FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 113

Joseph Chonto

 

Gespräch mit Charles Gayle

Der Brief der FMP bat um einen "feature-artigen Artikel" für die liner notes; so kam dieses "Gespräch" zustande, das wir in Charles' Appartement in Manhattan's East Village "Alphabet City" führten, direkt um die Ecke wo Charlie Parker lebte. Gayle's Apartment war spärlich eingerichtet: ein Tisch, ein Stuhl, ein schmales Bett, das auch als Couch diente, ein Fernseher, Radio-/Kassettengerät und eine Kommode. Das einzig sichtbare Lesematerial war die Tageszeitung, die Sportseite aufgeschlagen, und eine Bibel auf der Kommode.

JC: 1992 kam die CD Touchin' On Trane heraus. Zu der Zeit war es die erste Aufnahme nach 4 Jahren von Dir, die heraus kam. Wie haben sich die Dinge seitdem verändert?

CG: Nun, die Dinge haben sich verändert. Ich habe eine Wohnung .... das ist schön .... warm, jedenfalls. Und ich habe ein bisschen unterrichtet und gespielt ... aber, was die Musik betrifft - ich bekomme mehr gigs ... ein paar mehr. Ich arbeite ein bisschen mehr .... nicht viel mehr als vorher .... nicht so viel.

JC: Auf jeden Fall sind viel mehr Aufnahmen von Dir veröffentlicht worden. Glaubst Du, dass die Leute Deine Musik langsam besser verstehen und würdigen?

CD: Ich hoffe schon, ich glaube ja. Ja, das glaube ich. Für die meisten Veranstalter, die reine Improvisation machen, wenn man so will, habe ich gespielt. Diese Türen haben sich tatsächlich geöffnet. Wenn ich sage, ich arbeite nicht genug, nun, damit kann man sich dranhalten. Aber ich arbeite, und das weiß ich zu schätzen.

JC: Als Du '92 mit Sirone in Deutschland auf Tournee warst, hast Du mir mal ein bisschen davon erzählt, was für ein großer Einfluss Dein Vater für Dich war.

CG: Aus irgendeinem Grund rede ich normalerweise nicht all zuviel über meine Familie. Aber mein Vater ... meine Mutter natürlich auch ... aber mein Vater war der größte Einfluss in meinem Leben. Ganz einfach weil er ... klar war, weißt Du (lacht). Er hatte seine Prioritäten und das war's. Er ist tot, aber natürlich lebt er weiter in meinem Herzen. Er hat sein ganzes Leben lang hart gearbeitet ... ein Arbeitstier, wenn Du so willst. Er liebte den Herrn, er liebte Christus, er machte kein großes Aufheben davon oder so, aber Du wusstest genau, wo er stand. Man konnte gut mit ihm auskommen.

JC: Als Du begannst, Dich für Musik zu interessieren, wie sehr hat Dich Deine Familie da unterstützt?

CD: Sie wollten unbedingt, dass ich mit 8 Jahren mit Klavierspielen anfing, ich nahm etwa drei Jahre lang Unterricht. Das musstest Du einfach machen, da hatte ich keine große Wahl. Aber sie haben mich immer unterstützt. Da fing es also an und dann fing ich an in Clubs zu gehen, meist als Pianist, und spielte bop, boogie-woogie, blues ... Das habe ich jahrelang gespielt. Bird, Monk, Lester Young, Louie, alle – all das war ein Teil meines Lebens. Ich kannte die charts, ich kannte die Stücke, seit den 40ger Jahren.

JC: Wie alt warst Du, als Du in den Clubs [in Buffalo, New York] zu spielen begannst?

CD: Eigentlich war es als Teenager für mich einfach nicht cool zu spielen, aber als ich so 16 oder 17 war, ging ich einfach immer, um die Musik zu hören. Ich glaube, ich war 19 oder 20, als ich anfing in Clubs zu spielen.

JC: Du bist ein fester Anhänger des Christentums. Wie beeinflusst Dein Glaube Deine Musik?

CD: Nun, zu allererst bin ich gläubig. Ich glaube an die Bibel und all das, aber das heißt nicht, dass ich hier sitze und behaupte, ich sei ein guter Mensch oder so etwas ... aber das ist es eben, woran ich glaube. Es ist einfach ein Gefühl ... Ich weiß nicht, wie sich das für die Leute anhört, ich weiß es einfach, in meinem Herzen, oder in meiner Seele ... ich bin nicht jemand, der die ganze Zeit Hymnen spielen will, aber es ist immer da, und dieses Gefühl, das Du vom Chor und von den Predigern kriegst ... es geht einfach um dieses Gefühl – Ich denke wirklich, es geht nicht um mich, um das, was ich tue ... wenn es so rüber kommt ist das schön, wenn jemand findet, dass es sich spirituell anhört, ist das ein Kompliment für mich – Ich hoffe, es ist ein Kompliment an Gott. Das ursprünglichste Gefühl in mir gilt natürlich dem Jazz, ich liebe Jazz, aber dieses grundsätzliche Gefühl wie Du zu Gott stehst, zu Christus ... Ich hoffe sehr, dass das die Musik, die ich mache, beeinflusst und ich versuche, die Titel direkt oder indirekt nach Gott oder der Bibel oder so etwas zu wählen, ich glaube einfach, dass ich meine Musik Gott widmen muss – das meiste davon jedenfalls.

JC: In diesem Jahr wurde Duke Ellington's 100 Geburtstag gefeiert. Hatte das irgendeine besondere Bedeutung für Dich?

CG: Nein, eigentlich nicht. Duke Ellington selbst hat eine besondere Bedeutung für mich. Er war ein so ungeheuer produktiver Komponist und die Art, wie er schrieb, hat sicherlich jeden beeinflusst, ob man das wahrhaben möchte oder nicht. Er hat einfach die Art, wie Leute in einer Band schrieben, verändert – die Harmonie und das Schöne, dieses unglaublich Schöne. Ich habe diese Band spielen sehen, und sie hatten alles – auch im Sinn von 'modern', ich habe nie eine Band gehört, die so modern klang wie die von Duke Ellington, Mingus, Sun Ra, wer auch immer. Ellington's Musik hört sich an, als ob sie heute oder sogar morgen aufgenommen wäre. 'Großartig' reicht gar nicht aus, es zu beschreiben – einfach ein wunderbarer Musiker und als Mensch – ein wunderbares Herz, und er ist ganz sicher auch in meinem Herzen mit dem, was er geschaffen hat. Ich weiß nicht, wie viel von dem, was ich tue, von ihm kommt, aber es ist da ... etwas davon ist eingedrungen, ob man das wollte oder nicht.

JC: Hörst Du Dir andere zeitgenössische Musiker an?

CG: Nein, eigentlich nicht. Ich weiß, dass es da draußen wunderbare, großartige Musiker gibt, aber ich kenne keine der jüngeren oder ihre Musik, das heißt nichts gegen sie oder dass das Alte besser ist oder irgend so etwas. Es ist einfach so, dass ich schon vor längerer Zeit mit dem Zuhören aufgehört habe. Schon vor Jahren habe ich alle meine Bücher und Platten weggegeben, um davon frei zu sein und nicht mehr so abhängig von dieser ganzen Musik und allem zu sein. Die Einflüsse waren stark, Du nimmst soviel auf und ich versuche ja, meine eigene Sprache zu finden ... Jetzt könnte ich wahrscheinlich wieder etwas hören und mich auch entspannter dabei fühlen, aber ich tue es einfach nicht. Wahrscheinlich würde ich keine Avantgarde hören. Ich liebe das und versuche, es zu spielen, aber ich mag eben diese Musik, die richtig heiß ist, Fingerschnippen und alles – das liebe ich wirklich. Ich liebe es einfach – eigentlich fange ich sogar an, auf meinen Aufnahmen ein bisschen mehr so zu spielen – eben nicht einfach immer wieder diese ganzen Stücke spielen, sondern versuchen, daß es richtig abgeht! (lacht)

JC: Aber das hast Du mit Deiner Musik doch immer erreicht.

CG: Ja, ja, aber eine Menge Leute spielen Avantgarde wie sie sagen ... nun, jeder muss es so spielen, wie er es fühlt – Ich mag manchmal einfach auch dieses [Fingerschnippen] und all das, einfach für mich selber, weißt Du.

JC: Wenn Du unbegrenzte finanzielle Mittel hättest, was für musikalische Projekte würdest Du in Angriff nehmen?

CG: Ich weiß nicht, welche Musiker das sein würden, aber ich würde zwei Dinge tun: das erste, was ich tun würde, wäre, etwas von der Musik veröffentlichen, die ich an der Kirche so mag, auf meine ganz eigene Weise, und ich würde auch was Harmonisches mit Sängern machen.

JC: Meinst Du so etwas wie einen Stimmenchor?

CG: Nein, ich würde das in einer kleinen Gruppe mit Trompete und Posaune machen, vielleicht, und mit Bass, Schlagzeug – es in einem Quintett oder so bringen. Aber es würde seine Zeit brauchen so etwas zu machen, und so eine Gruppe dann mit Dir rum tragen, das kann ich mir nicht leisten. Aber, es wäre gut, sehr konzentriert, mit einer sehr guten Basis – auch heavy – richtig schön, das richtig heiße kleine Gospel-Ding. Die andere Sache wäre: ich würde einen Trompeter suchen, der wirklich diesen heißen Post-bop spielen kann, so dass einige Stücke richtig tight wären, aber dann würde es sich lockern, und ich hätte einen heißen Bassisten und Drummer – für mich müsste es noch weiter gehen als das, was Miles mit Wayne und Herbie gemacht hat. Leute, die wirklich Kontrolle über ihr Horn hätten, die eintauchen könnten und wieder raus, und die es so weit tragen könnten, wie sie wollten und doch immer noch das Jazz-feel hätten. Das würde ich gerne machen. Dann wäre ich glücklich.

JC: Das sind phantastische Ideen – Ich hoffe, das wird irgendwie klappen.

CG: Ja, und es müsste richtig abgehen. Nicht nur irgend so etwas Halbherziges.

JC: Viele Proben, etwas touren.

CG: ... bis es dieses Steife verliert und es ist entspannt und Du machst es einfach. Und es swingt richtig, heiß – das will ich.

JC: Es brennt!

CG: Aber für mich hier in New York ist so etwas schwer zu finden, die Trompeter, die so spielen können, außer Du sprichst von jemandem wie Wynton oder - wer ist noch der Typ, der Miles Protegé war?

JC: Wallace Roney?

CG: Oder jemanden wie ihn, aber jemand, der diesen Fingersatz hat, der machen kann, was er will, ich will jemanden mit dieser Technik und diesem Fingersatz. Mit solcher Kontrolle. Aber da gibt es noch etwas – meine Figur Streets [die Pantomimen-Figur, die Charles Gayle bei seinen Auftritten porträtiert], dem geht's auch sehr gut, ihn darf ich nicht vergessen. Das ist das andere große Projekt, das ich machen würde. Ich möchte ihn als regelmäßiges Element dabei haben. Dass das gut funktioniert, dass es Sinn macht und dass ich in Theatern arbeiten könnte ... Ich will ein Stück schreiben. Er ist wichtig für mich. Irgendwie wäre es mir sogar lieber, mich nicht einfach nur hinzustellen und die ganze Zeit zu spielen, sondern das alles dabei zu haben, so dass ich andere Sachen ausdrücken kann ... in der richtigen Umgebung, natürlich. Dann fühle ich mich am wohlsten.

JC: Wirklich?

CG: Ja, das bin wirklich ich. Musik machen ist wunderbar, aber es gibt noch andere Dinge, die ich gerne machen würde, wenn ich auf der Bühne bin und einfach straight spiele. Ich habe mir so viele Bands angesehen und schon lange wollte ich etwas anderes machen, und so entstand er.

JC: Wie kam Streets zustande?

CG. Er entstand, weil es mich langweilte, einfach nur zu spielen. Vielleicht nicht langweilte, aber da war einfach noch etwas anderes in mir, was ich tun musste. Als ich aufwuchs habe ich ... in Filmen, im Zirkus und in Clubs Clowns gesehen - und ich versuche nicht, ein Clown per se zu sein – aber die traurigen und die glücklichen – die haben sich mir eingeprägt, und wenn sie traurig aussahen, dann sahen sie so maßlos traurig aus. Damit bin ich aufgewachsen und ich fühlte, dass es Zeit war, etwas damit zu machen. In den Straßen spielen machte auch einen Unterschied, machte es ein bisschen weniger formal, als auf einer Bühne zu spielen. Und ich habe so viele Jahre auf der Straße gespielt, dass spielen in Clubs - auf der Straße hängst Du rum, du redest, du lachst, machst irgend etwas, du siehst traurige Situationen direkt vor Dir, während Du spielst und all das, und ich versuche, das alles zusammenkommen zu lassen. Es ist eine Kombination aus meiner Jugend, die ich nicht verloren habe, einiges davon schon, natürlich, und Dinge ausdrücken durch Theater und versuchen, eine Kombination von Künsten zu bringen. Und dabei auch ein Risiko eingehen, denn einige Leute sagten, mach das nicht. All das sind Mittel für mich auszudrücken, was in meinem Herzen vor sich geht. Es ist einfach etwas, das ich tun muss, um hier zurechtzukommen. Es ist Teil meiner Kunst, Teil von mir. Ich weiß, die Leute wollen, dass Du spielst und ernst bist, ernst aussiehst, finster guckst oder sogar vielleicht ein paar mal lachst, und ich habe auch nichts dagegen, es ist großartig, was all diese Musiker tun, aber so bin ich einfach nicht. Aber er ist mir sehr nah. Ich hoffe, er ist eine Figur, der Dinge am Herzen liegen, wichtige Dinge, die Dich zum weinen bringen, bringen ihn zum weinen, und immer noch die Musik im Griff haben.

JC: Eben hast Du erwähnt, dass du Dich an einem Punkt entschlossen hast, all Deine Bücher und Platten und anderes wegzugeben – was hat Dich dazu gebracht?

CG: Ich glaube, zu der Zeit kam ich irgendwie an den Punkt – Du weißt, wenn Leute sagen "Ich bin nicht glücklich" oder "Ich bin dies nicht" oder "Ich suche nach etwas" – Ich kam an den Punkt wo ich sagte: "okay, warte mal". Ich versuche nicht, besonders clever zu sein oder so, es ist einfach, okay, ich höre Musik und Musik ist etwas Wunderbares, ich habe eine Menge guter Leute gehört, eine Menge Leute auf der Bühne gesehen, und ich habe immer noch all diese Platten und ich weiß einfach nicht, ob ich das alles noch so haben möchte, denn genau in dem Moment bin ich süchtig nach all diesen Platten und all dieser Musik und diesen Büchern und allem ... und das ist nicht wirklich das, was ich will. Das sind alles schöne Sachen, aber sie kommen und gehen, und so kam es einfach zu dem Punkt, wo ich fühlte, dass ich diese Dinge aufgeben musste. Ich könnte immer noch losgehen und die meisten davon kaufen. Aber sie wurden meine Sicherheit – und das Leben ist einfach so – aber ich sagte nein, jetzt ist's genug, und so habe ich eines Tages mein Haus geöffnet und allen Leuten gesagt, holt euch das Zeug. Und das haben sie getan. Und ich habe beschlossen, wenn ich Musiker sein will, dann lerne ich es auf dem Weg. Ich werde nicht danach suchen. Politische Wissenschaften, Mathematik, spirituelle Bücher, all das hat mich interessiert, und ich wusste einfach, dass es Zeit war anzuhalten. Ich war jung, aber ich fand keinen Frieden – grundsätzlich war ich ein friedlicher Mensch, manchmal auch aggressiv, aber das, was ich suchte, war nicht in diesen Büchern. Ich glaube nicht, dass Gott so stark in meinem Herzen oder meiner Seele war wie jetzt – er war da, aber ich war jung, und ich benutze das nicht als Entschuldigung, dass ich jung war, aber ich war auf eine Menge anderer Dinge konzentriert – aber ich hatte diese Sachen aufgebraucht. Es war einfach Zeit, mich zu ändern. Und das habe ich getan.

JC: Du klingst sehr entschlossen.

CG: Nun, ich habe jetzt meinen Frieden mit dem, worum es im Leben glaube ich geht. Hoffentlich habe ich Recht! (lacht) Leben, Tod, das Danach – Ich fühle, dass das richtig ist. Ich habe zu essen, meine Familie hat zu essen ... nicht alle auf der Welt haben zu essen und das ist ein Problem ... Ich weiß nicht, was als nächstes kommt, ich kann nur von einer Sache zur nächsten gehen und ich glaube, dass ich so ungefähr alles ausprobiert habe! (lacht) Ich glaube, dass ich auch eine Menge Dinge zu früh ausprobiert habe, und das hat mich wahrscheinlich dazu gebracht, eine Veränderung zu brauchen, denn ich habe es ganz schön wild getrieben, als ich jung war! Ich meine, ich habe Probleme in meinem Leben wie jeder andere auch, aber ich versuche, sie nicht zu groß zu machen. Ich fühle mich sehr entschlossen, ohne hinterherzulaufen oder viel drum herum zu machen. Und ich habe ein Paar Sachen gemacht, die ich wünschte, nicht gemacht zu haben, denn sie haben andere Leute verletzt – und sie haben auch mich verletzt. Abgesehen davon – ist es ok ... Und ich habe spielen können. Ich wollte Jazzmusiker sein seit ich Kind war. Jazz – das liebe ich, ich wollte immer Jazzmusiker sein, ich bin Jazzmusiker und ich widme meine Arbeit Gott. Und wenn man auf diese Weise ein paar der Ziele verwirklicht hat, die man seit seiner Kindheit hatte, man hat seine Familie und all das – was kann man noch mehr wollen?

JC: Ich höre schon Jost sagen, dass wir bald keinen Platz mehr haben. Möchtest Du noch irgend etwas hinzufügen?

CG: Nein, eigentlich nicht. Ich wünschte, alle hätten zu essen! (lacht). Ich wünschte, die Welt wäre anders, aber daran kann ich nicht viel ändern.

JC: Durch Deine Musik ist es auf jeden Fall ein schönerer Ort.

CG: Das hoffe ich.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

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