, Musikern und Rappern" aufs Panier geschrieben hat. (in Berlin fehlen nur die Rapper.) Mit nicht weniger als vier Elektronikern - Lytton, Wachsmann, Prati und Vecchi - können wir, was die Erforschung neuer Klangfarben und -strukturen betrifft, also einiges erwarten.

Übersetzung: Caroline Mähl

aus: Faltblatt TMM 1992

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