FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 103

Peter Niklas Wilson

 

Wider den Ideenzwang

Zwei Fetische abendländischer Musik: Konstruktion und Idee. Und zugleich (in den Augen ihrer Verehrer) zwingende Argumente für die vermeintliche Inferiorität improvisierter Musik. Denn welchem Improvisator gelänge es schon, ad hoc eine melodische Idee von der Qualität von, sagen wir, Thelonious Monks „Round Midnight“ zu erzeugen? Und welches improvisierende Kollektiv vermöchte es, die konstruktive Dichte der Zahlenproportionen einer Dufay-Motette, der semantischen Chiffren von Alban Bergs „Lyrischer Suite“ oder von Conlon Nancarrows ingeniösen Tempo-Kanons zu erreichen? Rhetorische Fragen zweifellos. Doch vielleicht könnte die zwangsläufige Banalität der Antworten einmal nicht dazu dienen, das Weltbild der Meinungsführer der Werkmusik-Ästhetik zu bestätigen, sondern, ganz im Gegenteil, den Sinn der Fragestellung zu bezweifeln. Beim Hören dieser guten Eindreiviertelstunde frei improvisierter Duo-Musik ging mir einmal mehr auf, wie plausibel es wäre, den Spieß einmal umzudrehen, will sagen: die Fetische „Idee“ und „Konstruktion“ in Frage zu stellen, zu entmystifizieren - und über die Stärken einer Musik zu reflektieren, die sich nicht ihrem Diktat unterwirft.

So wäre es, meine ich, unangebracht, die eher beiläufigen Figuren, mit denen Alexander von Schlippenbach Mal um Mal das Zwiegespräch mit Tony Oxley eröffnet, zu Einfällen von singulärer Originalität zu stilisieren. Eher haben sie etwas Beiläufiges: Spiel-Figuren, Muster, wie sie vielleicht aus der Begegnung von humaner Physiognomie und der Ergonomie der 88 schwarz-weißen Tasten mit gewisser Zwangsläufigkeit entstehen, Rede-Wendungen eben, mit denen man das Gespräch eröffnet. Solche „Banalität“ (in den Ohren des Apologeten des „genialen Einfalls“) ist indes in frei improvisierter Musik kein Mangel, sondern so etwas wie eine (Überlebens-) Notwendigkeit. Einerseits, weil kein Improvisator es sich leisten kann, auf die kosmische Eingebung der transzendentalen Idee, auf den „goldenen Moment“, wie Anthony Braxton es ausdrückt, zu warten. Improvisation geschieht im Hier und Jetzt, und ein guter Teil des Könnens des versierten Improvisators liegt darin, damit vorlieb zu nehmen, was der Moment anbietet, was vorhanden ist, welche Klänge, welche musikalischen Partikel nun einmal da sind, in die Welt gesetzt von den Mitspielern oder von den selbst entwickelten Sprechmustern. Andererseits, weil in der Welt der Improvisation das Beharren auf dem Wert der einzigartigen Idee sogar zerstörerisch sein kann: Der Improvisator, der so in seinen eigenen Einfall verliebt ist, dass er ihn zum Fokus des musikalischen Geschehens erheben möchte, dem alles und alle zu folgen haben, verschließt sich nicht selten den Angeboten seiner Mitspieler, den anderen musikalischen Möglichkeiten, die in der Luft liegen.

Mischa Mengelberg, einer der großen Improvisatoren unserer Tage, sagte mir dazu kürzlich: „Um eine nette oder interessante improvisierte Musik zu machen, ist es für mich nicht wichtig, ganz große und fantastische musikalische Gedanken zu gestalten. [...] Große Gedanken - ja, die kommen vielleicht einmal in zwanzig Jahren, und wenn man Glück hat, dann ist vielleicht einer dabei in dieser Stunde, in der man sich quält, nicht zu viele Fehler zu machen. Mehr kann man nicht hoffen.“ Solche Selbstbescheidung mag den unerschütterlichen Propagandisten abendländischer Genie-Metaphysik erschreckend profan anmuten – quasi Offenbarungseid und Armutszeugnis des Improvisators -, ist aber ein probates Gegengift gegen all‘ die Weihrauch schwingende Verklärungen musikalischer Kreativität, die auch unter Anhängern neuer (komponierter wie improvisierter) Musik noch weit verbreitet sind. „Playing“ nannte Derek Bailey, einer der scharfzüngigsten und radikalsten Kritiker solcher krypto religiösen Stilisierungen, seine wunderbare Duo-Platte mit dem Schlagzeuger John Stevens, und eben die nüchterne Bodenständigkeit, die sich in einer solchen Namensgebung ausdrückt, gilt es zu begreifen: Improvisation nicht als übermenschliche Leistung nie versiegenden Ideen-Stroms und titanischer Konstruktions-Anstrengung, sondern als „dimension of perfectly ordinary reality“ (Cornelius Cardew), als Hand-Arbeit mit der musikalischen Floskel. Als Fähigkeit, mit dem zu beginnen, was da ist, es fortzusetzen, auf sein selbst generierendes und dialogisches Potential zu überprüfen, es mit Geduld und langem Atem von immer neuen Blickwinkeln zu betrachten und nicht vorschnell aus der Hand zu legen. Als Spiel, dessen Qualität nicht allein an seinen „Ergebnissen“ zu messen ist, sondern auch und gerade an den merkwürdigen, unvorhersehbaren, irritierenden, destruktiven Wendungen, die es nehmen kann. (Noch einmal Misha Mengelberg: „...ja, stecken bleiben, und irgendwie auf irgendeine unwahrscheinliche Weise wieder herauskommen, das gibt es. Das ist eine Qualität, die Komposition nicht hat, denn beim Komponieren hat man vielleicht auch plötzlich die Idee, an dieser Stelle solle etwas Merkwürdiges kommen, aber dann wartet man, und dann findet man schon etwas. Doch in der Improvisation hat man überhaupt nicht die Zeit, das zu überdenken. Man muss agieren.“)

Nicht, dass solches (Re-)Aktionsvermögen gering zu schätzen wäre. Aber es eignet sich wohl weniger für Mystifizierungen als die bekannten Anekdoten über kosmische Eingebungen von Komponisten, ein Topos abendländischer Ästhetik bis hin zu Stockhausen und Scelsi. „Long distance improvisors“ (Derek Bailey), Musiker also, die die Praxis der Improvisation seit Jahrzehnten leben, wie Alexander von Schlippenbach und Tony Oxley es tun, wissen, dass dies eine musikalische Lebensform ist, die mit durchaus unromantischen Qualitäten wie Arbeit, Geduld und Ausdauer zu tun hat, dass da, um die Metaphorik der Stücktitel aufzugreifen, viel gegraben werden muss, ehe geerntet werden kann. Und dabei ist viel Alltägliches im Spiel: Körner und Wurzeln, grains and roots. Doch dann wachsen in diesem so simplen, so unendlich komplexen Sprachspiel namens Improvisation auch so wunderbare, gefährliche Geschöpfe wie der Fliegenpilz (fly agaric) oder die Nachtschattengewächse Tollkirsche (deadly nightshade), Stechapfel (thorn apple) und Bilsenkraut (henbane).

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