FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 140

Ulrich Kurth

 

Schlippenbach Quartett at Quartier Latin

Am 4. Februar 1970 startete das gerade gegründete "Alexander von Schlippenbach Trio" – mit dem Luxemburger Bassklarinettisten Michel Pilz (*1945) und dem zwanzigjährigen Schlagzeuger Paul Lovens (*1949) aus Aachen – seine erste Tournee durch die südwestdeutschen Jazzklubs. Diese kleinen, verrauchten Konzertkneipen, wie sie seit den Fünfziger Jahren in vielen Städten der Bundesrepublik entstanden waren und zum Teil noch bis heute bestehen, waren nicht nur die Orte wo Jazz zur Unterhaltung präsentiert wurde. Sie waren auch Werkstätten, wo neue Formen des Jazz geschaffen wurden. Das gilt insbesondere für das "Schlippenbach Trio", wie es später auch offiziell kurz genannt wurde. Hier hat diese radikal improvisierende, ohne vorherige Konzepte, Absprachen oder Proben spielende Formation ihre ganz eigene musikalische Sprache entwickelt. Seit nunmehr vierzig Jahren ist das Publikum Zeuge dieses immer noch andauernden und ungemein spannenden Prozesses. Das Schlippenbach Trio (seit 1971 mit Evan Parker an Stelle von Pilz) ist eine der beständigsten Formationen der Jazzgeschichte – in dieser Hinsicht allenfalls vergleichbar mit dem Modern Jazz Quartett.

Auf den Ursprung ihrer Musik aus der Jazzgeschichte legen die Musiker des Trios besonderen Wert. – Ursprünglich angeregt durch Jazzmusiker wie Oscar Peterson, Thelonious Monk, Charles Mingus und Eric Dolphy hatte der Pianist und Komponist Alexander von Schlippenbach (*1938), gemeinsam mit dem Trompeter Manfred Schoof (*1936) und dem Bassisten Buschi Niebergall (*1938) zunächst in dem 1964 gegründeten Gunter Hampel Quintett und seit 1965 unter wesentlichen Einfluss von Don Cherry und Cecil Taylor im Manfred Schoof Quintett damit begonnen, neue und vor allem eigene Formen des Jazz zu suchen. Man suchte nach einer Musik, die es einem europäischen Jazzmusiker ermöglichte, ohne seine soziokulturellen Wurzeln zu leugnen eine authentische Musik zu schaffen, die sich zu ihren amerikanischen Vorbildern bekannte und nicht in Imitation verharrte. Man stellte hergebrachte Konventionen und Regeln in Frage, ersetzte sie durch neue und bezog Einflüsse der vor allem in Europa entwickelten Formen der "Neuen Musik" mit ein. Besonders eindrucksvoll gelang dies mit dem 1966 von Schlippenbach gegründeten "Globe Unity Orchestra", an dem auch das Peter Brötzmann Trio mit Peter Kowald beteiligt war. Ursprünglich als Klangkörper für einen "Third Stream" Kompositionsauftrag zusammengestellt existiert dieses Orchester noch heute und bildet neben dem Trio einen wesentlichen Teil der musikalischen Biografie von Schlippenbach. Beide Gruppen hängen eng miteinander zusammen. Das Trio wie auch die Quartette waren und sind bis heute der Kern oder der "Motor" des Orchesters.

Das zunächst von drei Mitgliedern des Manfred Schoof Quintetts gegründete Schlippenbach Trio erfuhr eine wesentliche Umbesetzung als Ende 1970 Michel Pilz durch Evan Parker ersetzt wurde. Das zweite Trio mit Evan Parker, den Schlippenbach bei dem "New Jazz Meeting 1968" in Baden-Baden kennen gelernt hatte, war als feste Gruppe seit September 1971 in den westdeutschen Jazzklubs präsent. In einer Übergangsphase zwischen beiden Trios traten Schlippenbach, Lovens und Parker als Quartett auf, abwechselnd mit Buschi Niebergall oder Peter Kowald als Bassisten, zuweilen auch mit dem Posaunisten Günter Christmann als Ersatz für Parker.

Die Zeit zwischen 1973 und 1983 in der das Trio im Zusammenhang mit der Orchesterarbeit durch Bassisten – zunächst Peter Kowald, später Alan Silva – zum Quartett erweitert wurde, erscheint im historischen Rückblick als eine Zwischenperiode. Es war eine interessante, aber nicht zwingend notwendige Modifikation, die dem Trio eine zusätzliche Klangfarbe verliehen hat. Der Kontrabass war eine Zutat, auf die Schlippenbach seit 1983 – und nun auch im Orchester – zugunsten größerer Klarheit und Beweglichkeit im Klang wieder verzichtet hat.

Direkte Vorbilder für das basslose Trio waren für Schlippenbach Schallplattenaufnahmen – zum einen die 1962 in Kopenhagen aufgenommenen Konzertmitschnitte des Cecil Taylor Trios, zum anderen aber auch der frische und transparente Klang der Trios von Benny Goodman wie sie seit 1935 in zahlreichen Aufnahmen dokumentiert sind.

Die ersten zwei Jahre des Schlippenbach Trios sind nur durch wenige unveröffentlichte Rundfunkmitschnitte dokumentiert. Die ersten veröffentlichten Aufnahmen des Trios sind am 12. November 1972 in einem der Studios von Radio Bremen aufgenommen worden. Sie erschienen auf der LP "Pakistani Pomade", produziert und herausgegeben von der 1969 gegründeten Musikerkooperative Free Music Production (FMP). Alexander von Schlippenbach gehörte damals zum Führungskollektiv dieser für die Musikgeschichte bedeutenden Organisation, mit der sich Musiker unabhängig machten von Produzenten, um ihre neuartige Musik ohne Rücksicht auf kommerzielle Erwägungen und in eigener Verantwortung in Konzerten und auf Tonträgern zu realisieren. Die ersten von der FMP veröffentlichten LPs waren zum einen Produktionen, die die beteiligten Musiker bereits seit 1967 in eigener Regie produziert und bisher selber in ihren Konzerten oder per direkten Bestellungen und Postversand vertrieben hatten. Zum anderen waren es Aufnahmen, die mit Unterstützung einiger Rundfunkredakteure in ihren Studios aufgenommen worden sind. Seit 1974 besaß die FMP eine technische Ausrüstung, die es ermöglichte, die von ihr organisierten oder mitgetragenen Konzerte mitzuschneiden. So kamen auch die Aufnahmen des Schlippenbach Quartetts zustande, die auf der hier vorliegenden CD erstmals in digitaler Form wiederveröffentlicht werden. Die Aufnahmen aus den Jahren 1975 und 1977 stammen von zwei Konzerten der FMP in (West)Berlin, die im "Quartier Latin" stattfanden. Neben den kleineren Jazzklubs – dem Quasimodo und dem Flöz – und gelegentlich der Akademie der Künste war das in einem ehemaligen Kinosaal eingerichtete "Quartier" zwischen 1970 und 1990 der wichtigste Veranstaltungsort der Stadt für Jazz und improvisierte Musik.

Alle Aufnahmen des Schlippenbach Trios bzw. Quartetts belegen in chronologischer Folge die Entwicklungsschritte dieser Gruppe. Von Anfang an ist deutlich, dass es den Musikern hier um Energie und Intensität geht, um eine spontane, intuitiv gesteuerte Musik in der sich Tonalität bisweilen in reinen Klang und Geräusch auflöst, Rhythmus zu pulsierenden Bewegungen wird. Diese gänzlich ohne vorherige Absprachen in freier Improvisation erspielte Musik basiert im Wesentlichen auf zwei unterschiedlichen Klangstrukturen, die mit zunehmender Spielerfahrung und gegenseitiger Vertrautheit immer mehr an Vielfalt und Prägnanz gewonnen haben. Einerseits sind es hochenergetische Passagen, die auf blitzschnellen Aktionen und Reaktionen beruhen und in denen das Miteinander der Musiker mitunter auch ein gewolltes Gegen- und Nebeneinander ist. Andererseits gibt es eher ruhende Passagen, in denen geräuschhafte Klangtexturen übereinander geschichtet werden. Diese oft überraschenden und bisher ungehörten Klänge erinnern zum Teil an das, was man bisher als "Musique Concrète" und elektronische Musik kannte, zum Teil aber auch an Naturgeräusche. Produziert werden diese Klänge ohne Zuhilfenahme von Elektronik, ausschließlich akustisch durch Erweiterungen des Instrumentariums und instrumentaler Spieltechniken.

Es gab kein vorgefasstes Konzept für diese Musik und unter den Musikern wurde selten darüber gesprochen. Es war ein rein musikalischer Verständigungs- und Entdeckungsprozess in dessen Verlauf man zu einer gemeinsamen Sprache gefunden hat. Jeder Einzelne entwickelte zwar individuell seine instrumentalen Fertigkeiten und betrieb Klangforschung auf dem eigenen Instrument – die Gruppe traf sich aber niemals zu Übungszwecken. Die Musik wurde Schritt für Schritt vor Publikum, bei den zahlreichen Auftritten in den Jazzklubs erspielt. Gespielt wurden und werden bis heute in der Regel zwei nicht unterbrochene Sets von 45 – 60 Minuten. Diese Sets sind in unterschiedlich lange Sequenzen untergliedert, Spannungsbögen mit unterschiedlichen Klangstrukturen, die entweder fließend ineinander übergehen oder scharf voneinander abgesetzt sind.

Die Vorbereitung der von der FMP aufgenommenen Konzertmitschnitte für die Veröffentlichung erfolgte immer gemeinsam mit den beteiligten Musikern. So sind auch die vorliegenden Aufnahmen des Schlippenbach Quartetts nicht einfache Dokumentationen der Konzerte. Sie geben nicht den tatsächlichen Spielverlauf wieder. Wie bei der Produktion eines Filmes erfolgte die Edition am Schneidetisch, wobei aus den langen Sets die am besten gelungenen Sequenzen herausgeschnitten. Diese unterschiedlich langen Sequenzen erhielten nach dem Schnitt Titel und aus urheberrechtlichen Gründen einen der beteiligten Musiker als "Komponisten". Erst 1977 war es möglich, bei der GEMA auch Komponistenkollektive als Urheber anzugeben und den Tatsachen entsprechend alle Spieler als Komponisten anzugeben. Es gehört zu den Besonderheiten der Musik von Schlippenbach, dass diese Auszüge aus dem kontinuierlichen Spielfluss in sich durchaus stimmig klingen und eine musikalisch logische Entwicklung aufweisen. So intuitiv und spontan der Schöpfungsprozess dieser Musik war, so streng und kritisch war der nachträgliche Auswahlprozess für das was man dauerhaft erhalten wollte.

Zur Vorbereitung dieses Textes wurden im September 2010 zwei ausführliche Gespräche mit Alexander von Schlippenbach und Paul Lovens geführt.

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