FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 107

Bert Noglik

 

Die Ausgangssituation: eines der langlebigsten und zugleich unberechenbarsten Duos der europäischen Improvisationsmusik, das unnachahmliche Gespann der beiden Holländer, Misha Mengelberg und Han Bennink, trifft sich mit Peter Brötzmann, dem Protagonisten des deutschen Free Jazz, zu gemeinsamen Spielabenteuern. Brötzmann und Bennink können bereits auf gemeinsame Duo-Geschichten Bezug nehmen, dokumentiert auf den FMP-Platten "Ein halber Hund kann nicht pinkeln" und der in Freiluftatmosphäre festgehaltenen "Schwarzwaldfahrt".

In Derek Bailey's Buch "Improvisationen" findet sich, als Zitat, einer der Schlüsselsätze von Misha Mengelberg zum Verständnis (was für ein unsinniges Wort, als ob man Musik verstehen könnte!): "Ich weiß nicht, was Bennink mit seiner Musik beabsichtigt, aber wenn unsere Missverständnisse miteinander in Verbindung gebracht werden, so glauben wir, dass die Dinge manchmal zusammenpassen." Logisch, dass die Mitverständnisse und die Chancen, einander auf unkonventionelle Weise zu entsprechen, in dieser Trio-Konstellation potenziert werden.

Beides kommt zu Gehör: die Fassungslosigkeit und die Kongenialität, die Dissoziation und die Fraternisierung. Auch die Jazzferne und die Jazznähe. Die drei Individualitäten erweisen sich als völlig unverwechselbar. Es ist der gemeinsame Fundus an Musik- und Lebenserfahrungen, der es ihnen ermöglicht, ein musikalisches Netzwerk aufzubauen. Fluxus und Dada, John Cage und Thelonious Monk, auch Nam June Paik und Coleman Hawkins, was Brötzmann anbelangt - nichts davon wird zitiert. Doch alles ist präsent nicht im Sinne von Bildungserlebnissen, sondern in Gestalt von Persönlichkeiten, die wissen, was sie tun. Aktionismus und Musikalität gehen hier Hand in Hand. Die Klangereignisse ergeben sich sinnvoll aus dem Spiel- und Kommunikationsprozess. Wenn sich das musikalische Geschehen in Richtung Performance weitet, so bleibt alles selbst ohne die Augen, allein mit den Ohren nachvollziehbar.

In dieser antiakademischen Kammermusik erleben wir eine dichte Folge von Sequenzen mit unterschiedlichem Klangcharakter und schnell wechselnden Spielhaltungen. Neben der Interaktion im Trio werden immer wieder unterschiedliche Dialog-Situationen ausgetestet. Das Etüdenhafte entspricht dem Gestus des Herantastens, verrät nicht das Unvermögen, sondern die Unvoreingenommenheit der Beteiligten. Es geht im radikalen Sinne um Improvisation als das Unvorbereitete und das Unvoraussagbare. Das schließt Humor ein, beruht aber auf verdammten Ernst und einem Anspruch, der das Gelingen im (unvorbereiteten) Moment zum Maßstab erhebt und selbst die Konsequenz des Misslingens zu akzeptieren vermag.

Peter Brötzmann bringt Schreiklänge und Lautpoesie, verfremdete Jazzballaden und Klangsplitter ein, neigt wohl am stärksten - im Sinne des Jazz - zum Rhapsodischen, zum Expressionistischen. Misha Mengelberg lässt sich wie immer aus der Situation heraus zu wunderlichen Klaviereinwürfen und -eskapaden inspirieren. Han Bennink folgt der Philosophie des Hier und Jetzt mit multiinstrumentalistischen Aktionen, lässt sich hier ebenso konsequent als Schlagzeuger wie auch als Klarinettist und Saxophonist, letztlich als Allklangsmusiker vernehmen. Was immer er bläst, schlägt oder anzupft, erweist sich als sinnvoll im Prozess des Geschehens und oft punktgenau im musikalischen Sinne. Die konventionellen Kriterien werden verschoben: Virtuosität meint hier nicht instrumentaltechnische Kunstfertigkeit, sondern Reaktionsvermögen und Stimmigkeit innerhalb des Spielverlaufs.

Alle drei wissen genug von einander, was Reaktionsverhalten, Prägungen und Geschmack anbelangt. Und doch nicht genug, um auf Nummer sicher zu gehen. Europäische Tradition und Jazz, Unterhaltungsmusik und hohe Kunst, Erinnerungen an die zwanziger Jahre und aktuelle Klangerkundungen - alles kann einfließen, aber nichts muss bewiesen werden. Das Zufallende bekommt Bedeutung, das Spontane, von dem wir ja wissen, dass es sich nicht voraussetzungslos einstellt. Schon damals war diese Musik alles andere als monochrom. "3 Points And A Mountain" lässt uns eine sinnliche Fülle und Vielfalt, der doch stets eine schwer definierbare Konsequenz innewohnt, nach- und miterleben: vom Schrei bis an die Ränder der Stille. Zu den irritierendsten und zu den faszinierendsten Stellen zählen jene, die man mit Worten überschreiben könnte: Drei Musiker suchen ein Stück. Der Prozess des Erkundens und gegenseitigen musikalischen Abtastens wird zum Auslöser des (spontanen) Komponierens. Das kann so nur gelingen, weil keiner dem anderen etwa vorzumachen braucht, weil es allen drei Musikern weder um Gags noch um Kunststücke geht. Misha Mengelberg hat das, was sich so schwer in Worte fassen lässt, viele Jahre später, 1993, bei einem Darmstädter Jazzforum trefflich formuliert: "Ich lasse das Leben und den Alltag in meinem Klavierspielen zu. Wenn ich Klavier spiele, fühle ich mich wie ein Mann, der ein Fahrrad repariert. Es geht darum, dass das Fahrrad wieder fährt. Und er hat seinen Kaffee dabei, und er raucht vielleicht eine Zigarre. Und niemand fragt ihn: Wieso rauchst du bei der Arbeit? Oder: Warum trinkst du Kaffee? Man fragt am Ende nur: Fährt das Fahrrad wieder?"

Es fährt, allein, als Tandem, mit gänzlich unterschiedlichen Themen und gemeinsamen Motivationen, zu dritt, neben- und miteinander. "3 Points And A Mountain", Musik zwischen Matjeshering und Majestoso, zwischen Kneipe und Concertgebouw. Dort, wo das Leben nur so fließt.

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