FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 139

Ulrich Kurth

 

Schweizer - Carl - Moholo: Warum ein Wiederhören nach 35 Jahren?

Die neue Auffassung des Klanges wirkte befreiend. Cage sagt: «Jedes Geräusch ist Musik».
Wir hatten es satt, den funktionsharmonischen Abläufen zu folgen:
Thema, Solo, Variation, Thema.
Wir hörten zusammen die neuen Platten vom New York Art Quartett von John Tchicai und Roswell Rudd, von Cecil Taylor, Archie Shepp, Paul Bley, Charlie Haden, der ganzen Bewegung der «October Revolution». Jede neue Platte war ein Ereignis.
Irène Schweizer über die 60er Jahre (2002)

Sounds aus einer Zeit, als Kritiker den freien Jazz noch als diesseitigen Höllenklang verunglimpften, Fans jedoch die Einlösung des epochalen Versprechens einer großen Freiheit witterten. Schließlich gehören Irène Schweizer, Rüdiger Carl und Louis Moholo zu den Arbeitern im Steinbruch der improvisierten Musik, die zunächst grenzenlos schürfen, um sich ihre klingende Wahlheimat zu erschließen.
Hexensabbat heißt eine der frühen Soloplatten Schweizers. Aufmerksame Hörer haben jedoch schon damals die Spuren polytonaler Akkorde oder geschichteter Kontrapunkte in ihrem Spiel bemerkt. Da trafen sich intellektuelles Handwerk und die Emotion unmittelbarer Erfindung in berückender musikalischer Substanz.
Die FMP war erst sieben Jahre alt, das Total Music Meeting acht. Sie war für die Mütter und Väter der europäischen Impro-Szene längst eine erste Adresse, auch für Rüdiger Carl und Louis Moholo, der damals gemeinsam mit den Blue Notes aus Kapstadt über einen Zwischenaufenthalt in Zürich ins Exil nach London gegangen war.

Das Trio mit Rüdiger Carl und Louis Moholo entwickelte sich dann für mich zu einer der wichtigen Gruppen der frühen siebziger Jahre.
Irène Schweizer (2002)


Sie zogen auf Tourneen und Festivals über europäische Konzert- und Clubbühnen unterstützt von dem internationalen Netzwerk, zu dem sie selbst gehören. Das Moers Festival, der Workshop Freie Musik in Berlin und der Steirische Herbst in Graz mauserten sich zu Fixpunkten der Szene im Jahresverlauf.
Das New Jazz Festival Moers war 1975 vom Schlosshof in den Freizeitpark umgesiedelt, weil der Platz im Schloss für die vielen Besucher zu klein geworden war.

Ich begann in den siebziger Jahren mit dem Inside-Spiel. Das Klavier habe ich aber, im Gegensatz zu vielen Komponisten der Neuen Musik, nie präpariert. Ich habe spontan, so wie ich auch sonst frei gespielt habe, auf den Saiten gespielt, oft sehr perkussiv mit Schlagzeugstöcken, Cymbals, Mallets, Kugeln. Der Flügel wurde so als Ganzes zu einem neuen Klangkörper, der nicht nur Tasten, sondern auch Holz und Saiten hat.
Irène Schweizer (2002)


Schweizer beginnt das Stück Messer von Rüdiger Carl mit gezupften und abgedämpften Saitenklängen, die als Eröffnung eine erwartungsvolle Atmosphäre schaffen, die Moholo mit Rasseln verdichtet. Dazu kommt das Tenorsaxophon mit stochastischen Figuren. Sie münden in einem aufrüttelnden hohen Geräuschton, der diese Phase des aufeinander Zugehens abschließt und zur Ensembleimprovisation überleitet. Ein stürmischer Energiefluss beginnt, den die drei Musiker in auf- und abschwellenden Wogen durch ihre Interaktion bewusst filtern. Abwechslungsreiche Passagen mit für Orientierung sorgenden musikalischen Gesten. Dabei kann es sich etwa um Stakkatolinien des Saxophons, Cluster auf dem Klavier oder einen Puls der Perkussion handeln. Sie steigern sich nicht in einen indifferenten Improvisationsrausch, sondern achten aufeinander und verarbeiten ihre Impulse weiter. Es ist ein gelassener Prozess mit Ruhe- und Wendepunkten, mit Steigerungsphasen und Klangfeldern am Rande des Verstummens oder bedrohlicher Eindringlichkeit. Der überraschende Schluss nach einer letzten kollektiven Steigerung sorgt für eine geradezu organisch gewachsene Gestalt.
Mit diesem ersten Stück hat sich das Trio eine tragfähige Basis gelegt, die ihnen noch viel weitergehende Exkursionen ermöglicht. Das nächste Stück kann auf eine vorsichtige Annäherung verzichten und bewegt sich über eine perlende Linie des Klaviers sogleich auf ein hohes Energielevel. Eine über einem geraden Puls (8/8) insistierende Akkordfigur zeigt Schweizers perkussive Möglichkeiten und treibt die Interaktionen an. Schließlich ist sie auch Schlagzeugerin. Moholo greift den Puls auf und markiert einen bohrenden Drive, der eine an den Jazz grenzende Substruktur legt. Seine Auflösung in ein frei gestaltetes Klangfeld mit erweiterten Spieltechniken führt zu strukturierten Abläufen, die den Einfluss des energy play afro-amerikanischer Herkunft in diesem Trio erinnern. Irène Schweizer zählt Cecil Taylor zu ihren Vorbildern und hat auch in Zürich intensiv mit südafrikanischen Musikern im Exil gearbeitet, u.a. mit Dollar Brand (aka Abdullah Ibrahim) und dem Schlagzeuger Makaya Ntshoko, mit dem sie im gleichen Jahr (1975) beim Jazzfestival in Willisau auftrat.
Die folgenden beiden Stücke entstanden nicht in der gelösten Atmosphäre des open-air-festivals, sondern in der Akademie der Künste in Berlin, im Konzertsaal. Göndsimitenand könnte ein Appell in der improvisierten Musik sein: Geht miteinander! Und das tun sie. Moholo mit differenziertem polyrhythmischem Schlagzeugspiel, Carl mit rufenden Saxophonphrasen, die die vokalen Qualitäten der Improvisation betonen, Schweizer mit scharfen, genau platzierten Akzenten aus ihrem Thesaurus von Klangcharakteren des Klaviers.
In der durchbrochenen Textur von Carls Conn-Conn - erweitert mit Klarinette und Piccoloflöte - verstärken sie das kammermusikalische Prinzip des Gesprächs gleichberechtigter Musiker. Die Frage und Antwort-Einwürfe führen auch zu einem starken Groove, der episodisch bleibt, aber auch ein tragendes Gerüst für eine Phase geben kann.
Tuned Boots enthält eine Steigerung der Intensität. Schweizer spielt über längere Strecken auf den Saiten und dem Rahmen des Flügels mit Trommelstöcken und –schlegeln und provoziert dadurch eine hitzige Interaktion, deren Beklemmung durch ironische Marschpatterns aufgelöst wird.

Ich war auch überrascht, wieviel ich auf den Saiten gespielt habe. Ich war damals fasziniert, die Möglichkeiten des Inside-Spiels auszukundschaften und zündete ein klangliches Feuerwerk.
Irène Schweizer (2002)

Diese Trio-Aufnahmen der 70er Jahre sind heute ein bewegendes Dokument einer Musik, die damals gerade erst Konturen annahm. Sie sind keine vorbereitenden Übungsstücke für spätere Meisterwerke, sondern tatsächlich ein klingendes Feuerwerk der neuen Ideen, deren emanzipatorische Spuren die aktuelle Waren-Ästhetik im Musikbetrieb allzu leicht in ihrem Diktat der Marken verwischen möchte.

Zitate: Patrick Landolt, Interview Irène Schweizer 2002, www.intaktrec.ch

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