FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 125

Steve Lake

 

Bouquet eines Hardcore-Troubadours

Würden dieses Mal die Schlüssel hinuntersegeln? Oder wieder nur die Blumenvase?
„Fourteen Love Poems“, der Titel von Peter Brötzmanns 1984 veröffentlichtem Soloalbum, ließ vor dem inneren Auge eine unwiderstehliche Karikatur erstehen: der stürmische saxman unter dem Balkon, Prototyp des Hardcore-Troubadours, hochrot von den Strapazen im Mondlicht, irgendeine Juliet oder Heidi mit mächtigen Hornsalven beglückend. Wie viel Leidenschaft halten Sie aus, Madame? (Platsch!)

Vor zwei Jahrzehnten wurde ging man allgemein davon aus, der Titel müsse als selbstironischer Scherz gemeint sein. Doch, so unwahrscheinlich das Einigen immer noch erscheinen mag, der Schöpfer lärmender Frühwerke wie „Balls“, „Nipples“ und „Machine Gun“ hatte sich bei diesem Projekt von Liebesgedichten des Poeten Kenneth Patchen inspirieren lassen. (Die Feuerschlucker von Wuppertal waren nämlich insgeheim eine sensible Truppe; der mittlerweile verstorbene Peter Kowald stockte seinen mageren Free-Jazz-Sold eine Zeitlang sogar mit Lyrik-Übersetzungen auf – wenn niemand hinchaute...) Und die Musik auf dieser CD gewinnt neue Konturen, wenn man beim Hören an Patchens Gedichte denkt. „The sea is awash with roses/O they blow upon the land“ – dieses Bild findet seinen Widerhall in den stilleren und gedämpfteren Momenten des Albums ebenso wie in den kratzig-dornigen. Ja, manche der heiß diskutierten „reflektiven Passagen“ in Brötzmanns Diskographie sind hier zu finden. Reflektive Passagen...das erinnert mich an einen Satz von Alfred Perlès: „I never meditate because I never premeditate“, der sich leicht zum Improvisations-Motto umfunktionieren ließe. Wie auch immer: das Reflektive, das Meditative oder, Gott helfe uns, das Poetische zeigt sich bei Brötzmann, wenn überhaupt, eher in Solosituationen, wo auf Disharmonie und Kampfeslust ab und zu verzichtet wird. Allein röhrt er auch weniger gnadenlos.

Zu der Zeit, als diese Bänder aufgenommen wurden, galt freie Improvisation made in Europe – die Nabelschnur, die sie mit dem „Jazz“ verbunden hatte, war mittlerweile durchtrennt – bei Vielen als vorwiegend intellektuelle oder quasi-wissenschaftliche Angelegenheit. Manche Musiker sahen sich als Laboranten, metaphorisch korrekt in weiße Kittel gekleidet, die mit großer Ernsthaftigkeit klangphysikalische Experimente durchführten. Über die von der Musik vermittelten Gefühle wurde nur selten gesprochen – das wäre sentimental gewesen, unkritisch. Alben, insbesondere Soloalben, waren in der Regel Kataloge oder „Dokumente“ (ein beliebter Begriff) idiosynkratischer Performance-Praktiken, Demonstrationen einer „erweiterten Technik“. In dieser sehr technisierten Ära sang Brötzmann ein auffallend anderes Lied. Er gehörte nie zur Riege der Klangwissenschaftler, sondern spielte wie er malte, mit dickem Pinselstrich und üppig hingeklecksten Klangfarben. „Technik“ hatte in Brötzmanns Welt herzlich wenig zu tun mit landläufigen Definitionen von Virtuosität, doch in diesen Liebesgedichten und anderswo setzt er äußerst differenzierte Texturen und Schattierungen ein, um eine Geschichte zu erzählen. Großer Folk-Künstler, der er ist, mischt er die Farben, intuitiv und kreativ, auf seine ganz eigene Weise. Kenneth Patchen, der nicht nur Dichter, sondern auch eine Art Maler war, hat (in einem Brief an Henry Miller) mal gesagt: „Je klarer sich ein Künstler auszudrücken versteht, desto weniger weiß er über sich selbst zu sagen.“ Dass dieses Schicksal Brötzmann ereilen könnte, von dem man keine Analysen der eigenen Arbeit erwarten darf (wie viele Interviewer zu ihrem Leidwesen erfahren mussten), ist wenig wahrscheinlich. Er spielt, die Musik spricht für sich selbst (oder nicht) und basta! Bis später dann, an der Bar. Oder, in diesen Tagen, im Café.

Zurück zum Thema: 1984 war Brötzmann also dabei, sich von dem „Sound um des Soundswillen“-Lager ebenso abzusetzen wie von dem plakativ theatralischen oder dadaistischen Narrenschiff, das auf den Wellen der zeitgenössischen improvisierten Musik segelte. So erfrischend zum Beispiel die Arbeit mit Bennink oft gewesen war, allmählich hatte Brötzmann doch das Gefühl, dass die Comedy-Routine mit jeder Neuauflage an Wirksamkeit verlor. Jedem Gag, selbst dem künstlerischen, kann irgendwann die Luft ausgehen. Obwohl es bei Brötzmann, in jeder seiner Phasen, Sachen gibt, die mich zum Lachen bringen – viel öfter mit ihm als über ihn – sind die bewusst platzierten Verrücktheiten hier selten. Es kann sein (darüber sollen die Musikhistoriker entscheiden), dass Brötzmann immer dann, wenn er aus einem bestimmten Kontext herauswächst, zu seinen ureigenen Ressourcen zurückkehrt und dass er sich auf seinen Soloalben (es gibt auf FMP fünf davon, bisher), tastend und witternd, einen Weg nach vorne sucht.

Oder vielleicht nicht unbedingt „nach vorne“. Zur Seite und zurück sind weitere mögliche Richtungen, und „Fortschritt“ ist in der Kunst sowieso ein fragwürdiges Konzept. Als beinahe widerstrebender Musik-Revoluzzer, ein Père Terrible der Avantgarde mit altmodischem Herzen, hat Peter immer ein Faible für den traditionellen Jazz gehabt und sich gewünscht, mit seinen Instrumenten zu singen „wie Billie Holiday“. Und das ist nicht so absurd wie es sich für Uneingeweihte anhören mag. Die herzzerreißende Traurigkeit von Billies Stimme findet ihre heimliche Entsprechung in Brötzmanns Aufnahme von Ornettes „Lonely Woman“. Seine Version, die zu den berührenderen Interpretationen eines häufig gecoverten Stücks gehört, ist prägend für die Stimmung des gesamten Albums. Zwischen den Zeilen scheint es dabei um die Transzendierung von Schmerz zu gehen – doch vielleicht ziehe ich zu freie Verbindung zwischen Patchens und Billies Biografien. Ich kann mich erinnern, dass in den späten 80ern Mitglieder von Last Exit von den Bar Stühlen fielen, als Peter sagte: „Ich habe den Blues am eigenen Leib erfahren“, aber das ist es, in etwa, was wir hier hören. Auf jeden Fall zelebrieren Brötzmanns Klangsalven mitunter einfach die Freude am genüsslichen Zerfetzen von Stille. Und des öfteren scheint es, als fügten sich die halben Melodien, die an Aylersche Klagelieder oder die Musik der anatolischen Berge erinnern können, das Kreischen und Hupen und die schnörkeligen Linien, getrieben von mächtigen Lungenstößen, zu etwas wie einer Offenbarung von Gefühl. In Brötzmanns Sound verbirgt sich ein Schmerz, der oft eine wilde, verletzte Schönheit transportiert – ob wir das nun Poesie nennen wollen oder Anheulen des Mondes.

Produzent Jost Gebers, der die Entwicklung des Saxophonisten mikroskopisch genau beobachtet hat, hält „14 Love Poems“ seit langem für ein bahn brechendes Album und betrachtet es weiterhin als Höhepunkt von Peters Soloarbeit. Die Ideen strömten damals so reichlich, dass der Notwendigkeit, aufgrund der begrenzten LP-Spielzeit Teile des Materials weglassen zu müssen, nur unter Bauchschmerzen Folge geleistet wurde. Auf der CD ist jetzt erstmals die gesamte Session dokumentiert, so dass der Hörer in den Genuss aller Brötzmannschen Liebesmeditationen kommt, unzensiert. Jeder der hier zusätzlich enthaltenen zehn „Outtakes“ hätte ursprünglich ebenso auf dem Album landen können. Weil Brötzmann eben Brötzmann ist, sinkt der Energiepegel nie ab. Zähigkeit und Ausdauer und Engagement, in Liebesdingen nicht unwichtige Eigenschaften, sind für die Kunst des Improvisierens ebenso unverzichtbar.

Übersetzung: Caroline Lake

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