FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 104

Ulrich Stock

 

Berlin, 30. September 1990

Gibt es zwei Cecil Taylors? (So wie es zwei Berlins gab?) Den Solopianisten Cecil Taylor, den viele Musiker und Musikhörer kultisch verehren, weil er Klavier spielt wie keiner vor ihm und keiner nach ihm, so virtuos, so kraftvoll, so inspiriert, so (archi)tektonisch, so holographisch, so lyrisch? Den Bandleader Cecil Taylor, der viele Musiker und Musikhörer ratlos zurücklässt, weil er seine Bands zischend, keuchend, jaulend, murmelnd auf die Bühne kommen lässt, bevor sie wild und laut durch einander spielen, oft anderthalb Stunden lang ohne Unterbrechung, bis das Publikum in einen Zustand der Lähmung, des Entsetzens, des Taumels, der Ekstase verfällt, nicht selten alles gleichzeitig?

Nein, es gibt nur einen Cecil Taylor. Kürzlich habe ich ihm völlig unverhofft gegenüber gesessen, in einer Berliner Pension, mittags um halb zwei, ich kam gerade vom Bahnhof, brauchte ein Quartier, er kam gerade aus dem Bett, saß beim Frühstück. Ich wusste nicht, dass er da war. Er wusste nicht, wer ich war (derjenige, der seit vier Jahren die Liner Notes zu dieser CD schreiben sollte und darüber schier verzweifelte). Wir unterhielten uns zweieinhalb Stunden lang, erst über Bill Clinton und die USA und den Balkankrieg, wobei er Abscheu erkennen ließ gegen das vermeintlich Unbestreitbare. Dann sprachen wir über andere Musiker, über ihn, sein Solospiel, sein aktuelles Quintett, seine neueste amerikanische Platte (mit Dewey Redman und Elvin Jones: „Momentum Space“) und auch über diese CD, die - was er beklagte - noch immer nicht veröffentlicht sei, mit jenem Berliner Workshop-Konzert vor neun Jahren.

Also, ich habe nach dieser Begegnung keinen Zweifel mehr, dass es nur einen Cecil Taylor gibt - einen absolut faszinierenden, vielschichtigen, manchmal unnahbaren, dann geradezu heiteren und in all seiner Widersprüchlichkeit unbeirrbaren Künstler. Die Musik hat für mich dadurch nicht an Anziehungskraft verloren. Ihr Geheimnis ist mir nicht klarer geworden, nur präsenter.

Fest steht: Taylor solo am Klavier ist leichter zugänglich als Taylor mit Ensemble. Obwohl diejenigen meiner Freunde, die mit ihren Ohren an der Hitparade hängen oder am Kanon des Vertrauten von Rock bis Klassik, das Adjektiv „zugänglich“ spöttisch, ja hämisch kommentieren würden. Gut, also präziser: Im Solospiel sind sofort erkennbar Mikrostrukturen, später auch ein Spannungsbogen, noch später Spannungsbögen, noch später noch viel mehr, wobei das Klanggeschehen komplex ist, vielmaliges Hören erfordert und somit auch erlaubt - was eine seltene Stärke darstellt.

Im Ensemble hingegen: Extrem lange Spielzeiten, nicht vorhersagbare Entwicklungen; bisweilen wird die Musik zum Schwall, zum Wasserfall, zur puren Naturgewalt, die auf ästhetische Überlegungen keine Rücksicht mehr nimmt. Sie spült, sie schwemmt, sie reißt alles weg, und wer sich ihr aussetzt, kann nicht einmal mehr sicher sein, dass er alles hört, was gerade geschieht: wenn er auf der Bühne noch Musiker sieht, die leidenschaftlich ihr

Instrument traktieren, dieses aber im Schallwirbel nicht mehr orten kann... Das auf dieser CD dokumentierte Konzert fand am 30. September 1990 in Berlin statt. In West-Berlin, um genau zu sein, denn zur offiziellen Wiedervereinigung Deutschlands kam es erst drei Tage später. Vom Ort des Bechstein-Konzertsaals in der Kreuzberger Prinzenstraße hatte man seit 1961 zur Mauer hinüberschauen schauen können.

Auf der Bühne standen neben Taylor, den drei Engländern Evan Parker, Barry Guy, Tony Oxley und dem Finnen Harri Sjöström sechs Bläser aus Ost- und West-Berlin. Dass die Musik der Politik voraus war, ist nur im Nachhinein überraschend; wer die deutsch-deutsche Jazzgeschichte kennt, weiß um die sukzessiven, subversiven Pioniertaten der Plattenfirma FMP. Und wer Cecil Taylors Musik kennt, könnte auf die Idee kommen, dass beim Fall der Mauer 1989 mehr im Spiel war als Politik: Hatte er nicht im Jahr zuvor einen Monat lang auf Einladung der FMP in verschiedenen Konstellationen Konzerte im Osten und Westen Berlins gegeben, festgehalten auf jenem legendären CD-Elferpack? War womöglich er der erste Mauerspecht gewesen?

Nach dem Mauerfall hatte Taylor dann ein Berlin-Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes, was hieß: im spannenden Jahr 1990 Geld und Wohnung in der geteilten, nicht mehr geteilten Stadt - und Auftritte. In diesen Zusammenhang fällt die FMP-Konzerttriologie „Total Taylor Total“. Während der letzten Woche im September drei Abende: einmal solo, einmal im Quartett (mit Parker, Guy & Oxley), dann mit dem „Workshop Ensemble“.

Einige Tage lang hatte Taylor mit dem ad hoc zusammengesetzten Ensemble gearbeitet. „Geprobt“ wäre nicht das rechte Wort: Noch heute erinnern sich einige Berliner Teilnehmer mit gemischten Gefühlen an diese Sitzungen. Manchen kommt es in der Rückschau so vor, als hätten sie die meiste Zeit nur auf das Eintreffen Taylors gewartet - und wahrscheinlich liegen sie gar nicht mal falsch, denn wer um halb zwei frühstückt, ist um drei noch nicht so weit.

Dann sei er gekommen schon mit gewissen Vorstellungen, Tonfolgen, habe die aber nicht fein notiert und transponiert präsentiert, sondern: mündlich diktiert. Und das ziemlich genuschelt! So dass es ein ziemliches Durcheinander gegeben habe, weil nicht alle alles richtig verstanden hätten!

Undeutsch das!

Halt - bevor ich spotte: Mir wäre das auch auf die Nerven gegangen, wenige kostbare Tage mit einem der größten Musiker des Jazz und dann vertut man Zeit mit dem Aufschreiben von Noten, die er doch hätte kopieren - - -aber er macht es nun einmal so! Immer wieder ist diese Geschichte zu hören von Leuten, die irgendwo an einem seiner Workshops teilgenommen haben. Er will nicht alles festschreiben. Er will nicht Unmissverständlichkeit. Nur die Töne. Keine Notenwerte. Keine Pausen. Keine Betonungen. Ein Raum, der Freiraum ist.

Und dann? Ja, dann habe das Konzert seine ganz eigene Dynamik entwickelt, die mit den Proben nicht viel zu tun gehabt habe. Manch einer verstand im Nachhinein gar nicht, warum sie sich während der Sitzungen so lang mit den Tonfolgen aufgehalten hatten.

Für diese Aussage gibt es verschiedene Deutungen - positive wie negative. Beim Hören, beim Fühlen des Ergebnisses wird man sich für eine entscheiden. Meine ist diese: Musik ist nur dann nicht mehr als eine Folge von Tönen, wenn nur ein Musiker spielt. Spielen mehr Musiker, gibt es Interaktion, „Kommunikation“: Unterstützung, Verständnis, Zurückhaltung, Desinteresse, Spannung, Aggression, Zerstörung. Als gelungen gilt nach allgemeiner Auffassung eine Kommunikation, in der die positiven Anteile dominieren.

Taylor fasst das ganz offenbar weiter. Er scheint eine kollektive Vorbereitung anzustreben auf einen Moment, der dann ganz unbestimmt sein kann. Im Guten wie im Schlechten. Hier ist das Klavier, da ist die Band, da unten das Publikum, da draußen die Mauer, der Krieg, die Welt, das Weltall. Musik ereignet sich zwischen Sex und Kot und Sternen und Geld und Licht und in der Nähe von Brücken, die sich über Flüsse spannen, in denen seit Jahrtausenden Wasser über Steine gleitet.

Extreme Geschwindigkeit.
Äußerste Brutalität.
Zartheit.
Luft.

Das Unfassbare, das uns alle durchdringt, das uns ewig unverständlich sein wird: der eine Cecil Taylor, den es gibt, vermittelt seinen Musikern und seinem Publikum eine Ahnung davon.
Sie ist nicht immer angenehm.

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