FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 99

Peter Niklas Wilson

 

Jenseits der Kategorien

"lch versuche, Geschichten wie Homer zu erzählen und organisiere sie wie Joyce. Meine Musik ist ein Bewusstseinsstrom. Einfach reden, die Gedanken fließen und sich selbst ordnen lassen". Was Sam Rivers vor einiger Zeit in einem Gespräch mit Wolf Kampmann formulierte, erinnert nicht nur an Kleists (überaus Improvisations-relevante) Reflexionen über die Verfertigung der Gedanken beim Sprechen, sondern verdeutlicht zudem eines: Samuel Carthorne Rivers ist kein Meister der Miniatur, sondern ein extemporierender Langstreckenläufer. Der Rekurs auf Homer leuchtet ein. Denn was das Epos auszeichnet - Weitschweifigkeit der Form, Magie der Wiederholung, Tonfall des Pathos -, charakterisiert auch Rivers' ebenso seelenvolle wie windungsreiche Linien. Dies ist keine Musik der simplen, voraushörbaren dramatischen Entwicklung, sondern ein Modus des Daseins im Klang: potentiell endlos, und doch hellwach für das Ereignis des Augenblicks. Rivers' Musik ist nicht spektakulär - keine vordergründige Pyrotechnik, keine inszenierten Ekstasen -, und sie verlangt von dem, der sich auf ihre Logik des ruhigen Fließens, der kleinen Turbulenzen, der unvermittelten Stromschnellen, einlassen will, Geduld und Zeit.

Und sie verlangt mehr noch von dem, der aktiv mitgestaltend in ihren Raum eintritt. Der schmale Grat zwischen Redundanz und Entropie, auf dem der Multiinstrumentalist Rivers stets wandelt - der Grat zwischen motivischer Logik und freiem Bewusstseinssprung, zwischen tonaler Eindeutigkeit und freitonaler Ambiguität, zwischen definiertem Tempo und atmender Agogik -, ihn zu erkennen und, mehr noch, mit gleicher Eleganz auf ihm zu balancieren, erfordert von Rivers' Duopartnern beträchtliche Sensibilität. Alexander von Schlippenbach legt sie in jeder der siebzig Minuten dieses Mitschnitts an den Tag. Solche frappierende Affinität zu einem fremden, sehr eigen-artigen Konzept freier Improvisation mag überraschen, lässt sich aber er- und begründen: Zum einen hatte Schlippenbach bereits 1995, im Rahmen einer ersten Zusammenarbeit mit dem Amerikaner (dokumentiert auf "Backgrounds for Improvisors", FMP CD 75), Gelegenheit, sich in Rivers' spielerischen Gestus einzufühlen. Zum anderen ist der Berliner Pianist, wie sein amerikanisches Gegenüber, einer jener frei improvisierender Musiker, die die Jazz-Tradition ausgiebig studierten, ehe sie sich von ihr emanzipierten. Und drittens sind sowohl Schlippenbach als auch Rivers ebenso intim mit den Gestaltungsmitteln der europäischen Moderne wie denen der afroamerikanischen Musik vertraut (Schlippenbach lernte bei Bernd Alois Zimmermann; Rivers studierte am New England Conservatory in Boston). Kein Wunder, das Schlippenbach und Rivers noch im offensten Kontext tonal und formal denken und empfinden; kein Wunder, dass der Pianist schlagfertig und souverän die motivischen Vorgaben des Saxophonisten und Flötisten pariert. Rivers seinerseits bringt als praktizierender Pianist die besten Voraussetzungen mit, auf seinen Instrumenten auf Tastenspezifische Texturen und Bewegungsformen zu reagieren.

Es mag unangemessen scheinen, bei gelungener Duo-Musik den Beitrag des einen oder anderen Partners im kreativen Prozess herauszustellen. Und doch gestehe ich, dass mich Schlippenbachs Rolle in diesen fünf Improvisationen besonders beeindruckt. Nicht nur, well es dem Pianisten gelingt, sich auf den höchst eigentümlichen, im traditionellen Sinn zweifellos "unjazzigen" Fluss von Rivers' Phrasen-Alternieren von Vibrato-animierten Haltetönen und rapiden Bewegungsmustern einzustellen, sondern auch, well er es versteht, die Bläser-Linien auf verschiedenste Art und Weise zu beleuchten, in immer andere Kontexte zu stellen, spontan zu "orchestrieren": durch Ausdünnung zur Zweistimmigkeit oder durch quasi-symphonische Verdichtung, durch klug alternierende und kontrastierende Registrierung, durch motivische Echos, durch dramaturgisch ausgefeilten Wechsel zwischen motivischem Reaktionsspiel, dichter Pattern-Webarbeit, bescheidenem Rückzug zu begleitender Grundierung - oder wohl kalkulierte Pausen, in denen Rivers' mäandernde Linien nur noch ihrer autonomen Logik folgen.

Die Musik von Sam Rivers und Alexander von Schlippenbach, ihre gemeinsame Musik: eine Welt für sich, weder energy playing im Verständnis des Hardcore-Freejazz noch Exempel einer Klangforschungs-Ästhetik im britischen (oder Chicagoer) Sinn. Denn Freiheit, wie sie Sam Rivers für sich definiert, heißt "nicht die unbedingte Abkehr von Melodie und Rhythmus, sondern die Freiheit, mir aussuchen zu können, was ich spielen will. Free heißt für mich jenseits aller Kategorien".



Peter Niklas Wilson

zurück / back