Snapshot - Jazz Now/Jazz aus der DDR

Martin Linzer (1980)

Jazz in der DDR - 10 Punkte zur Entwicklung einer Szene

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Jazz in der DDR - das sind die Musiker der Uli Gumpert Workshopband, das sind Ernst-Ludwig Petrowsky und Conny Bauer, das ist „Baby" Sommer, der „gruppendynamischste Schlagzeuger in Europa" (JAZZ FORUM), das sind die Formationen von Friedhelm Schönfeld und Günther Fischer, das Berliner Improvisationstrio und Hanno Rempel... *
Jazz in der DDR - das sind „Jazz in der Kammer" und die lnternationalen Workshops des TiP, das sind die Jazzbühne Berlin und die wöchentlichen Montagabende im Jugendzentrum „Haus der Jungen Talente", das sind die Jazzwerkstatt Peitz und die Leipziger Jazztage, der Rostocker Jazz-Diskurs und das Weimarer Jazzfest, die Veranstaltungen der Jazz-Klubs in Schwerin und Karl-Marx-Stadt, in Mittweida und Glauchau, in Eisenach und Ilmenau...

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1979 veröffentlichte die Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst eine Studie „Jazz in der DDR", sie enthielt den theoretischen Versuch einer Funktionsbestimmung des Jazz im Musikleben der DDR sowie eine Dokumentation der gegenwärtigen Repräsentanz des Jazz. Die Autoren konnten davon ausgehen, dass - 30 Jahre nach Gründung der DDR - der Jazz seinen von der Gesellschaft anerkannten Platz in der kulturpolitischen Landschaft des Landes gefunden habe. Verwiesen wird auf: die zunehmende Professionalisierung des Jazz, die quantitative Zunahme und das gewachsene Interesse des Jazz-Publikums, die sprunghafte Ausweitung der Veranstaltungstätigkeit, die beginnende internationale Anerkennung des DDR-Jazz als eigenem nationalem Beitrag.

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Wie bekannt, kam Jazz nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst und ausschließlich als amerikanische Musik nach Deutschland, wurde in der Form konsumiert und von den einheimischen Musikern in den überlieferten Formen reproduziert. Das Fehlen einer eigenen Jazz-Tradition, die Unterbrechung des internationalen Kulturaustauschs durch Faschismus (der Jazz als „entartet" und „Niggermusik" denunzierte und unterdrückte) und Krieg, die besondere politische Situation im geteilten Deutschland komplizierten und verlangsamten die Entwicklung einer eigenständigen Jazz-Musik und einer eigenständigen Jazz-Szene. Beeinflusst durch die raschere Entwicklung in der Tschechoslowakei und in Polen und die Kenntnisnahme internationaler Trends (über die internationalen Jazz-Festivals in Prag und Warschau seit Mitte der 50er Jahre), setzt in der DDR erst in den 60er Jahren ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung mit den überlieferten (amerikanischen) Formen des Jazz ein, in die auch das Publikum einbezogen wird. „Fans“, die Jazz bis dahin identifizierten mit Armstrong und Ella Fitzgerald (die Anfang der 60er auch die DDR besuchten) und dem, was sie in AFN und „Club 18“ hörten, sowie völlig neue, vom Jazz bisher nicht erreichte Gruppen, begannen sich für die „Experimente“ der einheimischen Musiker zu interessieren; diese traten aus der introvertierten Exklusivität des undergrounds heraus und drangen in die Öffentlichkeit. Erste Großkonzerte aller bis dahin zumeist isoliert wirkenden Musiker fanden 1965/66 in Dresden statt.

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Zweifellos hat sich der Jazz in der Mitte der sechziger Jahre vom amerikanischen Einfluss emanzipiert. Wie würdest du, zurückschauend, deine eigene Entwicklung innerhalb dieses Prozesses sehen?
Die Entwicklung vollzog sich für meine Begriffe ganz natürlich und ganz zwangsläufig. Und bei jedem einzelnen ohne bewusste Steuerung. Ich war immer offen für alles Neue und Interessante, ohne das, was aus der Tradition mir wert und teuer war, über Bord zu werfen; und aus dem Versuch, das Neue nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu begreifen, ja zu erfüllen, ergab sich m. E. die Synthese, die unsere weitere Entwicklung bestimmte, unsere eigene Musik formte, die aber auf der anderen Seite ja auch nicht außer Acht lässt, was sonst in der Welt passiert.
Ernst-Ludwig Petrowsky in einem JAZZ FORUM-lnterview, 1977.

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1965 ergriffen junge Berliner Schauspieler, assistiert von einem sachkundigen jungen Garten-Architekten, die Initiative zur Gründung einer ständigen Jazz-Reihe, und am 1. November war die Geburtsstunde von „Jazz in der Kammer“ (mit dem Joachim Kühn Trio). Diese Reihe, getragen vom Deutschen Theater und veranstaltet in dessen „Kammerspielen“, erlebte bis zum März 1979 insgesamt 112 Konzerte (die Schließung des Hauses wegen dringender baulicher Maßnahmen führte zu einer noch andauernden Zwangspause). Die Initiatoren erklärten 1965 als ihre Absicht: ein bis dahin in Berlin nicht existierendes ständiges Podium zu schaffen, den zeitgenössischen Jazz zu popularisieren und zu fördern, die nationale Szene zu präsentieren, aber auch internationale Vertreter des zeitgenössischen Jazz zur Mitwirkung zu gewinnen. (Die Bilanz nach 100 Konzerten war: über 350 Musiker aus 20 Ländern waren Gast der „Kammer“ - das Jubiläumskonzert selbst stellte die gesamte aktive DDR-Szene vor, als Gäste das Albert Mangelsdorff-Quartett, das Duo Breuker-Cuypers, die Bassisten Kent Carter, Maarten van Regteren AItena und Aladar Pege u.a.) Was als ein Hobby-Unternehmen einzelner Enthusiasten begann, war 14 Jahre danach zu einer Institution geworden, die nicht nur im Musikleben der DDR, sondern weltweit Anerkennung gefunden hatte. Wichtiger als diese Feststellung (auch weil der Verfasser dem Verdacht des Eigenlobs begegnen muss) ist der Nachweis, dass eine allgemeine „objektive“ Entwicklungstendenz durch den subjektiven Einsatz von Veranstaltern, Musikern, Zuhörern (und eine tolerante kulturpolitische Beobachtung) sich hier am konkretesten und auffälligsten artikulierte. Die Geschichte von „Jazz in der Kammer“ als Brennspiegel und zugleich orientierender Faktor in der Entwicklung einer nationalen Szene: hier waren die DDR-Musiker mit ihren jeweils neuesten Produktionen präsent, hier wurden werkstattmäßig neue Besetzungen ausprobiert (die verschiedenen Gumpert Bands starteten in der „Kammer“), hier war ein Treffpunkt, ein Ort der Begegnung - zunehmend auch mit solchen ausländischen Musikern, die für die Entwicklung einer eigenen nationalen Schule wichtig wurden.

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Rückblickend halte ich den 15. Oktober 1973 für eine wichtiges (historisches?) Datum: im 61. Konzert von „Jazz in der Kammer“ gastierte das Irène Schweizer Quartett (mit Rüdiger Carl, Arjen Gorter, Heinrich Hock). Das lag auf der konzeptionellen Linie der „Kammer“ und war kaum eine Sensation. Aber es war, und das war in seiner Konsequenz damals nicht absehbar, das erste Konzert, das durch (damals noch inoffizielle) Vermittlung der FMP zustande kam.
Auf Irène Schweizer folgten Brötzmann/Van Hove/Bennink, folgten Schlippenbach und Breuker, ICP-Musiker und Free-Jazzer aus England, Schweden, Dänemark. Die „Kammer“ als erster „Eingang“ für Musiker, die zu wichtigen Anregern der eigenen Entwicklung wurden - so wie die FMP zum ersten „Ausgang“ für DDR-Musiker auf die westlichen Podien wurde: Workshop Freie Musik, Total Music Meeting….. Was als „Einbahnstraße“ begann, um ein Wort von Peter Brötzmann zu gebrauchen, wurde fünf Jahre später zu einer zügig befahrenen Hauptstraße, in beiden Richtungen.

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Das Jahr 1973 enthält noch ein wichtiges Datum: am 2. Juni findet die 1. Jazzwerkstatt in Peitz statt (inzwischen sind es, nach sommerlichem Open-air-Festival, 36). Peitz ist ein Phänomen und deshalb erwähnenswert, weil hier, in einem verschlafenen Städtchen von etwa 5000 Einwohnern, nahe Cottbus gelegen, dank der unermüdlichen und aufopferungsvollen Arbeit einer Handvoll Enthusiasten das wichtigste Zentrum des zeitgenössischen Jazz außerhalb Berlins mit Ausstrahlkraft auf das ganze Land entstand. Die Initiatoren formulierten 1973 ihre Absicht: „Durch Präsentation unterschiedlicher Ensembles den Zuhörern die Vielfalt des zeitgenössischen Jazz zu erschließen, damit Musikern und Publikum gleichermaßen Anregungen zu vermitteln und damit dem Jazz einen größeren Zuhörerkreis zu erschließen.“ Es gibt seitdem etwa sechs bis acht Konzerte jährlich, die von Besuchern aus der ganzen DDR frequentiert werden. Das Programm, das kontinuierlich die eigene nationale Szene vorstellt, vorzugsweise in Werkstatt-Besetzungen, wird durch immer prominentere Gäste zunehmend attraktiver. Waren es in den ersten Jahren vor allem polnische Musiker, die durch die geografische Lage begünstigt, gern in Peitz spielten (bevor sie Amerika für sich entdeckten: Makowicz, Namyslowski, Stanko), so weitete sich der Radius zunehmend; inzwischen hat das Globe Unity Orchester und fast die gesamte westdeutsche und englische Avantgarde in Peitz gespielt. Ulli Blobel, Motor der Entwicklung in Peitz, hat sein Management weit über Peitz ausdehnen können als Veranstalter von Tourneen durch die gesamte DDR. Bevorzugt mit gemischten Gruppen aus DDR-Musikern und internationalen Gästen. Diese im Jazz international übliche Praxis führte nicht nur zu interessanten künstlerischen Ergebnissen, sie erwies sich auch als ökonomische Notwendigkeit für die einheimischen Musiker, die mehr und mehr ausschließlich und professionell als Jazz-Musiker arbeiten. Sie sind dadurch in der Lage, auch bei mehrmaligen Gastspielen im Jahr, z.B. in einer Kleinstadt das Interesse des Publikums aufrechtzuerhalten und durch interessante, differente musikalische Angebote einer Übersättigung vorzubeugen.

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Das Beispiel Peitz bezeichnet eine typische Besonderheit der DDR-Jazz-Szene, die kommerziell betriebene Jazz-Klubs nicht kennt. Sieht man von den relativ seltenen repräsentativen Großveranstaltungen ab, die vom Rundfunk, von staatlichen oder kommunalen Institutionen oder Agenturen getragen werden (Jazzbühne Berlin, Internationales Dixieland-Festival Dresden, Gastspiele reisender Big Bands), so lebt die DDR-Szene von der Tätigkeit der vielen örtlichen Jazz-Klubs, Arbeits- und Interessen-Gemeinschaften, die durch Veranstaltungen ständiger Konzertreihen oder Klubauftritten die gegenwärtige Repräsentanz des Live-Jazz entwickeln halfen und die ökonomische Basis der Jazz-Musiker bilden. Diese Arbeitsgemeinschaften sind kaum vergleichbar mit den bekannten elitären Fan-Klubs - es sind rührige Organisatoren, die (nicht professionell und nicht kommerziell) in ihren Kommunen professionellen Jazz ermöglichen. Bei den etablierten Klubs haben sich unterschiedliche Organisations-Formen herausgebildet, nach den örtlichen Gegebenheiten suchen sie ihre Verbündeten bei Institutionen (Universitäten, Hoch- und Fachschulen; staatlichen Kulturhäusern), Massenorganisationen (Kulturbund, Freie Deutsche Jugend) oder Großbetrieben, die im Einzelfall die Veranstaltungstätigkeit durch Subventionen stützen. Einige Klubs veranstalten jährlich mehrtägige Festivals, zum Teil mit internationaler Beteiligung, so in Rostock, Freiberg, Weimar und Jena. In Leipzig veranstaltet der „Freundeskreis Jazz“ seit 1976 die Leipziger Jazztage, inzwischen ein viertägiges Festival, das 1980 15 Formationen mit Musikern aus 10 Ländern präsentierte.

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Diese Basis-Arbeit vollzog sich im Kontext der allgemeinen politischen und kulturpolitischen Entwicklung nicht ohne Komplikationen und zeitweilige Rückschläge. Herrührend aus der Zeit der Ablehnung des Jazz als amerikanischer Musik, als westlichem Kultur-Import (und zu offensichtlich wurde in der ersten Nachkriegsphase auch der Jazz als Waffe im ideologischen Kampf missbraucht - siehe den Ausspruch Feldmarschall Montgomerys „Wenn wir den kommunistischen Osten nicht mit der Waffe erobern können, dann mit der Jazztrompete“), die erst in den sechziger Jahren abgelöst wurde durch eine Etappe zunehmender Toleranz gegenüber den Initiativen und Aktivitäten der Jazz-Musiker und Veranstalter, sind bei territorialen Organen Unverständnis und Misstrauen gegenüber dem Jazz noch nicht restlos abgebaut. Der Weg aus dem „underground“ ins Licht der Öffentlichkeit vollzog sich daher zögernd, nicht durch Beschlüsse oder staatliche Maßnahmen stimuliert und gelenkt, sondern spontan, sprunghaft, von der Initiative einzelner Aktivisten und Enthusiasten abhängig, ihrem Vermögen, Verbündete im Territorium zu finden und ihr Publikum zu organisieren. Dieser Prozess wurde zudem kaum öffentlich reflektiert - eine qualifizierte Jazz-Publizistik konnte sich nicht entwickeln, die etablierte Musikwissenschaft nimmt bis heute kaum Kenntnis vom Jazz als einer Form zeitgenössischer Musik-Ausübung, außer im Rundfunk gewinnt der Jazz nur zögernd Boden in den Medien (Fernsehen, Schallplatte).

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Zu den Prämissen sozialistischer Kulturpolitik gehört, unter dem Aspekt der Befriedigung und gleichzeitigen Entwicklung vielschichtiger Kunstbedürfnisse die Kunstproduktion in ihrer Breite und Vielgestaltigkeit zu fördern. „Auf keine der Farben und Klänge dürfen, wollen und können wir verzichten“, erklärte programmatisch der stellvertretende Kulturminister und Vorsitzende des Komitees für Unterhaltungskunst Siegfried Wagner 1978 auf einer zentralen Konferenz der Unterhaltungskünstler. Praktischer Ausdruck dieser nun auch den Jazz ausdrücklich in unser Kunstleben voll integrierenden Haltung und Ergebnis des Marschs durch die Institutionen der Jazz- Musiker und Jazz-Aktivisten ist die Anfang 1978 erfolgte Gründung eines „Arbeitskreises Jazz“ bei der Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst, in dem Jazzpraktiker und -theoretiker durch ihre fachlich beratende Funktion zur Entwicklung „ihrer“ Musik beitragen und bei der Lösung bestehender wie auftretender jazzspezifischer Probleme mitwirken.

* Jazz in der DDR meint hier und im Folgenden immer zeitgenössischen Jazz der verschiedensten Stilrichtungen. Traditioneller Jazz wird in der DDR fast ausschließlich von der relativ schwach entwickelten Amateur-Szene gepflegt.

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