FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 119

Peter Niklas Wilson

 

Anschlüsse schaffen

Heute, wo die Abgrenzungsrituale zwischen neuer komponierter und improvisierter Musik an Bedeutung verlieren, fällt es leichter, über Berührungspunkte und wechselseitige Einflüsse zu sprechen. Über die Bedeutung der Musik Anton Weberns und John Cages für die Herausbildung der europäischen Improvisationsmusik ist in den letzten Jahren schon häufiger verhandelt worden. Weberns kristalline Reduktion und Cages Absage an die europäische Werkästhetik, verbunden mit der do-it-yourself-Pragmatik des bricoleurs, hatten zweifellos Katalysator-Wirkung – zumindest auf die Urväter der britischen improvised music. Weniger diskutiert, und doch meines Erachtens nicht weniger wichtig, ist das Hörerlebnis der elektronischen Musik. Kaum ein britischer Improvisator der Gründerjahre, der nicht irgendwann seine Faszination für die Pioniertaten Stockhausens, Pousseurs, Schaeffers, Henrys bekundet hätte, von der inspirierenden Wirkung der Low-tech-Live-Elektronik John Cages und David Tudors – einem Instrumentarium mit allen Herrschaftsansprüchen widerstrebendem improvisatorischem Eigenleben - ganz abgesehen. Mit den Stockhausen-Schülern und Serialismus-Dissidenten Hugh Davies und Cornelius Cardew waren zudem in die britische Szene zwei Personen involviert, die Erfahrungen der elektronischen Studios direkt in die Musik der frühen Improvisationskollektive einbrachten: Davies in die „Music Improvisation Company“ mit Derek Bailey, Evan Parker und Jamie Muir, Cornelius Cardew in die Gruppe „AMM“ mit Keith Rowe, Eddie Prévost und Lou Gare.

Solche Impulse entfalteten eine doppelte Stoßrichtung. Zum einen motivierten sie Improvisatoren wie Tony Oxley, Barry Guy, Paul Lytton, Keith Rowe, Phil Wachsmann (um nur einige zu nennen), selbst mit elektronischer Klangerzeugung und Klangumformung zu experimentieren. Zum anderen zwangen sie auch die Spieler konventioneller, unmodifizierter Instrumente, an der „Anschlussfähigkeit“ ihrer Klänge zur elektrifizierten Klangwelt zu arbeiten. In den Worten Evan Parkers: „Der Anstoß, die Technik der Zirkularatmung zu entwickeln, kam vom Spielen mit elektronischen Instrumenten: Rückkopplungen, lang gehaltene Töne, wie sie in der ‚Music Improvisation Company‘ von Derek Bailey und Hugh Davies erzeugt wurden. Es war sehr frustrierend für mich, dass sie Töne unendlich lang halten konnten; ich wollte das gleiche Potenzial haben. Es gab also einen musikalischen Imperativ hinter dem Bedürfnis, diese Techniken zu entwickeln.“

Die neuen instrumentalen Spieltechniken, die so in die Welt kamen, entfalteten dann allerdings eine derartige Eigendynamik, dass ihr Geburtshelfer Elektronik alsbald ein wenig in den Hintergrund geriet. Anders gesagt: Nach vielerlei faszinierenden Ansätzen verlor die Live-Elektronik in der improvisierten Musik rasch an Boden (was auch an den Unzulänglichkeiten und der geringen Praxistauglichkeit der damaligen Gerätschaften gelegen haben mag). Es waren dann zumindest drei Faktoren, die in den letzten Jahren dazu beitrugen, dies dramatisch zu ändern, eine neue Präsenz verschiedener Formen von Elektronik in der improvisierten Musik herbeizuführen: erstens die Verfügbarkeit von Samplern und Computern als musikalischen „Haushaltsartikeln“; zweitens der Boom medienspezifischer Kreativität in der DJ- und New-Electronica-Kultur und nicht zuletzt die „Wiederentdeckung“ des AMM-Gründungsmitglieds Keith Rowes, jenes Gitarristen, der schon in den Sechzigern gezeigt hatte, wie man die Gitarre unter Zuhilfenahme mechanischer und elektronischer Modifikationen und unter Integration des Radios neu erfinden könne.

Die Extremform der Elektronik-Renaissance in der improvisierten Musik stellt wohl das zeitgenössische Laptop-Ensemble dar, wie es derzeit u.a. in Wien und Berlin floriert (wie überhaupt das Powerbook mittlerweile zum beliebtesten Zweitinstrument von Instrumentalisten jeder Couleur avanciert ist). Im Vergleich dazu wirkt der Ansatz der vier Ilinx-Musiker fast schon traditionell: Sie arbeiten konzentriert und intensiv an besagter wechselseitiger „Anschlussfähigkeit“, an der Integration und Durchdringung elektronischer und nicht-elektronischer Klänge und Texturen, und: Sie arbeiten daran, die Elektronik flexibel zu machen, sie für das Im-Jetzt-Sein zu öffnen, ihre Klänge nicht prädeterminiert, sondern ergebnisoffen zu halten. Daran also, die elektronische Klangerzeugung, Klangreproduktion, Klangmodifikation „spielfähig“ zu machen, „spielfähig“ ganz im Sinne jener berühmten Definition, wie sie Friedrich Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ gab: „Der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“ Dieses Klassikerzitat ist, bezogen auf die Musik von Ilinx, keine bildungsbürgerliche Sprechblase, bezieht sich doch der Name des zuerst in Bremen zusammengekommenen, seit 1999 in Berlin arbeitenden Quartetts auf eine jener vier Grundkategorien des Spiels, wie sie Roger Callois in seiner Abhandlung „Die Spiele und die Menschen“ herausarbeitete. Nicht von ungefähr ist es die Kategorie der Spiele, in der Besessenheit und physische Intensität eine zentrale Rolle spielen: „Ilinx - Eine letzte Kategorie fasst jene Spiele zusammen, die auf dem Begehren nach Rausch beruhen und deren Reiz darin besteht, für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und dem klaren Bewusstsein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen.“

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