FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 142

Felix Klopotek

 

Jede Aufnahme Improvisierter Musik ist unwiederholbar. Ein einzigartiger Moment. Das ist ja bekannt. Es ist mitunter zu einem Klischee verkommen, mit dem man auch die Veröffentlichung zweit- und drittklassige Aufnahmen rechtfertigen kann: Ja, selbst diese Aufnahmen sind einzigartig, etwas ganz besonderes, rundum schlecht können sie deshalb gar nicht sein …

Dass Aufnahmen Improvisierter Musik unwiederholbar sind, gilt aber auch in einem anderen, größeren Sinne. Es gibt Improvisationen oder besser: Improvisationshaltungen, die pflanzen sich in zig Variationen fort: Der Musiker hat seine Sprache gefunden, und diese – niemals gleich, aber im Wesentlichen immer ähnlich – wird Session für Session, Konzert für Konzert wiederholt. Im Gegensatz dazu gibt es Konstellationen, in denen Musiker aufeinander treffen, die vorher anders gespielt haben, die nachher anders spielen, und die im Moment der Kooperation, des freien Austausches so miteinander spielen, als könnten sie nichts anderes – außer eben dies. Als gäbe es kein Außerhalb. Die Geschichte steht still. Und das ist wirklich unwiederholbar. Würden die Musiker es noch einmal miteinander versuchen, mit den besten Absichten und im Vollbesitz ihrer Virtuosität – es würde nicht mehr zusammengehen (oder entscheidend anders als gedacht).

Die ganze Zeit ist schon die Rede von »Und?«, der zweiten LP von Stephan Wittwer und Radu Malfatti, vor etwas mehr als 33 Jahren im Februar 1977 eingespielt, weniger als ein Jahr nach ihrer ersten LP »Thrumblin’«, die bereits alles enthält, was »Und?« ausmacht, aber noch im Modus des Zufälligen und Obskuren. Die Stücke von »Und?« sind von einer Intimität Vertrautheit, einer klanglichen Nähe geprägt – von einem gemeinsamen Bewusstsein also, wie die Klänge zu formen, zu stauchen und dehnen und splittern und verkleben sind, wie es selbst für die damaligen FMP-Jahrgänge (in denen so verwirrend verzauberte Alben von Norbert Möslang und Andi Guhl, Martin Theurer, Hans Reichel und Rüdiger Carl, Hugh Davies oder Michel Waisvisz erschienen) außergewöhnlich war.

»Und?« gilt in der Kritik als Geräuschmusik. Weil die Posaune nicht wie eine Posaune klingt und die Gitarre nicht wie eine Gitarre. Angeblich tönt das Album irgendwie »elektronisch«. Das stimmt alles nicht. Wer hinhört, entdeckt sehr viel Gitarrenspiel und sehr viel sehr klare Posaunenartikulationen. Richtig – die Musiker »manipulieren« ihre Instrumente durchaus, Malfatti verwendet andere Mundstücke (u.a. eines für Doppelrohrblattinstrumente), und es gibt im ersten Stücke eine zwingende, wahrlich Respekt einflößende, den Hörer geradezu ehrfürchtig machende Passage, in der Wittwer einer anderen Gegenstand (vielleicht ein zweites Saiteninstrument) auf die Gitarre schlägt, immer und immer wieder. Aber diese »Manipulationen« dienen nicht dazu, das ursprüngliche Instrument zu verleugnen, seinen Klang zu kaschieren (wieso auch?). Es sind tatsächlich Klangerweiterungen, Materialforschungen. Diese Termini werden häufig in der Neuen Musik bemüht – aber hier hören wir es wirklich, sind ganz nah dabei (ganz nah dabei: richtig. Man muss sich diese Musik als sehr leise und zart vorstellen, ihre atemberaubende Präsenz kommt nicht zuletzt dadurch zustande, dass es dem Tontechniker Hanno Ströher gelang, diese Intimität unmittelbar einzufangen: Wir hören Stephan Wittwer murmeln, seufzen und flüstern, und was sonst eher ein Begleitgeräusch ist – der Keith-Jarrett-Effekt –, wandelt sich zum integralen Bestandteil der Improvisationen).
Auch geht es bei den »Manipulationen« nicht darum, die Klänge zu zerfasern und zu vermischen. Dass beim sich Hören der Eindruck der Geschlossenheit, der Nichtunterscheidbarkeit der individuellen Spielmuster einstellt, liegt gerade nicht an einer Klangdiffusion, einer, wenn man so will, Ver-Brei-ung. Sondern an den Improvisationen selbst, an der Art und Weise, wie die Musiker im Spiel ineinandergreifen, sich ergänzen, aufeinander eingehen oder – ganz bewusst und über weiter Strecken – nebeneinander herspielen. Die Technik bzw. die »Manipulation« der Instrumente ist das Sekundäre.

Sie haben vorher anders gespielt: Radu Malfatti war in den 1970er Jahren ein Fixstern der Londoner »Südafrikaner«-Szene, jener Free Jazzer rund um die kleine Gemeinde exilierter südafrikanischer Musiker. Er spielte in der Brotherhood of Breath und in den großen Ensembles von Elton Dean, und sein Posaunenklang war groß, kräftig, mitreißend. Stephan Wittwer, der Züricher, zehn Jahre jünger als Malfatti, aber schon mit 17, 18 Jahren bei Free-Rock-Sessions dabei (»Wiebelfetzer live«) klang viel mehr nach Jimi Hendrix und Sonny Sharrock als nach Derek Bailey (der schon vor dreißig Jahren entgegen seiner »nonidiomatischen« Ansprüche auf jüngere Musiker stilbildend wirkte). In der Schweiz, wo der Kosmopolit Malfatti damals einige Jahre lebte, liefen sie sich schließlich über den Weg, drei Jahre, bis 1979, währte die gemeinsame Strecke.

Und sie haben nachher anders gespielt: Malfatti immer weniger, immer schweigsamer, immer mehr auf einzelne Aktionen in einem riesigen, unendlichen Feld des Nichts konzentriert. Wittwer immer lauter, Sludge Rock, Grindcore-Jazz und Surfimprov, bis zum ultimativen Bruch: Er spielt heute keine Gitarre mehr, setzt sich als Musiker und Komponist ausschließlich mit der Super-Collider-Software auseinander.

Wenn es zwischen beiden Musikern eine Gemeinsamkeit (und zwar wirklich nur: eine) gibt – eine, die bis zurück zu »Thrumblin’« und vor allem »Und?« reicht –, dann ist es ihr radikaler Eigensinn, eine Widerspenstigkeit gegen alle Klischees des Unwiederholbaren. Wie diese Widerspenstigkeit, diese Kraft der Negation, sich in eine Produktivkraft der Phantasie verkehrt, das erleben wir – immer wieder, seit 33 Jahren und auch noch in den nächsten 33 – auf »Und?«.

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