1985 TMM / "Quartier Latin"

Ellen Brandt (1985)

Made in Germany?

Das Total Music Meeting hatte in seiner langjährigen Tradition stets Workshop-Charakter. Den Solisten und Gruppen wurde Gelegenheit zu mehrmaligem Auftritt und damit zum behutsamen Einspielen, zu Korrektur und Leistungssteigerung gegeben. Es ging nie um Fix und Fertiges, sondern um den Arbeitsprozess, den Weg, die Entwicklung. In diesem Jahr hat das Total Music Meeting erstmals und ausnahmsweise Festivalcharakter. Jeder Solist und jede Gruppe spielt nur einmal und damit hat sich's. Warum das?

Die Free Music Production stellt die Frage nach der Existenz einer spezifisch deutschen Musikproduktion und klappert die Szene danach ab. Es versteht sich, dass nur solche Musik zur Debatte steht, die sich von der Vaterfigur USA, dem Ursprungsland des Jazz, emanzipiert hat, d.h., der Imitation des allgegenwärtigen Vorbildes abgesagt und eine eigene originäre Identität ausgebildet hat. Es geht nicht um bloße Abgrenzung von der übermächtigen Vaterfigur auf Teufel komm raus oder womöglich um ein deutsches Reinheitsgebot aus Furcht vor Überfremdung. Im Gegenteil: Kennzeichen der hiesigen Szene war seit jeher ihre Offenheit, ihre internationale Verflechtung.

Auswahlkriterium für das Festival ist allein, wie mit den Impulsen aus dem Ausland umgegangen wird: bleibt es bei der bloßen Kopie oder kommt es zur schöpferischen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung, zu einer eigenen Handschrift? Für letztes stehen Musiker wie Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, Peter Kowald, Hans Reichel. So verwundert es nicht, dass es gerade diese Musiker sind, die zu einem Markenzeichen improvisierter Musik im Ausland wurden.

Als einer der ersten wurde Albert Mangelsdorff zum Repräsentanten dieser Musik. Seine Verdienste um die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten der Posaune wurden weit über die Landesgrenzen hinaus gewürdigt. Günter Christmann ging diesen Weg weiter und Pinguin Moschner machte sich daran, für die Tuba das zu leisten, was Mangelsdorff und Christmann für die Posaune vollbracht hatten. Wittwulf Maliks Cello-Spiel, das sich zwischen geräuschhaftem und kammermusikalischem Klang bewegt, steht in der Tradition von Maarten Altena und Tristan Honsinger. Hans Reichel hat der Gitarre den Klampfenklang genommen und Alex Schlippenbach benutzt den Flügel forciert als Perkussionsinstrument; Paul Lovens erweiterte das Schlagzeug zum Perkussionsinstrument unter Einbeziehung von "Fremdkörpern" wie Radkappen und Sägeblättern und brachte Klangfarbe und Melodie ins Spiel.

Die meisten dieser Avantgardisten haben im Ausland kongeniale Partner gefunden, die vergleichbar radikale Wege bei der Entwicklung ihrer musikalischen Ausdrucksmittel gegangen sind. So z.B. Evan Parker mit seiner Zirkularatmung und der Atomisierung von Tönen als Partner von Schlippenbach seit Anfang der 70er-Jahre oder Fred Van Hove und Han Bennink als langjährige Mitspieler in diversen Brötzmann Gruppen.

Bei dieser Vielfalt von Instrumentalisten, die sich um die Entwicklung einer eigenständigen Musik verdient gemacht haben, musste das Total Music Meeting den Workshop-Charakter aufgeben und jede Gruppe nur einmal auftreten lassen - denn die Scheinwerfer sollen ja nicht nur auf die Vorreiter gerichtet werden, sondern auch die Weiterentwicklung beleuchten.

So haben sich im King Übü Örchestrü Musiker der dritten Generation aus verschiedenen europäischen Ländern zu einer Großformation zusammengetan, die jenseits des bis zum Überdruss praktizierten schematischen Wechsels von Solo und Band durchgehend improvisiert. Im Grubenklangorchester sind Musiker verschiedener Generationen vereinigt, die sich - basierend auf Improvisationserfahrungen -, in dieser Zusammensetzung mit der Bearbeitung von Eisler-Kompositionen und deutscher Folklore beschäftigen.

Bei der jüngsten Generation der deutschen Szene, u.a. Wittek/Kaiser/Manderscheid, die um Martin Theurer gruppierte "Cash In Advance" sowie beim Fritz Brummer Ensemble bleibt zu prüfen, ob schon eine eigene Identität ausgebildet ist.

An Bandbreite lässt das Festival nichts zu wünschen übrig. Das musikalische Spektrum reicht vom verschmitzten und inspirierten Umgang mit musikalischen Traditionen (Lol Coxhill, Louis Sclavis), von auskomponierten musikalischen Stilleben in klaren Farben (Herbert Joos) zu verfremdetem Klangmaterial (Hans Reichel, Pinguin Moschner); von in offenen Strukturen aufgelösten Kompositionen (Grubenklangorchester) zu gänzlich improvisierter, sehr wohl strukturierter Musik (King Übü Örchestrü), von einfallsreichen Kompositionen sanfter Art (Jörgensmann), bis zu einem komponierten Stilgemisch aus Bop und Swing in einem Soundspektrum zwischen Kakophonie und sphärischer Romantik (Wittek/Kaiser/Manderscheid), von angefunktem Jazz (Fritz Brummer Ensemble) bis zu "Neukrach" (Jazz, Free Funk plus musique concrète ) bei "Cash In Advance".

Die tägliche Programmabfolge mischt geschickt die Gruppen aus den verschiedenen musikalischen Richtungen, so dass sich Free Jazz-Puristen wie auch New Wave-Szene-People und alle Grenzgänger vom Programm angesprochen fühlen können. Dieses Kontrastprogramm ermöglicht neuen Jazz-Einsteigern einen Überblick über die verschiedenen Musiken und erhöht die Chance der Dauerkartenbesitzer, jeden Abend auf ihre Kosten zu kommen.

aus: Faltblatt der Free Music Production (FMP) 1985

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