1989 TMM / "Quartier Latin"

Bert Noglik (1989)

Kontinuität und Konsequenz

20 Jahre Free Music Production

Über zwei Jahrzehnte hat die FMP improvisierte Musik präsentiert und dokumentiert, die Paradoxien dieses Prozesses in praktischer Bewegung aufgelöst: Organisation des nicht Planbaren, Festhalten des seinem Wesen nach Flüchtigen. Zwei Jahrzehnte beharrlicher Arbeit lassen sich nicht mehr als Episode abtun. Was in Europa an improvisierter Musik gespielt und entwickelt wurde, kommt einer musikalischen Bewegung gleich, die eigene Traditionen herausbildet und deren Dynamik auf Fortbestand und Veränderung hindeutet. Die FMP hat diesen Prozess begleitet und gefördert. Es sind musikalische Zeichen gesetzt und Beispiele vorgeführt worden. Die Kräfte konzentriert einsetzend gelang es der FMP, ein Profil auszuprägen, das sich kaum stilistisch festmachen, wohl aber als Anspruch an die Musizierhaltung formulieren lässt.

Ziele und Richtung der FMP entsprangen dem musikalischen Umbruch in den sechziger Jahren. Das Streben nach einer europäischen Identität improvisierender Musiker ließ bald auch den Wunsch manifest werden, sich zusammenzuschließen, Konzerte selbst zu organisieren und Schallplatten auf musikereigenen Labels zu produzieren. Das erste Total Music Meeting, das im November 1968 parallel zu den Berliner Jazztagen stattfand, war eine von den Musikern selbst konzipierte und organisierte Veranstaltung. Bereits damals wurde im Ansatz eine Internationale der europäischen Improvisationsmusiker entworfen. Peter Brötzmann beispielsweise spielte in einer Gruppe mit Evan Parker, Paul Rutherford, Fred Van Hove und Han Bennink. Eine musikalische Bewegung hatte sich ihr eigenes Podium geschaffen; und das Total Music Meeting zählt seither ebenso wie der im Frühjahr 1969 erstmals veranstaltete Workshop Freie Musik zu den alljährlich wiederkehrenden Ereignissen im Berliner Kulturkalender. Auch wenn das Total Music Meeting längst nicht mehr das Vorzeichen einer Gegen-Veranstaltung trägt, so will es doch bewusst mit Musik bekannt machen, die im Breitspektrum großer Festivals eher einen Randbereich darstellt. Die FMP hat die 1968/69 begründeten Konzertreihen kontinuierlich weitergeführt und durch andere Veranstaltungsaktivitäten ergänzt. Als die Free Music Production im September 1969 gegründet wurde, stimmten die beteiligten Musiker überein: Kein Verein, keine Gesellschaft oder Firma sollte es sein, sondern eine Kooperative. Der kollektive Anspruch kollidierte hin und wieder mit den auseinanderstrebenden Interessen der beteiligten Musiker. Die vorantreibenden Kräfte der FMP waren von Anfang an und über einen langen Zeitraum Peter Brötzmann und Jost Gebers. Auch nachdem die Struktur verändert und Jost Gebers eigenverantwortlicher Träger der FMP wurde, blieb das Grundprinzip erhalten, die beteiligten Musiker in die Vorbereitung und Realisierung der jeweiligen Projekte unmittelbar einzubeziehen.

Einerseits tritt die FMP als Veranstalter von Konzerten, Workshops und Veranstaltungsreihen in Erscheinung, andererseits als ein diese Aktivitäten dokumentierender Plattenproduzent. Die Live-Präsentation erscheint als Voraussetzung für die Dokumentation und die Produktion als Nachhall wie auch als Stimulans neuer Begegnungen mit improvisierter Musik. Als erste mit dem Zeichen der FMP versehene Schallplatte erschien das 1969 aufgenommene Album "European Echoes" mit dem Manfred Schoof Orchestra. Über zwanzig Jahre hinweg lassen sich in der Arbeit der FMP drei Hauptebenen erkennen. Es ging und geht darum, die Musiker und die Musikerin der "ersten Stunde" vorzustellen bzw. zu dokumentieren, also den Kreis um Peter Brötzmann, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Irène Schweizer, dann auch Rüdiger Carl, Hans Reichel…Überdies war die FMP immer auch darauf bedacht, jüngere Musiker zu Wort kommen zu lassen. Auf einer dritten Ebene schließlich präsentiert die FMP Musiker und Gruppen aus dem internationalen Umfeld - das kann einmal Steve Lacy sein, ein anderes Mal Marilyn Crispell oder auch Cecil Taylor, um hier nur drei Beispiele zu nennen. Schließlich sei noch auf eine weitere Besonderheit langjähriger Aktivitäten der FMP hingewiesen: die bereits Anfang der siebziger Jahre angebahnte Verbindung zu improvisierenden Musikern in der DDR. Die FMP hat eine bestimmte Phase der Jazzentwicklung in der DDR maßgeblich beeinflusst, durch Lizenzkauf von Bändern, später auch durch eigene Produktionen auf Schallplatten dokumentiert. Von 1978 an gelang es der FMP, Musiker wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Conrad Bauer, Ulrich Gumpert und Günter Sommer wiederholt auf westlichen Bühnen zu präsentieren.

Die von der FMP im Juni und Juli vergangenen Jahres veranstalteten Konzerte und Workshops mit Cecil Taylor verdeutlichen eine neue Dimension der FMP-Aktivitäten. Es gelang, das Schaffen von Cecil Taylor über einen längeren Zeitraum erlebbar zu machen und gemeinsame Arbeitsprozesse mit europäischen Improvisatoren zu initiieren. Von Anfang an war das Bestreben der FMP darauf gerichtet, Musiker vom Druck des Ablieferns zu befreien und durch Mehrfachauftritte die Entwicklung von Musik für die Zuhörer nachvollziehbar zu gestalten. Im Zusammenwirken Cecil Taylors mit europäischen Musikern kam es zur Verflechtung unterschiedlicher Traditionslinien, entstand eine neue Musik mit eigenen Energien und Empfindsamkeiten. Waren die "European Echoes" von 1969 auch als eine Antwort auf die Herausforderungen des amerikanischen Free Jazz zu verstehen, so sind über den Prozess der Identitätsfindung inzwischen weltweite Dialogmöglichkeiten eröffnet worden. Die Arbeit der FMP hat dazu maßgeblich beigetragen.

Konsequenz ist ein untrügliches Kennzeichen für die Aktivitäten der FMP. Konsequent zu sein kann bedeuten, vieles andere, was auch wichtig wäre, zu vernachlässigen. Manchmal muss es das sogar bedeuten. "For Example" heißt eine der von der FMP herausgegebenen Dokumentationen. Die FMP hat Beispiele gegeben, Zeichen gesetzt. Und sie wollte immer auch andere dazu anstiften, es ihr gleich oder ähnlich/anders zu tun. Die improvisierte Musik, deren Förderung und Entwicklung die Aktivitäten der FMP gelten, steht, historisch gesehen, noch am Anfang. Gemessen an der Zeit jedes Einzelnen, handelt es sich längst nicht mehr um Versuche, sondern um Lebensentwürfe und Lebenswerke und wie immer bei der Improvisation um ein work in progress. Was die Existenzgrundlagen der FMP anbelangt, so geht es ihr kaum anders als der Mehrzahl improvisierender Musiker. Sie bewegt sich von Anfang an bis zum Heutigen Tag auf einem ökonomisch schwankenden Grund. Um so beachtlicher ist die Kontinuität des Bemühens. Der musikalische Bestand kann mittlerweile als sicher gelten, der musikalische Prozess als andauernd und unvoraussagbar.

aus: Programmheft JazzFest Berlin 1989

zurück