FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 138

Bill Shoemaker

 

In Berlin

Kurz nach der Veröffentlichung von Reflections, seinem bahnbrechenden Album mit Kompositionen von Thelonious Monk auf dem Prestige/New Jazz Label im Jahr 1958, meinte Steve Lacy in einem Artikel im Magazin Jazz Review, dass “Musik auf vielen verschiedenen Ebenen verstanden werden kann. Als angeregtes Sprechen, Imitation von Klängen der Natur, abstrakte Reihe von Symbolen, Offenlegen von Gefühlen, Illustration zwischenmenschlicher Beziehungen, intellektuelles Spiel, als ein Mittel Träume zu erwecken, als Paarungsruf, als eine Reihe dramatischer Ereignisse, Ausdruck von Zeit und/oder Raum, als sportlicher Wettkampf oder als all dies gleichzeitig.”

Siebzehn Jahre später war die Musik des Sopransaxophonisten zu ihrer vollen Reife gelangt. Lacys kompositorische Sprache war auf einzigartige Weise unverwechselbar, hatte sich aber genügend Flexibilität erhalten für seine ersten Ausflüge über die neueste Schwelle – Solo Saxophonmusik. Im Gegensatz zu Anthony Braxton, der hauptsächlich eigens für Solosaxophon geschriebene Kompositionen spielte oder Evan Parker, der frei improvisierte, wählte Lacy Kompositionen, die er auch mit seinem Quintett und in anderen Settings spielte. Während er seine Soloarbeit nach seinem bahnbrechenden Auftritt in Avignon 1972 weiter ausbaute – zusätzlich beschleunigt durch die 1974er Veröffentlichung auf Emanem – entwickelte Lacy einen ganzheitlichen Ansatz des Solospiels, in dem er sich auch auf die Abfolge von Kompositionen konzentrierte, in Anlehnung an Lester Youngs Axiom, dass jedes Solo eine Geschichte erzählen soll, woraus dann in der Folge eine Art Sammlung von Kurzgeschichten entstehen sollte.

Stabs ist ein ausgezeichnetes frühes Beispiel dafür, wie Lacys nachdenkliche Sensibilität Aufnahmen hervorbrachte, die den komplexen Kriterien entsprachen, die er als 25jähriger formuliert hatte, als er sich seinen Weg auf der komplizierten New Yorker Szene bahnte. Es ist ein bewusst aufgebautes Album, die Titel von Lacy in Postproduktion in Reihenfolge gebracht. Für die A-Seite wählte Lacy drei Stücke aus seinem Konzert im Quartier Latin im Rahmen des Total Music Meetings im November 1975. “Deadline” und “Coastline” bildeten die zweite Seite von The 4 Edges; in den seltenen Fällen, in denen das Werk komplett aufgeführt wurde, wurden diese Stücke umgekehrt. “The duck” – auf anderen Aufnahmen der siebziger Jahre als “Ducks”, “The New Duck” und “Swiss Duck” veröffentlicht – demonstrierte Lacys Einsatz erweiterter Spieltechniken. Auf Axieme (Red), zwei Monate davor aufgenommen, platzierte Lacy “The New Duck” zwischen “Deadline” und “Coastline”, allerdings mit weniger überzeugendem Erfolg. Mit Stabs spannt Lacy einen eleganten Bogen vom wehmütigen Lyrismus von “Deadline” über die in “Coastline” versprengten jazzigen Phrasen bis hin zum Schnattern und Huschen in “The duck.”

Die B-Seite des Albums stammt nach Ansicht einiger Dis kographen von einem Konzert Lacys im April ’75 beim Workshop Freie Musik, veranstaltet in der Akademie der Künste; tatsächlich ist es eher eine After-hours Session, da das Material aufgenommen wurde, als sich der Saal nach dem Konzert schon geleert hatte. Ganz offensichtlich lag Lacy ein solcher Rahmen; diese Aufnahmen mit den damaligen Grundpfeilern seines Solosets gehören wohl zu den besten aus dieser Zeit. Auf dem Papier ist “Cloudy” eine eher trockene Angelegenheit, eine Folge von elf Zwölftonreihen; Lacy aber widmet jeder langen Note des Eröffnungsstatements eine einnehmende Introspektion, die seine Improvisation vorantreibt. Andere Versionen von “Moon” sind nur eine Andeutung der vier Säulen von Material; sie werden etwas deutlicher in dieser Version, die mit erstaunlich hoch angesetzten Tönen endet. Obwohl Lacy die Aufnahme mit einer starken Version von “No Baby” beendet (das zentrale Stück im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Dynamik in Findings: My experience with the soprano saxophone [CMAP/Outre Mesure; Paris; 1994]), ist das Titelstück die Perle dieser Aufnahme. Es ist ein grandioses Beispiel dafür, wie Lacy akribische Untersuchungen verschiedenster Tonlagen zueinander mit kraftvollen Passagen verband und damit fesselnde Solo Saxophonmusik schuf. Dies ist inzwischen die letzte Aufnahme auf CD, die es von diesem Stück noch gibt; Lacys einzige andere Aufnahme davon ist auf einer seltenen japanischen LP zu finden, Live at Mandara (Alm; 1975).

Im April ’77 spielte Lacys Quintett mit Irène Aebi, Kent Carter, Oliver Johnson und Steve Potts in der Akademie der Künste im Rahmen des Workshop Freie Musik, das Konzert wurde auf Follies veröffentlicht. Durch den Verfall der Tonbänder konnte die ursprüngliche A-Seite der LP nicht für diese Aufnahme verwendet werden. Dennoch bedeutet die Zerstörung dieser Aufnahmen von “The crust” und “The throes” nur kleinere Lücken auf der digitalisierten Aufnahme, verglichen zum Verlust der glänzenden Septett Performance von “Prospectus” aus dem Jahr 1982 auf der hatART LP Box mit gleichem Namen. Hinzu kommt, dass dies nicht die erste Version von “The Crust” ist, die verschwunden ist; die Aufnahme von 1973, die den Titel für Lacys zweite Emanem Collection gab, wurde auf der Kompilation Saxophone Special + von 1998 ausgelassen. Von “The Throes”, ist dies die einzige Aufnahme mit Lacys Quintett; eine Quartett Version, aufgenommen Anfang ’77, erschien auf einer anderen seltenen LP, Raps (Adelphi).

Trotz allem demonstrieren die noch existierenden Aufnahmen auf starke, wenn auch flüchtige Weise, dass Lacys Quintett eine der wichtigen ‚working bands’ dieses Jahrzehnts waren. “Esteem” und “Follies” bringen die beeindruckende Breite des von diesem Quintett angebotenen Materials auf den Punkt und veranschaulichen seine einzigartige Chemie. Lacy nahm “Esteem” zwischen 1972 und 2001 neunmal auf, allein viermal zwischen 1992 und ’94. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lacy das Stück größtenteils umgeschrieben, angepasst für Pianisten wie Gil Evans und Mal Waldron. Es ist die letzte, längste und intensivste der drei Quintett Aufnahmen, die der ursprünglichen Linie des Stückes folgt. Der rau emotionale Grundton dieser Version steht im Gegensatz zur getragenen Ehrerbietung, zu der sich das Stück später entwickelte. Von “Follies” ist dies die einzig erhaltene Aufnahme, eine ausgelassene Linie, unterlegt mit einem wiegenden Rhythmus. Bei dieser Gelegenheit wurde das Thema schnell fallengelassen zugunsten einer Passage mit voller Power, die den stilistischen Kontrast zwischen Lacy und Potts, Aebis interstitieller Rolle im Ensemble und dem vom Carter-Johnson Tandem geschaffenen glühenden Momentum hervorhebt.

Hören Sie diese Sammlung mit einem gelegentlichen Blick auf Lacys Worte in der Jazz Review; zweifellos wird eines der Kriterien mitschwingen, in dem was Sie in diesem Moment hören. Am Ende der Aufnahme wird man sie sicher alle gehört haben, und vielleicht sogar alle auf einmal.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

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