1991 TMM / "Haus der jungen

Talente"

Steve Lake (1991)

Eine der Aufgaben der Improvisation liegt darin, die eigenen Traditionen in regelmäßigen Abständen über den Haufen zu werfen. Das Total Music Meeting weicht daher in diesem Jahr von dem für Jazzclubs üblichen Drei-Sets-pro-Abend-Format ab und präsentiert freie Musik als rasch dahinfließenden, ununterbrochenen Strom, dargeboten von neun Akteuren: Evan Parker, Peter Brötzmann und Charles Gayle (Saxophon), Fred Hopkins, William Parker und Peter Kowald (Baß) sowie Rashied Ali, Andrew Cyrille und Tony Oxley (Schlagzeug) entscheiden selbst über den Ablauf jedes Abends und werden dabei alle denkbaren Kombinationen ihres gemeinsamen Instrumentariums erforschen - vom Solo, Duo und Trio bis zur neunköpfigen Gruppenimprovisation. Veranstalter FMP hat nur eine einzige Spielregel aufgestellt: 30 Minuten sind das Limit, was bedeutet, dass die instrumentalen Karten alle halbe Stunde neu zu mischen sind; die Unterbrechungen werden dabei gerade so lange dauern wie man braucht, um ein Mikrofon zu verschieben. Dieses Konzept ist weder Werbegag noch billige Effekthascherei, sondern soll für musikalische Abwechslung und konzentrierteres Zusammenspiel sorgen und langatmiges Herumprobieren nach dem Motto "Wer suchet wird finden", das bei dieser Form des Musikmachens immer noch viel zu häufig ist, so weit wie möglich vermeiden. Abschweifen ist hier nicht möglich: unter dem Regiment der Uhr sind die Spieler gezwungen, rasch zur Sache zu kommen.

Die Vorstellung gerade dieser Gruppe von Musikern ist ein weiterer Schritt in den Bemühungen FMPs, eine Kluft zu schließen, die bis zum allseits gepriesenen Taylor-Festival 1988 die führenden Vertreter des amerikanischen Free Jazz von ihren frei improvisierenden europäischen Pendants trennte. Dieses Ereignis war zwar durchaus nicht das erste Beispiel für euro-amerikanische Kooperation, aber sein musikalischer Erfolg bestätigte endgültig, dass die Ziele beider Lager, wenn schon nicht identisch, so doch zumindest ähnlich genug sind, um die Zusammenarbeit äußerst produktiv zu gestalten. Man nehme nur Charles Gayle, der einmal gesagt hat, "Wenn ich spiele, möchte ich Wände niederreißen, mir die Seele aus dem Leib blasen" und damit aus alten Tagebüchern Peter Brötzmanns zitiert haben könnte. Aus der Sicht eines europäischen Zuhörers steht Gayles spielerisches Credo - totale Spontaneität, keine Zuflucht bei thematischem Material - dem der hiesigen Musiker, für die FMP all die Jahre eingetreten ist, wahrscheinlich näher als der Methodik der horn spielenden "Oktoberrevolutionäre". Er klingt "freier" als der "freie" Jazz, und ist damit gerade heute eine Größe, mit der man rechnen muss. Gayle hat bereits in einem der größeren Brötzmann-Ensembles (zusammen mit William Parker) in New York in einem von Peter Kowalds Quartetten gespielt. Die Ergebnisse sind in Ebba Jahns Film Rising Tones Cross dokumentiert, und seine Alben auf Silkheart (Homeless, Always Born, Spirits Before) wurden von New Yorker Kritikern mit Superlativen bedacht.

Das Image des "power players" ist für Peter Brötzmann in letzter Zeit eher zur Last geworden. Obwohl die kolossale Kraft seines Spiels nun einmal Tatsache ist und man ihn beim besten Willen nicht als feinnervigen Musiker bezeichnen kann, macht sich in seiner Arbeit verstärkt ein reflektiver Zug bemerkbar, nicht zuletzt deswegen, weil Brötzmann seinen gewaltigen Sound in immer unterschiedlicherem Kontext unterbringt. Im Grunde seines Herzens ein Traditionalist (Bechet ist für ihn ein ebenso wichtiges Leitbild wie Ayler), braucht Brötzmann das Schlagzeug - und den Rhythmus - um zu wirklich elektrisierendem Spiel zu finden, und die Drummer des diesjährigen Total Music Meetings wären sicherlich auf seiner persönlichen Bestenliste vertreten. Er hat mit allen von ihnen bereits auf der Bühne gestanden.

Evan Parker, Europas innovativster (und, in der freien Szene, am meisten imitierter) Saxophonist, hat eine ganze Reihe neuer Technikern für sein Instrument entwickelt, vor allem im Hinblick auf die besonderen Herausforderungen des Solo-Spiels. Im Rahmen einer Gruppe kann er zuhören und reagieren; er ist nie ein selbst bezogener Dampfwalzen-Spieler gewesen, obwohl frühe Aufnahmen wie Machine Gun (und die neuesten Konfrontationen mit Cecil Taylor) beweisen, dass er sich auch neben den Schwergewichten behaupten kann. Während Brötzmann und Gayle zur Beschreibung ihres Sounds grelle Metaphern heranziehen, verbreitet Parkers Horn keine Wut und predigt auch keine Revolution (oder zumindest nur sehr indirekt). Für ihn ist Improvisation im Idealfall ein reines Zusammenspiel akustischer Energien, bei dem das Saxophon zu einem "Instrument der Transzendenz" wird und Parker "mit jeder Note spazieren geht" - oder drauflos galoppiert.

Wie sein gleichfalls in Wuppertal beheimateter Kollege Brötzmann braucht Peter Kowald einem Berliner Publikum kaum mehr vorgestellt werden. Er ist seit einem Vierteljahrhundert Dreh- und Angelpunkt zahlreicher kleiner und großer Ensembles und gehört mittlerweile zum Inventar des Total Music Meeting. Kowald hat durch seine Solo-Auftritte und eine Reihe beeindruckender Duette mit Barre Phillips, Barry Guy und anderen dazu beigetragen, das Vokabular des Baß zu erweitern. Vor langer Zeit war Kowald einmal Übersetzer, und in gewisser Weise ist er es noch immer: in seiner Rolle als Vermittler bei der Kommunikation musikalischer Ideen hat er viele sehr unterschiedliche Künstler zusammengebracht (extremstes Beispiel ist wahrscheinlich seine Komposition "Local Fair" für das Globe Unity Orchestra). Die Interaktion zwischen Kowald und William Parker, sowohl im European Orchestra als auch bei Workshop-Sessions, war eines der Glanzlichter des Taylor-Festivals.

Cecil Taylor hat William Parker einmal als einen der am meisten unterschätzten Bassisten bezeichnet - was stimmen mag, wenn man die Anerkennung der Kritiker als Maßstab nimmt. Musiker dagegen kennen seine Qualitäten. Parker, mit 39 Jahren jüngster Spieler dieses Festivals, arbeitet seit 1985 intensiv mit Taylor zusammen und hat öffentlich und im Studio mit Frank Lowe, Billy Bang, Jemeel Moondoc, Jason Hwang und anderen gespielt. Das William and Patsy Parker Ensemble, das experimentelle Musik und experimentellen Tanz verbindet, ist ebenfalls in dem bereits erwähnten Film von Ebba Jahn zu sehen.

Fred Hopkins ist seit 20 Jahren einer der wichtigsten Protagonisten der neuen schwarzen Musik und hat der Arbeit von Muhal Richard Abrams, Hamiett Bluiett, Charles Brackeen, David Murray, Don Pullen, Oliver Lake und Henry Threadgill entscheidende Impulse gegeben. In Threadgills immer noch schmerzlich vermisstem Trio Air, einer der am höchsten geschätzten Formationen, die nach Gründung des Art Ensembles aus den Reihen des AACM hervorgegangen sind, konnte sich Hopkins` Virtuosität erstmals in seiner ganzen Bandbreite entfalten. Von Scott Joplin über schwärzesten Blues bis hin zu röhrender freier Improvisation - bei Air bewegte sich Hopkins mit gleich bleibender Sicherheit durch sämtliche musikalischen Stile.

Rashied Ali spielte mit Bill Dixon, Sun Ra und Paul Bley, bevor er 1965 zu John Coltranes Band kam und mit seinem vielschichtigen Trommeln wirklich raumöffnend war für die Musik des großen Saxophonisten. (Diese Zeit ist glücklicherweise gut auf Platten dokumentiert, einschließlich solcher Klassiker wie Live At The Village Vanguard Again und dem letzten sax/drums-Duo-Album Interstellar Space.) Nach Coltranes Tod hat Ali mangels Arbeitsgelegenheiten sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen müssen, und zwar mit seinem Plattenlabel Survival und seinem New Yorker Club Ali`s Alley, der Mitte der 70er Jahre der Treffpunkt der heranwachsenden Talente der sogenannten Loft Scene war. Nachdem er den Trommeln in den 60er Jahren neue Möglichkeiten eröffnet hatte, arbeitete er in den 80ern ohne Krafteinbuße in allen Idiomen. So gehörte er etwa zu einer sehr lebendigen (und leider nicht aufgenommenen) Jamming Band namens There Goes The Neighbourhood mit dem Blues-Mundharmonika-Mann Sugar Blue und dem Hot Tuna-Gitarristen Jorma Kaukonen. Er hat mit Kowald und Brötzmann in New York gespielt und ist mit Phalanx aufgetreten, einer "All-Star"-Gruppierung mit Blood Ulmer, George Adams und Sirone. Noch immer ist er eine wesentliche - und wesentlich originelle - Kraft in der Musik.

Andrew Cyrilles bedeutendster Beitrag zum modernen Schlagzeug-Spiel ist die Verbindung aus geschmeidigem, tanzendem Swing und einem sensiblen Gefühl für Timbre und Ton, die häufig dazu führt, dass er die Trommeln wie ein Melodie-Instrument spielt. Vor Beginn seiner zwölfjährigen Kooperation mit Cecil Taylor hatte sich Cyrille quer durch die Jazz-Tradition gearbeitet, mit Freddie Hubbard und Coleman Hawkins gespielt und Jam Sessions mit Monk und Bud Powell absolviert. Seit 1976 leitet er eigene Bands, arbeitet aber weiterhin regelmäßig mit Freunden wie Muhal Richard Abrams und Walt Dickerson zusammen. 1982 kam es zu einem (in musikalischer Hinsicht) frontalen Zusammentreffen zwischen Cyrille und Brötzmann in Berlin; das resultierende Album ist bereits ein Klassiker.

In den sechziger Jahren wurde Tony Oxley, der damals Hausmusiker in Ronnie Scotts Club war und nahezu alle führenden amerikanischen Solisten begleitete, von vielen als der kommende Schlagzeuger des Modern Jazz angesehen. Wenn er heute "straight" spielt, kann er als wahrscheinlich einziger europäischer Drummer im Vergleich mit DeJohnette, Erskine usw., bestehen. Oxley entschied sich jedoch für die weniger erfolg versprechende Laufbahn eines Neuerers der freien Musik und damit für eine Richtung, in die er sich bereits seit 1963 bewegte. Anfang der Siebziger hatte er sein Kit vollständig umgekrempelt: die Snare, für die meisten Schlagzeuger Herzstück des Sets, wurde an den Nagel gehängt und durch metallenes Instrumentarium (darunter eine riesige Kuhglocke), ständerweise Holzblöcke und elektrisch verstärkte Percussion ersetzt. Die Musik auf seinen frühen Alben wie The Baptised Traveller nahm vieles von dem voraus, was Anthony Braxton später realisierte - eine Tatsache, der durch gemeinsame Projekte in jüngster Zeit möglicherweise Rechnung gezollt wurde. Seit dem FMP-Festival von 1988 ist Oxley auch Taylors bevorzugter Schlagzeuger.

Übersetzung: Caroline Mähl/Wulf Teichmann

aus: Faltblatt der Free Music Production (FMP) 1991

zurück