FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 127

John Corbett

 

In der manchmal hermetischen Welt der freien improvisierten Musik gibt es kontrastierende Tendenzen zwischen Zersplitterung und Vermischung. Musiker zieht es oft gerade zu Gleichgesinnten, die ihre Sicht der Dinge, ihre ästhetischen Ziele, ihren Geschmack teilen. Deshalb erleben wir manchmal eine Art von 'Balkanisierung' und die Musik zerbricht in viele kleine Lager. Oft hängt das zusammen mit der Frage nach dem anhaltenden Einfluss des Jazz – gerade in den siebziger Jahren gab es dieses 'Schisma' zwischen Jazzern und Nicht-Jazzern, vielleicht am besten verkörpert durch Steve Lacy (der Sopran-Saxophonist, der immer dem Jazz verbunden geblieben ist) und Derek Bailey (nach eigener Definition kein Jazzmusiker, der Gitarrist, der sich gerade erst – überraschend – seiner Jazzwurzeln erinnert hat, obwohl er sich jahrelang öffentlich gefragt hatte, warum irgendjemand so etwas tun sollte).

Trotz dieser Unterschiede haben Lacy und Bailey großartige Musik zusammen gemacht. In manchen Fällen war es zu Lacy’s Bedingungen – zum Beispiel Bailey’s Auftritt auf Lacy’s Aufnahmen THE CRUST oder DREAMS, manchmal war es definitiv auf Bailey’s Terrain – besonders natürlich im Fall der Company Aufnahmen. Trotz allem suchten und fanden der Gitarrist und der Saxophonist Gemeinsamkeiten, und wo sie keine fanden, gelang es ihnen Wege zu entdecken, ihre Interessen auf provokative Weise gegenüberzustellen. So war es Menschen mit so grundverschiedenen Idealen und musikalischen Standpunkten möglich, sich respektvoll zu begegnen, ihre Erkenntnisse zu verbinden, einen Treffpunkt zu finden.

Das Wesentliche ist, dass improvisierte Musik Platz für Begegnung schafft, ganz einfach. Man braucht keine Vereinbarung, keine zwingende Übereinstimmung. Reibung kann produktiv sein; Unterschiedlichkeit kann zu Vielfalt führen. Und wenn Leute zusammenkommen und Gemeinsamkeiten suchen, anstatt einfach nur ihre Unterschiede gegen einander zu stellen, bringt das manchmal Erstaunliches über sie zum Vorschein, Dinge, die sie sonst vielleicht nicht gefunden hätten.

Jean-Marc Montera und Louis Sclavis sind Französische Improvisatoren (Montera ist, genau genommen, Korse). Sclavis kommt aus Lyon, wo er in den späten siebziger Jahren anfing, Klarinette in der Marvelous Band, Marmite Infernale und beim Workshop de Lyon spielte und auch schon mit verschiedenen französischen Größen (unter anderem dem Henri Texier Quartett) und Chris McGregor’s Brotherhood of Breath arbeitete. Er ist der wohl erfolgreichste zeitgenössische französische Jazzmusiker, mit einer Unmenge fantastischer Aufnahmen auf ECM seit 1991, und er hat mit vielen der wichtigsten Vertretern der Szene gespielt. Montera kommt aus Marseille und ist mit Mitbegründer von GRIM (Groupe de Recherche et d'Improvisation Musicales). Er hat immer den Kontakt zu Künstlern anderer Bereiche gepflegt, hat Musik geschrieben für Film, Theater und Tanz. Und er hat intensiv gerade mit einer ganzen Reihe von Musikern gespielt, die Sclavis eher fremd sein dürften, wie die schrägen punk-noise Improvisatoren um den Sonic Youth-Gitarristen Thurston Moore. Man kann fast sagen, dass diese beiden Musiker einen divergierenden, sogar entgegen gesetzten Sinn für Ästhetik haben.

Aber egal. In der improvisierten Musik können sich diese Wege kreuzen und das auf eine sehr produktive Art und Weise. Und wie sich herausstellt, haben sich diese beiden französischen Musiker eine Menge zu sagen. Eindeutig bringt Montera’s Spielweise der Tabletop-Gitarre – er behandelt das Instrument eher als Geräuscherzeuger denn als Melodiequelle – die rauere, mehr Geräusch orientierte Seite von Sclavis zum Vorschein. Der Klarinettist verfügt über ein riesiges Vokabular, mehrere Sprachen, und bewegt sich mit überraschender Geläufigkeit in der wüsten Welt der 'noise-guitar'. (Ein interessanter Kontrast zu dem Gitaristen, den Sclavis in seinen eigenen Ensembles benutzt, Marc Ducret, der auch rau spielen kann, eigentlich aber einen ausgeprägt melodischen Ansatz hat). Tatsächlich spielt Sclavis in dieser eher aggressiven und forschenden Umgebung beinahe furchteinflößend, seine Fähigkeiten auf der Klarinette scheinen grenzenlos.

Es ist interessant zu sehen, wie Montera den anderen Weg geht, nicht weicher spielt oder seine Methoden ändert, sondern Soundfelder entwickelt, die den Partner perfekt ergänzen, manchmal mit spitzen Läufen ("Roman/chapitre 4"), manchmal in einem rhythmischen Tandem mit Sclavis ("Roman/chapitre 6"), oder er schafft ein üppiges Bett oder Soundfeld, in dem Sclavis ausgelassen herumtoben kann.

Unterschiedlichkeit muss nicht unvereinbar sein. Sie muss auch nicht negiert werden. Sie kann gefeiert werden, kultiviert werden, vergoldet. Vivre la différence!

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

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