FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 112

Alan Warner

 

Die Musik auf dieser CD gehört zur reinsten und geradesten eines Mannes, der seit über 40 Jahren leidenschaftlich kompromisslose Improvisation spielt. Peter hat in so vielen Verbindungen gespielt: zuletzt in den Turbulenzen und Scherwinden seines Chicagoer Tentetts, 1996 taucht er zwischen dem erstaunlichen Zusammenspiel von Hamid Drakes Schlagzeug und Mahmoud Ganias bass-tiefer Guembri durch, seit 1993 im Albert Ayler Tribut, dem Die Like A Dog Quartett, das schon längst alle bekannten Reiseziele hinter sich gelassen hat. Ich habe sogar irgendwo gehört, dass Peter einmal mit Tangerine Dream gejammt hat, aber ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen!

All das verweist auf einen Mann ohne Scheu vor musikalischen Begegnungen, und natürlich wurde jemand meiner Generation (1964 geboren) auf Peter aufmerksam durch das atavistische Heulen der metal-meets-Coltrane Phalanx Last Exit. Heutzutage ist es schwer zu vermitteln, wie lebenswichtig und viel versprechend Last Exits Auftauchen Mitte der 80er Jahre war, für jemanden mit Glauben an die wandelnde Kraft von wirklich großer, spontaner Musik.

Mitten im Müll einer kulturellen Wüste schien mir Last Exits oft wilder, beängstigender Sound eine Verknüpfung zu bilden über die tiefen Bass- und Gitarren-Sperrigkeiten von Wobble & Keith Levene aus der hauptsächlich improvisierenden Londoner Band PiL, weiter zur neueren amateurhaften, aber ikonolastischen Energie des Punk Rock/New Wave, zur heavy metal und feedback-Geburt von Hendrix, zum strukturellen und formellen Demolieren von Captain Beefhart, bis hin zu Ornette Colemans spät-50er Jahre Free Jazz.

Irgendwann 1986 sah ich Last Exit live, im inzwischen dicht gemachten Shaw Theatre in London. Vor dem Konzert beäugte sich das Publikum im Foyer mit einem gewissen Misstrauen. Peter nickte, vom Mikro abgewandt, und Bill Laswell pirschte auf die Bühne, trotzig herausfordernd, beide mit völlig unbewegter Miene. Der Kritiker vor mir legte den Notizblock weg und bedeckte seine Ohren, die Musik war jenseits aller Vorstellungskraft. Shannon Jackson riss das Basstrommelfell: Ich war mit einer hübschen Schauspielerin da. Sie war beeindruckt. Endlich war mir klar: hier war ich richtig!

1993 oder 94 trat Peter in einem ansonsten geschlossenen Theater in Edinburgh auf. Er spielte mit dem Schlagzeuger Willi Kellers (kurze Zeit später machten sie ein schönes Album mit Manfred Schoof). Willi spielte unglaublich, in Socken; er warf Münzen gegen das Schlagzeug und die Becken; wir stürzten uns darauf und schnappten sie, bis wir merkten, dass es deutsche Münzen waren; in der Pause gaben wir sie zurück!

Der arme Peter versuchte gerade in Ruhe ein Guinness zu trinken, als wir ihn überfielen. "Ich wette, ihr spielt elektrische Gitarre", sagte er. "Viel schlimmer", gab ich zu, "ich bin Schriftsteller."

Aber noch etwas anderes passierte bei diesem Konzert. Während ich Peter zuhörte, der Willi in alle Richtungen jagte, ergriff mich etwas Wunderbares. Nein. Nicht Jesus kam in mein Herz, aber irgendetwas anderes. Ich kann nicht behaupten, dass ich technisch verstand was passierte, ich weiß nicht einmal welche Tonart es war, wenn überhaupt irgendeine; ich weiß nicht, welche merkwürdige Kommunikation zwischen Willi und Peter abging, ich weiß nicht, ob Peter gerade nach seinem Tenor oder seiner Klarinette gegriffen hatte oder ob er sein Conn 1923 Bass-Saxophon spielte, aber in einem simplen, klaren und überwältigenden Moment dachte ich: "Dieser Typ meint das wirklich ernst. Ich weiß nicht, was er meint; ich habe eine vage Idee, woher er kommt, ich weiß nicht wohin er geht, aber wie auch immer, er meint es ernst" Allein dieser Beweis völliger Überzeugung war für mich mehr als genug. Man hörte, nein,. man schmeckte, dass Peter ein Künstler war, der ohne jeden Kompromiss alle Kraft und Intuition in das steckte, was er tat.

In einem Interview sagte Peter kürzlich über sein Spielen: "Mich interessieren diese ganzen kleinen intellektuellen Bewegungen nicht. Es ist einfach nicht mein Ding ... Du musst einen Klang aus diesem Rohr holen, und das Saxophon ist nichts anderes als das ... du musst daran glauben, was du tust. Du musst eine Geschichte erzählen. Du kannst sie leise erzählen oder sehr laut, du kannst dir die Seele raus schreien, aber du musst geradeheraus sein und versuchen, die Wahrheit zu erzählen. Das ist alles."

Er hat schon öfter Soloaufnahmen gemacht, zweimal mit merkwürdig Samuel-Beckett-artigen Titeln, No Nothing und Nothing To Say. Du kannst die Geschichte, die Wahrheit leise oder laut erzählen, aber es ist nicht vorgegeben, was die Geschichte oder die Wahrheit ist. Das liegt an dir. Wenn die Musik eine Geschichte ist, eine Erzählung von einem Punkt zum anderen, ist sie kein abgeschlossenes Buch. Ist es überhaupt jedes Mal dieselbe Geschichte?

Hör dir diese Soloaufnahmen von Peter an; du entscheidest, was die Geschichten sind; nichts schreibt dir vor, was du zu denken hast. Es gibt eine Zeichnung von Picasso für das Cover von Strawinskys Ragtime: zwei Musiker sind dargestellt, einer mit Geige, einer mit Cello, gezeichnet in einer einzigen, durchgehenden, wunderbar wandernden Linie. Peters Spiel mit seinen langen, oft logischen Reisen erinnert mich an diese Zeichnung.

Beim Solospiel gibt es nichts, worauf Peter reagieren müsste außer auf sich selbst, totale Freiheit, aber wie immer spielt er absolut gezielt und konzentriert, geleitet von Emotionen und Strukturen.

"Watchamacallit":

Ein lang gestrecktes Tenor antwortet in langen, springenden Themen auf sein eigenes Echo - das Stück steigt kontinuierlich an bis es schließlich abtaucht in eine meditative, schallende Coda, bebend.

"The rain went on and on":

Klingt teilweise wie Gagaku Hofmusik mit Wechseln von hohen und tiefen Registern; die Themen schnappen nach sich wie ein sich selbst verstümmelnder Hai, - schleichend, gleichsam ein Abstecher an die Küste brodelnder Meditation.

"There were tears in her eyes":

Peter spielt mit unglaublicher Feinheit, die Musik klettert über sich selbst zu schneidenden tonalen Sprüngen. Erinnert mich weniger an einen free player, sondern daran, wo Cecil Taylor herkommt: Monks Solo auf Bags Groove: die gleiche Metall schmelzende Intensität, die gleiche Fähigkeit, die Musik von oben zu betrachten und zu rekonstruieren.

Aber vielleicht ist beim nächsten Mal alles anders.

Vor kurzem war ich in Tokio, in der Mary Jane Jazzbar einen trinken mit Toshinori Kondo, dem Trompeter aus Peters phantastischem Die Like A Dog Quartett. An der Wand Autogramme von Peter und Steve Lacy. Wir tranken kaltes Asahi, im Hintergrund lief das neue Album, das Kondo mit Bill Laswell aufgenommen hat. Wie Peter hatte auch Kondo Solo gespielt ... und zwar wortwörtlich in der Wüste. Manchmal war ein Kamerateam dabei gewesen, aber meistens war er alleine, hatte in einem Zelt gelebt, war früh aufgestanden und hatte gespielt, einfach so für die Wüste in Israel.

Das schien weder Peter noch Kondo etwas auszumachen, denn es geht ihnen um ehrliche Musik, aber für meine verwöhnte Generation ist es leicht, bitter darüber zu werden, wie der Mainstream diese Musik ignoriert. Peter und Kondo würden darüber nur lachen, aber mich erinnert das an die alten Propheten und ihre Predigt an die Wüste, wie Jesaja:

Freuen sollen sich die Wüste und das dürre Land, frohlocken die Steppe und blühen! Gleich der Narzisse soll sie blühen und frohlocken, ja frohlocken und jubeln!

Die Musikwelt ist ausgelegt für das, was Kondo ohne jede Bitterkeit "den singenden Millionär" nennt. Es ist zynisch und es tut in der Seele weh, aber ich schätze, so war es immer. Aber dieser todgeweihte Mainstream lässt Peter Brötzmann nur umso kraftvoller und reiner klingen!

Man hat gesagt, dass es in der Kunst kein Zelebrieren mehr gibt, nur den Menschen, nur das selbst verlorene, existenzialistisch schreiende Gesicht eines Munch Bildes. Aber Peter Brötzmanns Musik auf diesem Album erinnert uns an das lange Erbe, das hinter ihm liegt, von den 50ern bis Machine Gun 1968 und weiter bis Last Exit, Die Like A Dog and darüber hinaus; Brötzmanns Arbeit gehört zum selten wirklichen, echten und ehrlichen Zelebrieren, das es noch gibt. Kein Prophet in der Wüste, aber dieser Sänger meint es wirklich ernst.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

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