FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 146

Felix Klopotek

 

Offene Improvisationen auf Grundlage von Tradition und Kultur des Jazz - kurz: Free Jazz - gibt es nun auch schon seit fünfzig Jahren, und so ist es kein Wunder, dass diejenigen, die diese Musik (immer noch/schon wieder) spielen, sich mittlerweile als Traditionalisten bezeichnen lassen müssen. Wenn heute von Improvisierter Musik die Rede ist, dann ist meistens jenes Lager gemeint, das darauf beharrt, nichts mit Jazz gemein zu haben und Improvisation radikal voraussetzungslos oder, so hieß es mal, non-idiomatisch zu begreifen.

Aber auch diese Schule ist »alt«, mittlerweile vierzig Jahre - wenn man die Stücke der Music Improvisation Company (Derek Bailey, Evan Parker, Hugh Davies und Jamie Muir) als ihre Gründungsdokumente akzeptiert. Längst gibt es eine Art traditionalistische Voraussetzungslosigkeit: Musiker, die so »rein« improvisieren wollen, dass sie in ihrer abstrakten Radikalität überhören, wie vorhersehbar ihr Zusammenspiel gerät - weil sie nämlich aus Angst, irgendeinen »idiomatischen Fehler« zu machen, jedes lebendige (angstfreie!) Zusammenspiel zerstören.

Diesen Problemen der Improvisation entkommt man allerdings ganz einfach, indem man den Spieß umdreht - Improvisation nicht als heiligen Zweck verklärt, sondern als am besten geeignetes Zugriffsmittel auf halbverschüttete Erinnerungen, die eigene Phantasie und die Lust am Zusammenspielen entdeckt.

1978 erschien auf FMP ein ziemlich ungewöhnliches Album. Nun, damals erschienen auf dem Label viele ungewöhnliche Alben. Die Duo-Aufnahmen von Radu Malfatti und Stephan Wittwer, die ersten Lebenszeichen von Voice Crack (Andy Guhl/ Norbert Möslang), »Der Traum der roten Palme« von Martin Theurer und Paul Lovens. Radikal experimentelle Musiken von ungebremster Entdeckerlust.

Aber jenes 78er-Album unterscheidet sich noch einmal ums Ganze von den anderen. Ihnen ist nämlich gemein, dass die Musiker auf ihren jeweils angestammten Instrumenten spielen. »Buben« (FMP 0530), das gemeinsame Album von Rüdiger Carl und Hans Reichel, zeichnet sich aber dadurch aus, dass die Musiker ausschließlich solche spielen, die sie schon lange ad acta gelegt hatten. Es sind nämlich ihre ersten Instrumente, Zeugnisse aus ihrer Kindheit: Reichel ist auf der Violine, Carl auf einer Concertina, einem kleinen Akkordeon, mit dem im Zirkus gerne die Clowns hantieren, zu hören. Reichel, als Gitarrist schon damals der profilierteste Solist im FMP-Universum, und Carl, den man als mitreißenden Tenorsaxofonisten kannte, verließen auf »Buben« den geschützten Raum ihrer Virtuosität und stießen vor in eine Welt aus Anekdoten und Kindheitserinnerungen, aus Volksliedern und Improvisationen, die wie Abzählreime strukturiert waren. Konzept-Musik – die aber in keiner Sekunde ausgedacht klingt. Im Moment ihres Zusammenspiels wurde die freie Improvisation tatsächlich neu erfunden.

Carl und Reichel, die seinerzeit in Wuppertal zusammen in einer WG lebten, sind sich über die Jahre treu geblieben: Auf das »Buben«-Experiment folgte Anfang der 1980er Jahre das Bergisch-Brandenburgische Quartett (mit Luten Petrowsky und - Carls und Reichels Bruder im Geiste - Sven-Åke Johansson), schließlich die September Band (mit u.a. Shelley Hirsch und Paul Lovens). Immer geht um Gesten und Geschichten, um die große Herausforderung, einen alten Witz so zu erzählen, dass er einen noch selbst zum Lachen bringt. Die Gruppen um Reichel und Carl schaffen aus ihren Improvisationen im Handumdrehen Songs - oder präziser: musikalische Vexierbilder, in denen Melodien und Grooves, Fetzen alter Popmusik, Geschmäcker und Gerüche der weiten Welt ganz plötzlich auftauchen.

Rüdiger Carl weiß, dass man dazu eine regelrecht verschworene Gemeinschaft von Gleichgesinnten braucht, es ist ein durchgehendes Merkmal seiner künstlerischen Laufbahn, dass er immer wieder und häufig über Jahrzehnte hinweg mit denselben Musikern sich austauscht: Neben Reichel und Johansson sind das zum Beispiel Irène Schweizer, die Frankfurter Konzeptualisten Oliver Augst und Christoph Korn oder der Geiger Carlos Zingaro, mit dem Carl schon Anfang der 1990er Jahre im Canvas Trio (mit der Bassistin Joëlle Léandre) improvisierte. Und so ist Manuela, auch wenn die Gruppe insgesamt nur wenige Auftritte absolvierte, eine dieser verschworenen Gemeinschaften. Neben Carl, Reichel und Zingaro ist die Koreanerin Jin Hi Kim die vierte im Bunde. Eine Unbekannte in diesem Kreis ist sie aber nicht, so gibt es aus dem Jahr 1993 eine gemeinsame Session mit Hans Reichel.

Wer die gemeinsame Musik von Reichel und Carl kennt, weiß, dass auch für Manuela sämtliche Vorzeichen vertauscht sind. Manuelas Kunst besteht darin, dass kein Musiker sich in den Vordergrund drängelt, jeder aber nichtsdestoweniger stets präsent ist. Obwohl die Musiker das klare, direkte, aufeinander reagierende Zusammenspiel bevorzugen, der Sound also sehr transparent ist, verschwinden die Musiker doch in dem Zusammenspiel. Es gibt keine Soli und wenn, dann markieren sie weder den »Höhepunkt« eines Stücks noch den ultimativen Egotrip. Es gibt kein Leadinstrument, auch keinen zentralen Ideengeber. Manuela ist im wahrsten Sinne des Wortes eine kollektive Affäre - bei der die Musiker ihre Klangphantasien allerdings voll ausleben (das erinnert an den utopischen Sozialisten Charles Fourier, der vor 180 Jahren auf die subversiv-kuriose Idee kam, dass die Menschheit erst dann zu vollständiger Harmonie gelangen würde, wenn alle ihre Triebe und Bedürfnisse ungeschmälert zur Geltung bringen könnten).

Carl, der konsequenter noch als Reichel die Spuren der »Buben« weiterverfolgte und sich in den 1980er Jahren vom Tenorsaxofon verabschiedete, um die Klarinette und das Akkordeon zu seinen bevorzugten Instrumenten zu machen, ist hier häufig auf der Claviola zu hören, einer mutierten Mundorgel, die im Klang an die chinesische Sheng erinnert. Reichel greift kaum noch zu seiner Gitarre, sondern agiert auf dem Daxophone mit seinen tief Streich- und Klopfgeräuschen eher wie ein Percussionist, als hätte er die Rolle Paul Lovens’ aus der September Band übernommen. Jin Hi Kim kann sich mit den Klängen ihrer Komungo, der koreanischen Wölbbrettzither, frei zwischen Carl und Reichel bewegen - eher lautmalerisch, wenn es in Richtung Carl, eher rhythmisch, wenn es in Richtung Reichel geht. Sie ist omnipräsent - gerade weil sich ihr Spiel nicht aufdringlich zwischen Carl und Reichel aufspreizt, sondern genau in die Lücken stößt. Carlos Zingaro, der vor über vierzig Jahren zu den ersten John-Cage-Interpreten Portugals gehörte, mithin ein ausgewiesener Klangforscher ist, darf hemmungslos in reich verzierten, schnörkeligen Gesten schwelgen. Das wirkt paradoxerweise aber nie kitschig oder eklektizistisch, sondern folgt konsequent der gemeinsamen Generallinie.

Die Musiker gehen behutsam miteinander um, um als Gruppe umso ungestümer Motive zu entwickeln – Motive, die dann ordentlich durch den Fleischwolf gedreht werden, was auf einigen Stücken zu einem gehörigen Chaos führen kann. Aber es ist warmes Chaos, ein sanft euphorisierendes und ungemein belebendes: In ihm blitzen die Ideen für neue Grooves’n’Loops auf.

Die Botschaft dieser radikalen Improvisatoren ist, dass es ein musikalisches Leben jenseits der Improvisation gibt. Um dieses Leben kennenzulernen und seine zahllosen Mutationen und Varianten zu genießen, muss man die Improvisation gar nicht hinter sich lassen. Es reicht völlig, sie in den Dienst langer Freundschaften zu stellen.

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