1989 TMM / "Quartier Latin"

Bert Noglik (1989)

Das diesjährige Total Music Meeting setzt fort, was die Free Music Production 1986 begonnen und 1988 mit einem groß angelegten Projekt weitergeführt hat: die Vorstellung Cecil Taylors in einer Folge von Arbeitsprozessen. Dass Cecil Taylor, überragender Pianist einer aus der afroamerikanischen Tradition und dem Free Jazz der sechziger Jahre herausgewachsenen Musik, wiederum auch mit europäischen Musikern zusammen spielen wird, zählt zu den Folgerungen der vorangegangenen Bemühungen.

Die Lebensgeschichte von Cecil Taylor kann man bereits in Lexika nachlesen. Was Mitte der fünfziger Jahre in einer Gruppe mit Steve Lacy, Buell Neidlinger und Dennis Charles begann, hat Cecil Taylor mit unterschiedlichen Besetzungen sowie als unbegleiteter Solist kühn vorangetrieben und zu einem Lebenswerk ausgeweitet. "Die dreißig Jahre!" sagt Cecil Taylor, "sind sehr schnell vergangen. Zugleich habe ich das Gefühl, vom Glück begünstigt, nämlich ich selbst zu sein." Über die langen, harten, schweren Jahre kein Wort. Nur der Nachsatz, dass er sich manchmal wundere, wie er überleben konnte. Entgegen einer Avantgarde, die sich vor allem per Konzept definiert, besteht die Lektion von Cecil Taylor unter anderem in der Konsequenz seines Spielprozesses. Keine Spur von Verspieltheit. Spielen als Ausdruck der Lebensenergie und als Medium des Überlebens. Physisches und Psychisches nicht mehr trennend, sondern verdichtend. Bewegungen hin zum Wesentlichen.

Cecil Taylor hat den kulturellen Radius im Verlaufe der Jahre erweitert, auch Elemente der europäischen Moderne assimiliert, dabei aber die essentielle Bindung an die afroamerikanische und indianische Tradition nie in Frage gestellt. Er hat das Klavier als Perkussionsinstrument re-interpretiert, die psychophysische Dynamik seines Spiels sublimiert und wiederholt auf die spirituelle Dimension seiner Musik hingewiesen. Seine musikalische Bewegungsenergie sieht er in Analogie zu den Sprüngen von Ballett-Tänzern. Poetische Expression begreift er als höchste Form künstlerischer, mithin auch musikalischer Mitteilung. Mehr als alles andere wollte er immer ein Poet sein. Und Spielen bedeutet ihm Aufsteigen in den Zustand der Trance. Ballett und Blues, Mikhail Baryshnikov und Billie Holiday, schließlich auch die Brücken von New York als weit geschwungene Inspirationsbögen. Die Jazztradition als Erbe und Verpflichtung zu Erneuern. Cecil Taylors Entwurf einer Synthese schließt die Erweiterung musikalischen Materials ebenso ein wie die Profilierung individuellen Ausdrucks und die Steigerung des Spiels hin zur Magie.

Der erste Abend des Total Music Meetings stellt Cecil Taylor als Solisten vor; am zweiten Abend kommt das bereits seit einiger Zeit existierende "The Feel Trio" mit Cecil Taylor, William Parker und Tony Oxley auf die Bühne des "Quartier Latin". An den folgenden Abenden konstituiert sich als völlig neue Besetzung das Quintett "Corona".

William Parker, geboren in New York City, studierte bei Richard Davis und Jimmy Garrison und wirkt seit vielen Jahren als Bassist in Gruppen Cecil Taylors mit. Er spielte unter anderem mit Peter Kuhn, Jemeel Moondoc, Frank Lowe, Wayne Horvitz, Butch Morris, Billy Bang und Peter Brötzmann zusammen, auch in Formationen um Jimmy Lyons und in gemeinsamen Besetzungen mit Cecil Taylor und Jimmy Lyons.

Wohl kaum ein zweiter europäischer Schlagzeuger hat die "Befreiung vom Dogma des Beats" seit den sechziger Jahren mit solcher Folgerichtigkeit vorangetrieben wie Tony Oxley. Bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre drang Tony Oxley im Trio mit Gavin Bryars und Derek Bailey in Bereiche der freien Improvisation vor. Seither hat er kontinuierlich an der Erweiterung seines musikalischen Vokabulars gearbeitet. Neben gelegentlichem Zusammenwirken mit Musikern wie Bill Evans und Sonny Rollins widmete er sich im Verlaufe der sechziger Jahre zunehmend Aktivitäten im Bereich der freien Improvisationsmusik. Mit Musikern wie Evan Parker, Paul Rutherford, Howard Riley oder Phil Wachsmann verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit. 1985 stellte er beim Jazz Fest Berlin sein seither wiederholt zusammengerufenes Celebration Orchestra vor. In jüngerer Zeit entstanden "The Feel Trio", das Trio mit Cecil Taylor und William Parker, ein Trio mit Anthony Braxton und Adelhard Roidinger sowie ein Duo mit John Surman.

"Corona" heißt das Quintett mit Taylor, Parker, Oxley, Muneer Abdul Fataah und Harald Kimmig. Der Cellist Muneer Abdul Fataah stammt aus New York und lebt seit einiger Zeit in Freiburg. Er spielte unter anderem mit Jimmy Lyons, Charlie Rouse, Billy Higgins, Henry Threadgill, James Newton und Steve Coleman. Muneer Abdul Fataah schrieb zahlreiche Kompositionen und leitet ein mit Cello, zwei Gitarren, Kontrabass und Schlagzeug besetztes Quintett, "The Rhythm String Band Vol.III". Muneer Abdul Fataah war bereits Mitglied einer größeren Besetzung um Cecil Taylor. Der Geiger Harald Kimmig kommt aus dem süddeutschen Raum und spielt in einem Trio mit H. Lukas Lindenmaier, Schlagzeug, und Uwe Martin, Kontrabass. Harald Kimmig ist erstmals im vergangenen Jahr mit Cecil Taylor zusammengetroffen. Er war Teilnehmer des von der FMP organisierten und von Cecil Taylor geleiteten Ensemble-Workshops.

Auf seine Arbeit mit Ensembles hin angesprochen, sagte Cecil Taylor einmal: "Eine Sache, die ich von Ellington gelernt habe, ist die Möglichkeit, die Gruppe, mit der man spielt, singen zu lassen, indem man sich klar macht, dass jedes Instrument eine besondere Persönlichkeit verkörpert." Cecil Taylor zuhörend, empfand Buell Neidlinger bereits in einer frühen Phase von dessen Entwicklung: "Man kann das Klavier beinahe schreien und weinen hören." Die Stimmen von "Corona" werden während zweier Nächte in Berlin zu vernehmen sein.

aus: Programmblatt der Free Music Production (FMP) 1989

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