1994 Summer Music

Bert Noglik (1994)

Seit Jahren veranstaltet die Free Music Production jeden Sommer ihr „Fall in Jazz / Summer Music“-Konzertreihe im und mit dem Zehlendorfer Haus am Waldsee.

Eingeladen wurden in diesem Jahr das französisch-deutsche Duo Joëlle Léandre und Rüdiger Carl sowie das französisch-holländische Duo Louis Sclavis und Ernst Reijseger.

In der Begegnung dieser Musiker, die unterschiedlichen Traditionslinien entstammen, kommt zum Ausdruck, in welchem Maße sich die musikalische Sprache der Improvisation differenziert und individualisiert hat. Was in den sechziger Jahren als europäische Entwicklung begriffen und formiert wurde, hat seinerseits musikalische Bewegungen in anderen Teilen der Welt beeinflusst.

Die beiden Duos werden jeweils an beiden Abenden auftreten, wobei nicht auszuschließen ist, dass sich die Musiker am Sonntagabend zum Abschluss der Konzerte zum Quartett zusammenschließen.

LOUIS SCLAVIS (F) & ERNST REIJSEGER (NL)

„Irgendwann werden sie ihm in Frankreich einen Sockel hinstellen müssen. Mit beängstigender Intensität und Reife geht der Klarinettist Louis Sclavis an jedes seiner Projekte heran. Er sorgte beim 8. Münchner Big Band Meeting für einen furiosen Auftakt“ - so jubelte die Münchner Abendzeitung über den Auftritt des Franzosen.

Louis Sclavis ist einer der ganz großen Jazzklarinettisten und Innovatoren. Geschätzt als Garant für absolut perfektes Spiel, sowie auch für einfallsreiche und abwechslungsreiche Improvisationen und Kompositionen, deren „roots“ in der französischen Musik zu finden sind.

Mit diesen Konzerten im Haus am Waldsee erfüllt sich Louis Sclavis den langgehegten Wunsch im Duo mit dem holländischen Ausnahmecellisten Ernst Reijseger auftreten zu können.

JOËLLE LÉANDRE (F) & RÜDIGER CARL (D)

Die erste musikalische Begegnung zwischen Rüdiger Carl und Joëlle Léandre hat 1990 in Stuttgart stattgefunden. Vorangegangen war ein von Rüdiger Carl organisiertes Konzert für Joëlle Léandre im Frankfurter Portikus.

Rüdiger Carl hat als Tenorsaxophonist begonnen, Klarinette gespielt und gelegentlich, beinahe eine Kuriosität, zum Akkordeon gegriffen. Es scheint kein Zufall, dass die 1978 zusammen mit Hans Reichel eingespielte LP „Buben“ betitelt wurde, damit Erinnerungen an erste Musikstunden weckend, führt sie den Saxophonisten an der Concertina vor. Joëlle Léandre hat in Aix-en-provences mit der Plastikflöte begonnen, dies nur als Randbemerkung. Inzwischen ist Rüdiger Carl zum Akkordeonisten und Klarinettisten geworden, der auch Saxophon spielt. Aber bei den Konzerten im Haus am Waldsee tut er das nicht. Dafür gibt es ja die Beispiele mit Irène Schweizer, Alexander von Schlippenbach und Sven-Åke Johansson. Allesamt Free Jazz-Pioniere der ersten Stunde, die in verschiedensten Projekten an den Erweiterungen des klanglichen Spektrums arbeiten, Grenzüberschreitungen wagen und immer wieder neue Verbindungen eingehen. Nicht nur für Rüdiger Carl sind in den vergangenen Jahren Kompositionen, Spielkonzepte, strukturierende Vorgaben und vorgegebene rhythmische Gliederungen in der Musik wichtiger geworden. Die Arbeit mit seiner Gruppe COWWS Quintett illustriert diesen Wandel bestens.

Mit Joëlle Léandre hat er eine ideale Partnerin gefunden, ist eine musikalische „folie à deux“ eingegangen. Sie, die sich seit Jahren gleichermaßen der Komposition – zu denken ist da an Soloeinspielungen mit eigenen Werken und denjenigen von John Cage, Giancinto Scelsi, Sylvano Bussotti u. a. - wie der freien Improvisation angenommen hat, erinnert sei an ihre langjährige Zusammenarbeit mit Maggie Nicols, Irène Schweizer, Barre Phillips, Jon Rose u. a., ist nebst Bassistin auch Sängerin - sie hat ihre Stimme einmal als fünfte „Saite“ bezeichnet - und Performerin. Ihre Auftritte sind immer voller Dramatik, ob sie nun den Bass wie eine monströse Gitarre hält oder von Chicago aus nach ihrem Hund und den Katzen in Paris ruft und uns so die Sehnsüchte der Tourneemusikerin spüren lässt. Sie erzählt uns singend und mit dem Bass Geschichten, lässt uns an ihrem privaten Leben teilnehmen, gewährt uns Einblicke. Eine Wanderin zwischen den Welten, die ein selten inniges, körperliches und gleichzeitig gespaltenes Verhältnis zu ihrem Instrument pflegt, es streicht und zupft, streichelt und schlägt, darauf rumschabt und zum Quietschen bringt - ihm un-erhörte und un-gehörte Töne entlockt.

aus: Faltblatt der Free Music Production (FMP), 1994

zurück