FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 126

Volker Spicker

 

Ich erlebe selten Konzerte, die ich nicht mehr vergesse, weil sie eine so enorme, vielleicht sogar vollkommen neue musikalische Erfahrungen boten. Die Konzerte des Cecil Taylor Ensembles auf dem 29. Total Music Meeting der Free Music Production im November 1996 im Berliner Podewil waren solche einzigartigen Möglichkeiten, tiefste musikalische Erfahrungen zu machen. Auch, wenn man den Free Jazz oder die frei improvisierte Musik zu vertrauten musikalischen Gefilden zählt, strömt hier die Energie so unmittelbar, komplex und transparent, so mitreißend und umwerfend, dass man sich beim Hören gut vorstellen kann, wie unvergesslich diese Konzerte waren, hatte man das Glück, dabei sein zu können. Konzerte von Cecil Taylor, solo wie in verschiedensten Ensemble-Konstellationen, sind schon seit Jahrzehnten Höhepunkte der musikalischen Welt. Die Aufnahmen der FMP und die zahlreichen Konzerte Taylors bei deren Festivals in Berlin zeugen schon lange davon und dokumentieren eindrucksvoll die Entwicklung dieses Ausnahmekünstlers. Einst Mitbegründer des Free Jazz, erfand Taylor das Klavierspielen noch einmal neu und wurde zum Vorbild ganzer Generationen von freigeistigen Pianistinnen und Pianisten. Seine Auftritte geraten schon seit den siebziger Jahren immer mehr zum Gesamtkunstwerk. Die Dramaturgie umschließt dabei oft Tanz, Gestik, Vokalisen und Texte. Der hier dokumentierte Set des zweiten November ist dagegen fast durchweg musikalisch angelegt, die Klänge der Instrumente, die Stimmen und die Struktur stehen ganz im Vordergrund. Während das Ensemble zuvor mit theatralischer Gestik und balletthaften Bewegungen einen opernhaften Event inszenierte, herrscht hier absolute Musik vor.

Die Vielfalt der musikalischen Beziehungen im Ensemble, die Fülle der Wandlungen und die Form des Ganzen bilden einen Prozess aus, der so mannigfaltig ist wie das Leben und die Natur. Wenn man sich dem hingibt, steigert diese Musik die Sensibilität, die Aufmerksamkeit für alle Prozesse, für das Leben überhaupt in einem selbst. Wie im Rausch verlieren sich dann die vor geformten Wahrnehmungsmuster, die die Welt in Schemata fasst, so, wie es auch traditionelle Musik vermag. Durch die ästhetisch so vollendete und gleichzeitig so freie Musik werden sprichwörtlich die Sinne befreit und sogar die Menschen, die Musiker wie die Zuhörer. Die Spontaneität des Prozesses, die Improvisation der Kommunikation lässt selbst Lebendiges entstehen, führt wie im Leben zu unvorhergesehen Konstellationen und Wandlungen. Einmal eingetaucht lässt das Taylor Ensemble nicht mehr los, führt Regie und entführt dabei sich selbst und uns in Dimensionen, die so bunt sind, so frei und so rein, dass es geradezu transzendent anmutet im Vergleich zur Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie sich sonst, ohne die Führung eines Meisters wie Taylor darstellt. Dass er auch als Schamane, als Meister des Transzendenten verehrt wird, wundert nicht.

Über eine Stunde zeigt uns das Ensemble pausenlos neue Wege der Wahrnehmung von Zeit, von Form, von Struktur und von Kommunikation. Was für den solche Erfahrungen nicht gewohnten Hörer zunächst chaotisch erscheint, entwickelt sich zu einem Kosmos von durchdringender Klarheit und Kraft. In diesem Konzert ganz besonders, denn das Taylor Ensemble gibt dem Prozess hier eine klare Form, die den Rahmen für die Improvisationen bildet ohne ihre Freiheit zu beschränken. Im letzten Abschnitt des Abends gelangt das Kollektiv schließlich zu einer gemeinsam entwickelten, komplexen Idee. Ein nicht enden wollender finaler Prozess ist erreicht, ein dauerhafter Höhenflug statt Höhepunkt, der, stets neu geformt, sich wiederholt und auch nicht, sich ändert aber nur teils, immer neu ineinander greift, sich nicht mehr grundsätzlich wendet, aber so dicht bleibt, dass die Energie immer wieder kulminiert und uns ganz einnimmt, uns schließlich torkeln lässt wie in Ekstase, wieder und wieder überwältigt von der Fülle der Musik, von der Intensität ihrer ästhetischen Kraft.

Das Cecil Taylor Ensemble bietet nicht, was gewöhnliche Musik bietet. Es manifestiert nicht das Gewohnte sondern kreiert selbst neue, bewegend authentische Prozesse, die von Freiheit erzählen und davon, wie dicht, komplex und reich das Leben ist.

So einzigartige Konzerte haben die Potenz, einen selbst zu verändern. Vorausgesetzt man lässt zu, dass es noch andere Wege gibt, die Welt zu sehen, als es das Traditionelle und Konservative, das Gewöhnliche eben vorgibt. Die Musik des Cecil Taylor Ensembles ist eine Alternative. Ein noch immer moderner, innovativer und aufregender Weg, durch Musik das Bewusstsein zu erweitern, zu spüren, dass man lebt und frei sein kann. Es war unvergesslich. Jetzt ist es wieder erlebbar.

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