FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 136

Thomas Millroth

 

Der internationale Dialog der Meister

Als ich diese Duo Aufnahme von Peter Brötzmann und Andrew Cyrille das erste Mal hörte, fiel mir direkt das leichte und jazzige Gefühl auf. Die Musiker genossen ganz offensichtlich den Augenblick. Das war nicht, was ich damals erwartete hatte, denn man hört Musik ja immer im Kontext ihrer Zeit. Und die Zeiten waren damals anders als heute. Die dramatischen Tage des Protestes und des Kampfes lagen noch nicht weit zurück. Aber wie bei jeder guten Musik kann man immer noch ihre Kunst genießen – leidenschaftlich, stark und voller Freude – und die Zeit vergessen – sie Geschichte sein lassen.

Free Jazz hatte sich in den sechziger Jahren in den USA und Europa entwickelt. In Amerika hatte er um kulturelle Anerkennung gekämpft und ein starkes Bewusstsein für Gesellschaft, Politik und die eigene Tradition entwickelt. Andrew Cyrille war als Musiker durch eine der wenigen eigenständigen künstlerischen Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts, den Jazz, geprägt und stand in der Tradition von Giganten wie Philly Joe Jones, Coleman Hawkins, Illinois Jacquet, Rahsaan Roland Kirk und vielen anderen. Er konnte das Schlagzeug zum Singen bringen und verstand es meisterhaft, Zeit und Raum polyrhythmisch zu betrachten. Das starke amerikanische Erbe war problematisch für die europäische Szene, wo Jazz ebenfalls seit den zwanziger Jahren eine wichtige Rolle spielte. In gewisser Weise hatte das mit einer Befangenheit der europäischen Musiker zu tun. Amerikanische Jazzmusiker, die Europa besuchten, wurden oft als Leitfiguren gesehen für das, was vor sich ging. Natürlich gab es auch europäische Spieler, deren Musik ein eigenständiger Beitrag zur ausdrucksstarken Kunstform des Jazz war, wie z.B. den Bariton-Saxophonisten Helmut Brandt, einer der Musiker, die der junge deutsche Künstler Peter Brötzmann in den späten fünfziger Jahren gerne hörte.

In den frühen sechziger Jahren wurde der Avantgarde Jazz in den USA immer wichtiger; man kann von einem goldenen Zeitalter sprechen. 1964 begann Andrew Cyrille, mit dem Pianisten Cecil Taylor zu spielen und es folgten 11 wichtige Jahre. Es erübrigt sich, die Reihe der klassischen Free Jazz Aufnahmen dieser Gruppe aufzulisten, Unit Structures, Conquistador, Nuits de la Fondation Maeght 1-3, Akisakila und so weiter. Cecil Taylor und seine Musiker konzentrierten sich stark auf den Klang, auf die verschiedenen Klänge, die durch die Wechselbeziehung der einzelnen Instrumente entstehen. Die Kompositionen waren dichte Gefüge, die heftige Energiefelder erzeugten. Ihre Musik nannte sich Free Jazz, aber sie vergaßen dabei nie die musikalische Ordnung, im Gegenteil, organische Einheit stand an erster Stelle. Die Freiheit, die sie erreichten beruhte auf ihrer Fähigkeit, den Klang zu vertiefen und den Raum innerhalb der Tradition des Jazz zu erweitern. Natürlich gab es dabei unterschiedliche Vorgehensweisen. Andrew Cyrille z.B. hörte Westafrikanische Drummer und arbeitete in Perkussions Gruppen. Daraus entwickelte sich die melodische Qualität der Musik. Verstärkt wurde dies durch polyrhythmische Muster und die Vielschichtigkeit des Sounds. Diese Qualitäten werden auch auf einer weiteren klassischen Aufnahme sehr deutlich, an der Andrew Cyrille mitgewirkt hat, Dialogue of the Drums mit Milford Graves.

Währenddessen änderten sich die Dinge grundlegend in der europäischen Kunst- und Musikszene. Es entwickelten sich neue Wege des Spielens und des Hörens, und das sollte das Selbstbewusstsein der europäischen Improvisatoren in allernächster Zukunft ändern. Die Fluxus-Bewegung brach die Gesetze der Kunst auf. Das beeinflusste auch Peter Brötzmann, damals ein junger Künstler, der die Situation in der bildenden Kunst leid war und sich jetzt mehr der Musik zuwandte. Fluxus war mehr das Produkt einer avantgardistisch musikalischen Sichtweise als der visuellen Kunst. Man benutzte verschiedene Arten von Partituren und schuf Events, die es grundsätzlich jedem ermöglichten sie zu interpretieren und zu spielen oder aufzuführen. Einer der wichtigsten Künstler, Nam June Paik, nannte dies den do it yourself Ansatz. Paik, wie auch seine Partnerin Charlotte Moorman, waren sowohl Musiker als auch Komponisten, und ich bin überzeugt, dass diese neue Art des kreativen Schaffens, die sehr ad hoc schien, selbst wenn Dinge vorgegeben waren, einer der Ausgangspunkte des europäischen Free Jazz und der Improvisierten Musik war. Für einen jungen Menschen wie Peter Brötzmann, der in Nordrhein Westfalen lebte, gab es viele Möglichkeiten sich an dieser neuen Bewegung zu beteiligen. So war z.B. die legendäre Galerie Parnass in Wuppertal eines der Zentren der neuen Kunst und Musik mit wichtigen Gästen wie den schon erwähnten Paik und Moorman. Brötzmann war für kurze Zeit in der Fluxus Bewegung involviert. Und er gründete schon sehr bald eigene Gruppen. Der do it yourself Ansatz bereitete nicht nur den Boden für eine andere Art Jazz zu spielen, ohne den US-Stil zu kopieren, auch wenn die amerikanischen Musiker immer noch Helden waren. Er brachte Brötzmann auch dazu, sein eigenes Label BRÖ zu gründen, auf dem die ersten bahnbrechenden Alben Machine Gun und For Adolphe Sax erschienen. Dies war ein künstlerisches Gesamtprodukt, da Brötzmann auch das typische Design und die Typographie schuf, die dem Deutschen und dem europäischen Free Jazz für die folgenden zehn Jahre und noch darüber hinaus seine visuelle Identität gaben. Man werfe nur einen Blick auf die Cover der Free Music Production und die Poster des Total Music Meetings und dieser Standpunkt wird deutlich.

Man könnte diese neue europäische musikalische Freiheit natürlich als Jazz klassifizieren. Die Energie war die gleiche, aber die Gesten waren vollkommen anders. Ich glaube, das lag an einem neuen Selbstbewusstsein der jungen Europäer. Sie überschritten mit ihren Instrumenten die bestehenden Grenzen und sowohl die Holzblasinstrumente als auch die Percussion wurden neu definiert. Sie schufen sich ihre eigene Geschichte. Es entstand eine sehr komplexe Form von Musik, auch wenn es Stimmen gab, die den neuen Deutschen Free Jazz als ”kaputtspielen” bezeichneten. Und das taten sie wirklich, die Kraft war stark, aber daraus entstand etwas Anderes, Neues. In diesen Tagen wollten viele Free Jazz Fans, so wie auch ich, diese schockierende Kraft hören. Wenn man diese Musik heute hört, wird aber auch ein starkes Gefühl für Form und Anklänge an verschiedene Traditionen deutlich. Es ist offensichtlich, wie Brötzmann kurze Einblicke in seine eigene Jazzgeschichte gibt, von seinem alten Penaten Sidney Bechet bis hin zu Märschen, die mit einem gewissen Schuss Humor versehen werden. Man kann sagen, dass diese musikalische Forschungsexpedition eine Art Untersuchung ist, auch auf existentielle Weise, die neue Muster in seiner Musik schuf. Und man könnte sagen dass, während die amerikanischen Musiker bereits eine stark ausgeprägte Tradition hatten, die Europäer noch danach suchen mussten und herausfinden, wie verschieden und vielfältig sie war, und sie sogar erst noch neu erfinden. Diese Suche nach Identität war ein wichtiges Thema im frühen Free Jazz und der Improvisierten Musik.

Andrew Cyrille und Peter Brötzmann waren also zwei Musiker mit unterschiedlichem Hintergrund, auch wenn die Jazztradition ein gemeinsames Fundament bildete, beide arbeiteten offen mit einem Bewusstsein von Form, das ebenso stark ausgebildet war wie ihr musikalisches Selbstbewusstsein. Meisterhaft schuf Cyrille eine polyrhythmische Interrelation zwischen den verschiedenen Teilen seines Schlagzeugs und nutzte das Timbre in einer Weise, die Brötzmann jazziger spielen ließ, als man es in diesen Jahren erwartete. Man kann Anklänge an Rollins oder Coltrane erkennen, wenn man genau zuhört, aber vor allem den Jazzer Peter Brötzmann selbst mit einem gewaltigen Klang und Fluss. Er spielt mit einer brennenden Kraft, die er sicherlich auch aus der Freude über das Treffen mit einem Meister der amerikanischen Jazztradition schöpft. Zusammen spielen sie eine Musik die singt! Auf der anderen Seite genießt man wie Andrew Cyrille mit Brötzmann zusammenspielt und sie dieses Jazz-Gefühl hinter sich lassen und sich in einem humorvollen do-it-yourself-Fluxus-Ansatz zusammenfinden. Wenn ich diese Musik heute höre, muss ich einfach glücklich lächeln und auch daran denken, dass Peter Brötzmann eine Schlüsselfigur war, wenn es darum ging, Musik und Musiker aus Europa und den USA in einer Band zusammenzubringen. Damit war er nicht der einzige oder gar der erste in diesem Abschnitt der Geschichte des Free Jazz (siehe Anthony Braxton und Derek Bailey 1974!). Aber Brötzmann ging noch weiter, als er später kleine Gruppen mit führenden amerikanischen Musikern gründete, und als er mit der Gründung des Chicago Octets und Tentets in den neunziger Jahren ein wichtiger Teil sowohl der europäischen als auch der amerikanischen Szene wurde. Und so wurden Free Jazz und Improvisierte Musik eine internationale Angelegenheit.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

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