1983 TMM / "Quartier Latin"

Steve Lake (1983)

Wenn nicht ein Wunder geschieht oder ein plötzlicher Onkel Dagobert-artiger Herzenswandel bei den Leuten eintritt, die den Geldhahn für die deutsche Kultur kontrollieren, wird das 16. Total Music Meeting auch das Letzte sein. Seit 1968 hat das Team der Berliner Free Music Production dieses Festival mit ungeheurer Begeisterung und sehr knappen Budget veranstaltet. Oft genug haben sie Geld aus der eigenen Tasche hineingesteckt und Arbeitsstunden aufgewendet, die weit über das pflichtgemäße hinausgehen. Jetzt ist das Geld ausgegangen, und für das Total Music Meeting, wie für die FMP selber sieht es so aus, als wäre es das Ende vom Lied. Künstlerisch allerdings marschiert die Gesellschaft gewaltig. Das letzte Antreten im "Quartier Latin" ist ebenso umfassend wie all die anderen, die das Team im Laufe der Jahre angeboten hat, ein Zeugnis für die Vielfalt improvisierter Musik trotz der Gleichgültigkeit der Massenmedien und der Schallplattenindustrie.

Wenn freie Musik als ein "Idiom" klassifiziert werden kann, so ist es eines, das heute weltweit verbreitet ist, und das Total Music Meeting - sowie dessen Dokumentation durch die FMP - hat eine wichtige katalysatorische Rolle in dieser Entwicklung gespielt. Über fünfzehn Jahre radikale Musik - sicher eher ein Grund zum Feiern als wegen des Todes einer Institution Trübsinn zu blasen.

Die FMP fütterte die deutsche Free Jazz-Szene ihre Kindheit hindurch und gab ihr mit dem ersten Total Music Meeting eine Plattform für ihren Ausdruck. Ursprünglich gedacht als eine Art Entgegnung zorniger junger Männer auf die Showbiz-Einschränkungen der offiziellen Jazztage, entwickelte das Meeting sich rasch zu einem wichtigen eigenständigen, internationalen Ereignis.

Eine frühe Konsequenz war das Auflösen der alten Demarkationslinien, die vorher die Gruppen der Improvisatoren getrennt hatten. Während die Kritiker noch Schwarz gegen Weiß ausspielten, amerikanisch gegen europäisch usw. und nahezu unverständlich pseudo-musikologische Thesen über die Unterschiede zwischen britischen, holländischen und deutschen "Schulen" der freien Improvisation aufstellten, fanden die Musiker selber eher zu den Punkten der Kongruenz als des Streites und trieben die Sache des gemeinsamen Musikmachens voran. Heute ist die viel rassige internationale improvisierende Gruppe eher die Regel als die Ausnahme. Was einst wie ein naiver Wunschtraum aussah, fand etwa im "Globe Unity Orchestra" eine einleuchtende Erklärung.

Der kreuzritterliche Eifer der FMP überwand sogar die Berliner Mauer. Von Jost Gebers, Alex Schlippenbach und Peter Brötzmann 1972 mit DDR-Musikern gemachten Kontakte führten dazu, dass zum ersten Mal im Westen Platten von den Gruppen um Ernst-Ludwig Petrowsky und Ulrich Gumpert erschienen und endlich auch dazu, dass beim Total Music Meeting und beim Workshop Freie Musik regelmäßig DDR-Instrumentalisten auftragen. Weil deren Isolation von der übrigen Jazzwelt vollständiger war, ist die Integration der DDR-Musiker ein allmählicher Prozess gewesen, aber einer der heute als verwirklicht angesehen werden kann. Wer hätte 1968 geahnt, dass der Mississippi-Delta-Trompeter Leo Smith und der Dresdner Trommler Günter Sommer einmal Partner beim Improvisieren sein würden? Solcherart sind die Kombinationen, die die FMP in die Welt setzte, und entsprechend ist das musikalische Vokabular bereichert worden.

Mit dem Wachsen der Musik ist auch eine informierte Hörerschaft herangewachsen, eine noch kleine, aber treue Gefolgschaft, die sich die Mühe gemacht hat, die im Werke dieses oder jenes Musikers anstehenden Probleme zu untersuchen und zu verstehen. Auch dies ist wieder ein direktes Ergebnis des unablässigen Engagements der FMP und einer Handvoll paralleler Organisationen, die in Platten und Konzertveranstaltungen die Entwicklung der Musik in jedem ihrer Stadien gezeigt haben. Und aus diesem informierten Publikum ist eine Anzahl junger Musiker erstanden, von denen einige dann Platten bei FMP gemacht haben.

Doch das Bild, das ich von einem sich ausdehnenden Improvisatoren-Universum male, wirft nicht die Frage auf, die der unbefangene Leser sicher stellen wird: Warum entspricht der kommerzielle Erfolg nicht den künstlerischen Leistungen?

Eine schwierige Frage und eine, die üblicherweise zu ermüdenden Diskussionen führt. Die Musiker bringen oft einen einfachen Mangel an Sendezeit vor, indem sie etwa argumentieren, dass Evan Parker genauso groß wäre wie "The Police" wenn er den ganzen Tag im Radio gespielt würde. Ich bezweifle das sehr.

Wenn die Mogule der Musikindustrie die kleinste Möglichkeit erspäht hätten, sich zu bereichern, indem sie freie Improvisation ihren Zwecken nutzbar machen, hätten sie das inzwischen getan. Die Stärke und Integrität der freien Musik haben sie, wohl oder übel, vorerst nur resistent gemacht gegen kommerzielle Verpackung. Während die FMP getreulich den Sound der Musiker beim Total Music Meeting dokumentiert, läuft der populäre Jazz in die entgegen gesetzte Richtung. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass Jazz keine Live-Musik mehr ist. Der moderne Jazz-Musiker geht heute auf Tournee, um seine Platte vorzuführen und zu promoten, eine vom Rock übernommene Verkaufstechnik. Für den Free-Musiker ist eine LP mehr ein Nebeneffekt seiner oder ihrer Kreativität; für andere ist sie das Endprodukt. In einem Zeitalter, da die Standardjazzplatte eine viel spurige Studiokonfektion geworden ist (wer zweifelt, prüfe Billboard`s Jazz Chart), und indem das Publikum, besonders in Deutschland, zu HiFi-Feteschisten geworden ist, ist die Vorstellung des Free-Musikers von einer LP als Information, als Illustration lebendiger Leistung, viel zu bescheiden, um ins große Bild zu passen. Aber eine der merkwürdigen Seiten der Free-Szene - vielleicht das Geheimnis ihrer Unverwüstlichkeit - ist die, dass sie stets all die Klischees von der bei allem Elend dennoch blühenden Kreativität erfüllt hat. Früher, als es noch fast kein Publikum gab, hatte die Musik eine wilde Kraft: Man höre sich nur Brötzmanns "Machine Gun" (1968) an, eine in ihrer Intensität noch immer schockierende Platte. Später, als dann ein durch nichts als harte Arbeit der Neuerer entstandener spielender Kreis gebildet war, wurde die freie Improvisation vorübergehend von einer neuen Brut heimgesucht, die der Trommler Eddie Prévost als "wischi-waschi-abstrakte Expressionisten" bezeichnete, die Freiheit als die Erlaubnis deuteten, sein Instrument zu spielen, ohne es zu meistern. Die meisten von ihnen sind inzwischen zu Punk-Gruppen abgewandert oder sie sind Musikkritiker geworden oder tun beides. (Übrigens ist kaum einer von ihnen je zum Total Music Meeting eingeladen worden.)

Die Schwergewichtler andererseits sind immer noch sehr bei uns, ständig ihre Musik überprüfend, neue Richtungen erprobend, sich in immer herausfordernder Kontakte stürzend. Das Verschwinden des Total Music Meeting wird ihre Entschlossenheit und Hartnäckigkeit wahrscheinlich nur stärken.

Passt auf - dies kann eher der Anfang einer neuen Ära sein, als das Ende der alten. Ich für meine Person möchte den Musikern und der FMP für eine Menge freier Musik im "Quartier Latin" danken und glauben, dass das Beste erst noch kommt. Cheers.

Übersetzung: Wulf Teichmann

aus: Programmheft JazzFest Berlin1983

zurück