FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 145

Bert Noglik

 

CHORAL-KONZERT

Er war unbedingt in seinem Kunstanspruch und nicht immer leicht im Umgang. Sich beständig an der Gleichgültigkeit seiner Umgebung reibend, hat er es sich selbst nie bequem gemacht. Manfred Schulze, einer der neue Klänge hörte, die er denen, die mit ihm musizierten, anfangs erst mühsam nahe bringen musste. Mühsam erscheint ein passendes Wort für diesen Lebenslauf, der in der sächsischen Provinz begann und vom Hauer bei der Wismut (dem von der Sowjetunion und der DDR betriebenen Bergbauunternehmen) über ein privates Musikstudium zunächst zur Tanzmusik führte. Manfred Schulzes drängte es danach, die Muster des Gängigen zu durchbrechen und sich authentisch mitzuteilen. Das verbindet ihn mit dem kreativen Imperativ des Jazz: Play Your Own Thing! Manfred Schulze, der in den sechziger Jahren mit Jazz- und Rockjazzbands zu Tanzveranstaltungen spielte, entwickelte beinahe autark eine musikalische Ästhetik, die die Normen des Alltäglichen sprengte. Warum von Manfred Schulze in der Vergangenheitsform sprechen? Er, der in seinen Schaffensjahren hochvital und ungestüm agierte, ist 1992 aufgrund einer schweren Erkrankung musikalisch verstummt und lebte seit 1994 in einem Berliner Pflegeheim, in dem er am 25. Juli 2010 verstarb. Doch Manfred Schulzes Musik lebt - nicht zuletzt weil sie sich allen Modeströmungen ihrer Zeit widersetzte - weiter, indem sie gehört und gespielt wird. Wesentlich dazu beigetragen haben die Aktivitäten der Free Music Production und das Engagement der auf diesem Album zu hörenden Musiker. Wie Johannes Bauer im Gespräch bekräftigte, ging und geht es dem Manfred Schulze Bläserquintett in dieser Besetzung darum, sich so weit wie möglich an die originalen Arrangements zu halten. Auf diese Weise leuchtet Schulzes Musik am Kräftigsten, aktualisiert durch die frischen Inventionen der Spieler.

Bemerkenswert, dass das erste Schulze Bläserquintett bereits 1969 entstanden ist, also lange vor ROVA, dem World Saxophone Quartet und anderen Bläsergruppen in der Folge des Free Jazz. Eine wesentliche Kraft zur Erneuerung schöpfte Manfred Schulze aus dem Geist der europäischen Kunst- und Musikgeschichte. Auch wenn er als Musiker und Komponist bedeutsamer war, so war ihm doch sein eigenes bildkünstlerisches Schaffen stets gleichfalls ein wichtiges Anliegen. Der Einfluss des Jazz auf Manfred Schulzes Musik umfasste die Gebiete Tonbildung, Phrasierung und Improvisation. Was die europäische Traditionen anbelangt, so bezog sich Schulze vor allem auf Kompositionstechniken und Formmodelle, die er weiterentwickelte. Heute kaum mehr vorstellbar, dass er seine visionär zu nennenden Konzepte in einem gänzlich unakademischen Milieu entstanden sind, das von den internationalen Strömungen der Gegenwartskunst weitgehend abgeschnitten war. Jenseits der Schulen und Richtungen gelang es Manfred Schulze, eine hochexpressive Musiksprache auszuformulieren. Wohl wusste er um die Klassiker des modernen Jazz wie John Coltrane und Sonny Rollins, wohl auch um die Wegbereiter der Neuen Musik wie Schönberg, Berg und Webern. Es ist bekannt, dass er den Musikern seines Bläserquintetts gelegentlich vor der Probe eine Platte mit Musik von Schönberg vorspielte, um sie von den Manierismen des Jazz abzubringen. Dennoch war ihm Jazz als Anstoß ebenso wichtig wie die Neue Musik. Free Jazz im damals praktizierten Verständnis war seine Sache nie. Kompositionen bildeten für ihn auch mehr als einen Rahmen oder einen Anlass für Improvisation. Sie erwiesen sich als essentiell für seine Musik. Im besonderen Masse - und das wird mit dieser CD hervorragend dokumentiert - inspirierte Manfred Schulze die Kunst der Choralbearbeitung, die im 17. Jahrhundert in Mittel- und Norddeutschland eine Blütezeit erlebte. Manfred Schulzes Choral-Konzert lehnt sich an die freie Form der mehrstimmigen Choralbearbeitung an, geht aber – was den Umgang mit dem Cantus firmus, den satztechnischen Verfahren, Variationen, Umkehrungen und Modulationen anbelangt – weit über die historischen Modelle hinaus. Im Verlauf der immer wieder Freiräume für Improvisationen bereithaltenden Komposition kommt es zur zunehmenden Verflechtung von Geschriebenem und spontan Gespieltem. Das vierteilige Stück B-A-C-H arbeitet permanent mit der vorgegeben Tondisposition, während Manfred Schulze seine Komposition Bounce Nr. 1 aus einem Tanzmusikstück heraus entwickelte - als Choralsatz mit unüberhörbaren Assoziationen zu „O Haupt voll Blut und Wunden“. Bei der Dresden Suite, dem markant marschrhythmisch akzentuierten Stück, handelt es sich um den 4. Satz des gleichnamigen Werkes, das Manfred Schulze Ende der sechziger Jahre als eine der ersten Kompositionen für Bläserquintett geschrieben hat.

Umfangreiche Informationen zu Leben und Werk von Manfred Schulze finden sich auf der Website http://www.manfred-schulze.de. Diese sowie die von der FMP veröffentlichten CDs und Live-Konzerte mit dem Schulze Bläserquintett mögen dazu beitragen, über die Musik von Manfred Schulze in der Gegenwartsform zu reden.

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