FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 103

Bert Noglik

 

Dialog auf der Ebene gleichzeitigen Agierens

Zwei Wegbereiter begegnen sich auf einem Hochplateau. Sie wandern über Geröllhalden, völlig souverän, ohne einander oder denen, die ihnen zuhören, irgend etwas beweisen zu müssen. Beide haben sich vor Jahr und Tag auf ein Langzeitkontinuum eingelassen, dabei das Spiel stets als Arbeit begriffen und musikalische Tätigkeit zugleich mit jenen enthusiasmierenden Energien ausgefüllt, die die Ebene des rein Musikalischen transzendieren. Beiden gelang es, eine neue musikalische Sprache zu schaffen und auszudifferenzieren, einen konventionellen Kanon von Formen und Verbindlichkeiten abzuschütteln, ohne in formloser Unverbindlichkeit zu landen.

Mit anderen Worten: die Ablösung von der Regelhaftigkeit des Jazz führte nicht zum Chaos, sondern zu einer neuen Dialektik von spontaner Entäußerung und Beherrschtheit. Sowohl Alexander von Schlippenbach als auch Tony Oxley haben sich beträchtlich vom Jazz entfernt, ohne ihre Herkunft in dieser Musik zu verleugnen; und sie haben sich zuweilen den Klangwelten der Neuen Musik angenähert, ohne in diesen aufzugehen. So bleibt in den großen Bögen, die sie miteinander aufbauen, stets ein starkes Element physischer Bewegungsenergie enthalten, das eher auf die kultischen Qualitäten ethnischer (oder jazzmusikalischer) Traditionen verweist als auf die Spielhaltungen europäischer Kammermusik. Tony Oxley, der möglicherweise in früheren Jahren seiner Laufbahn - immerhin war er zeitweilig auch Haus-Schlagzeuger im Londoner Club von Ronnie Scott - mehr Jazz gespielt hat als manche der später auf den Plan tretenden improvisierenden Musiker, geht besonders weit in der Art des Abstrahierens von jedweden Traditionen. Dennoch läßt er in den dichten Passagen eine hochexpressive Energie und in den Abschnitten mit reduzierter Ereignisdichte eine nicht nachlassende, nur eben sublimere Art des Spannungsaufbaus erkennen. Das alles korrespondiert auf eine so intelligente und intuitive Weise mit der Spielweise Alexander von Schlippenbachs, daß sich der Dialog auf die Ebene gleichzeitigen Sprechens und Agierens (wie auch Zuhörens) verlagert.

Basis und zugleich Faszinosum dieser ununterbrochenen Interaktion ist die Verschachtelung des Klanglichen mit dem Rhythmischen. Tony Oxley, der wie die meisten Schlagzeuger dieser Musik, hochselektiv zu Werke geht, was die Auswahl der Klangerzeuger und der musikalischen Materialien anbelangt, hat sich Teile eines Drum-Sets sowie Perkussionsutensilien zu einem individuellen Instrumentarium zusammengestellt. Unüberhörbar, wie er Rhythmisches immer zugleich als Klangliches denkt, empfindet, realisiert. Ganz ähnlich Alexander von Schlippenbach, der - nun von der anderen Seite her - Pianistisches oft als Perkussives vorstellt. Eine neue Qualität orchestraler Dimension wird hier in das Kleinformat des Duos verlegt. Doch im Unterschied zu Alexander von Schlippenbachs bereits 1966 gegründetem „Globe Unity Orchestra“ oder zu Tony Oxleys „Celebration Orchestra“ muß die Arbeit in der Eins-zu-eins-Besetzung konzentrierter (und reduzierter), kann sie zugleich sehr viel freier erfolgen. Noch wesentlich freier als in den kammermusikalischen Werken der europäischen Klassiker, die mit und in diesen oftmals Material für ihre sinfonischen Werke generierten.

Tony Oxleys Grund Erfahrung seit Anfang der sechziger Jahre, als er im Derek Bailey und Gavin Bryars in die Gefilde der freien Improvisation aufbrach, hat er als „Befreiung vom Dogma des Beats“ umrissen: „Die Musik begann mit der Stille. Sie begann nicht mehr mit der Rhythmusgruppe, die ‘es in Schwung’ zu bringen hatte.“ Alexander von Schlippenbach machte, ebenfalls in den frühen Jahren, komplementäre Erfahrungen, insbesondere, was die Ablösung von den Dogmen der Tonalität anbelangt: „Der im Schönbergschen Sinne unzulässige Terminus ‘Atonalität’ war das Zauberwort. Ein wahres Pandämonium neuer Klänge, Formen und Rhythmen hatte sich aufgetan und bot denen, die zufaßten und das Glück hatten, Gleichgesinnte zu finden, eine Fülle schöpferischer Möglichkeiten.“

Fast merkwürdig, daß die beiden Musiker, zwischen denen so viele Korrespondenzen aufleuchten, nicht eher zueinander gefunden haben. Das mag mit langfristig bestehenden Spielkonstellationen und dem Zufall von Begegnungen zusammenhängen. Doch die Erfahrungen, die Alexander von Schlippenbach mit Paul Lovens, Sven-Åke Johansson oder Sunny Murray sammeln konnte, oder jene, die Tony Oxley im musikalischen Dialog mit Cecil Taylor akkumulierte, fließen ein in diese für beide neue und doch nicht voraussetzungslose Dialogsituation. Die Nuancen in dieser interaktiven Selbstverständigung zwischen Alexander von Schlippenbach und Tony Oxley bestehen im Ausformulieren und Weglassen, im Vermeiden und Akzentuieren.

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