FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 141

Thomas Millroth

 

Der Saxophonist und die Schokoladenmühle

Viele Werke von Marcel Duchamp handeln vom Sehen. Im Allgemeinen geht es aber auch um die Wahrnehmung. Wir haben es mit ganzheitlichen Empfindungen zu tun, wobei die Erinnerung und das Wissen eine große Rolle spielen. In Duchamps berühmtem großem Glasgemälde sehen wir ganz unten ein eigenartiges Ding, eine Schokoladenmühle. Woher kommt dann die Schokolade, die gemahlen wird? Und noch rätselhafter ist, wohin sie nach dem Mahlen geht? Man muss dieses Verfahren so verstehen, diese Mühle sei die Kreativität, das Vermögen zu Verwandeln und die Spontaneität. Der Titel des großen Glases ist ”La mariée mise à nu par ses célibataires, même” / ”Die Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet”. Meinetwegen ist es eine Art Beschreibung von Musik und zwar der improvisierten Sorte.

Der alleinstehende Junggeselle mahlt, offenbar, selbst seine Schokolade. Was natürlich sexuell verstanden werden kann, aber nicht unbedingt. Starke Gefühle wie die Liebe sind wie bekannt mit der Musik eng verbunden. So ist es natürlich der Fall mit Peter Brötzmanns Musik. Am Anfang wurde viel über Kaputtspielen geschrieben. Es sollte Freiheit bedeuten. Das habe ich schon damals nicht ganz verstanden.

Ich erlaube mir noch mal die Metapher von Duchamp zu verwenden. Was ist mit der Schokolade? Kann sie musikalisch und/oder sprachlich verstanden werden? Ich meine, das ist der Fall! Welche Materie kommt in die Mühle? ZB die herkömmliche Sprache, eine Art zu reden, musizieren, schreiben und denken; und wie infolgedessen die Welt oder nur das Ambiente betrachtet wird. Die Ungewissheit, was kommt aus dieser Mühle heraus, hängt damit zusammen, dass es gerade darum geht, was uns vor kurzem recht bekannt schien und nun total verändert und verfremdet worden ist. Die Typen sind vermischt worden und wir stehen vis à vis neuen Bedeutungen gegenüber, die wir allmählich auch verstehen werden.

So geht es auch mit der Musik, die aus dieser Mühle kommt. Verwandelt hören wir Melodien, Rhythmen und andere Bestandteile. Wer lauscht wird natürlich einen gewissen Stil erkennen, sei es Blues, Bop oder Free Jazz. Die Musik ist nicht kaputtgegangen, nur das herkömmliche Hören. Der Kern bleibt, vielleicht sauberer als zuvor, da ein singulärer Musiker und Künstler Gebrauch von seiner Wahrnehmung und vor allem seinem Hören gemacht hat. Die starke Energie stammt von der Liebe zu dieser Musik. Deshalb das Streben, sie aufs neue hörbar zu machen; für sich selbst und auch für uns.

Damals, als Peter Brötzmann mit der Musik angefangen hat, war nicht nur Jazz wie Bebop und Dixieland aktuell sondern auch Fluxus und Marcel Duchamp. Brötzmann hat sich fragen müssen, wie er seine Liebe dieser Musik zeigen könnte? Seine Solos sind Aspekte dieser gestellten Frage. Der Saxophonist mahlt am liebsten selbst seine Schokolade! Die Bestandteile waren bekannt, das Hören aber nicht.

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