FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 98

Joseph Chonto

 

Dieses Konzert war Cecil Taylors "Dankeschön" an Berlin. Hier hielt er sich schon, dank eines DAAD-Stipendiums (Deutscher Akademischer Austauschdienst), seit fast sechs Monaten auf, genoss sehr die Gastfreundschaft der Menschen und den Urlaub von New Yorks destruktiven Einflüssen. (Einmal, so erzählte er mir, kam er früh morgens aus dem "Abraxas", seine Lieblingsdiskothek in Berlin, als eine Frau mit einem 10 DM-Schein hinter ihm herlief: "Entschuldigung, das ist Ihnen gerade aus der Tasche gefallen", sagte sie. Cecil fragte mich, "Wie oft, meinst Du, passiert so was in New York? Dort drüben ziehen sie eine Pistole aus der Tasche und wollen mehr".) Aufgrund der Spontaneität und großzügigen Unterstützung gab FMP Taylor die seltene Gelegenheit, praktisch immer, wenn er bereit war, Konzerte zu geben und Aufnahmen zu produzieren. Taylors sechsmonatiger Berlinaufenthalt im Jahre 1990 war (neben der sechs Wochen im Sommer 1988, aus denen die FMP-Kassette mit 11 CDs hervorging) eine seiner produktivsten Perioden überhaupt. Man könnte tatsächlich mit einigem Recht behaupten, dass FMP und das begeisterte Berliner Publikum Cecil Taylor die Jazzwelt wieder neu erschlossen hat. Zwischen Sommer 1988 und dem Erscheinen der Kassette Ende 1989 war ich Taylors "Manager" (insofern jemand überhaupt von sich sagen kann, Cecil Taylor zu "managen".) Zu der Zeit befand sich Taylor in seiner Karriere an einem Punkt, wo er praktisch auf der Stelle trat. Acht Jahre lang hatte er weder in Chicago, noch in Boston oder in Washington D.C. gespielt. Die einzigen Aufnahmen waren Live-Mitschnitte, die ein kleines, unabhängiges, britisches Label herausgebracht hatte; musikalisch in Ordnung, aber keineswegs umwerfend, hatten sie weder Schmiss noch zeigten sie künstlerisches Fortschreiten. Der Besitzer des besagten, auf "Avantgarde"-Jazz spezialisierten Labels sagte mir: "lch bin nicht wirklich daran interessiert, Taylor aufzunehmen. Es gibt schon so viel Platten von ihm, dass ich die Notwendigkeit nicht sehe, bloß noch eine weitere Cecil Taylor Platte herauszubringen - es sei denn, er macht ,etwas wirklich Neues". Als aber die FMP-Kassette erschienen war, konnte die Jazzwelt Taylor nicht länger als selbstverständlich ansehen, und sein Marktwert in der Jazzwelt boomte. Es gab mehr und besser bezahlte Arbeit und schließlich einen "Genius Award" der MacArthur Foundation.

Taylors Aufenthalt 1990 in Berlin führte zur Verwirklichung mehrerer lang ersehnter, künstlerischer Vorhaben: das ,Corona String'-Projekt, das teil-synchronisierte Solo Double Holy House - eine Aufnahme mit Lyrik/Klavier/Perkussion -, eine länger dauernde Zusammenarbeit mit William Parker und Tony Oxley als ,Feel Trio' sowie ein ,interessantes' Tanz/Lyrik/Musik-Konzert, in welchem man den nicht gerade magersüchtigen William Parker in einer Art Häschen-Hüpf-Nummer tanzen und den Perkussionisten Masashi Harada sich bäuchlings über die Bühnenbretter schlängeln sah. Die bemerkenswerteste Auswirkung von Taylors Berlinaufenthalt zeigt sich aber vielleicht in der allmählichen ,Europäisierung' seiner Musik. Besonders diese Aufnahme ist ein hinreichender Beweis dafür. Es versteht sich, dass Ellington und Monk noch immer Taylors Ursprung bleiben. Ebenso deutlich zeichnet sich jedoch seit 1988 eine Wandlung in Taylors Klang ab. Der Übergang zu einem mehr ,europäischen' Klangbild wurde erstmals vernehmbar, als er sich für Tony Oxley als Schlagzeuger im ,Feel Trio' entschied. In den späten Achtzigern und frühen Neunzigern war Oxley Taylors erste Wahl als Schlagzeuger. Er könnte es immer noch sein, und der einzige Grund, dass sie nicht mehr miteinander arbeiten, ist vielleicht eher ein persönliches Missverständnis als eine musikalische Divergenz (was häufig mit Musikern passiert, mit denen Taylor arbeitet, und was wahrscheinlich der Hauptgrund dafür ist, dass er nie eine musikalische "Unit" - wie er seine Gruppen nennt - mit stabiler Besetzung aufzubauen vermochte).

Oxley in die Vereinigten Staaten zu bringen, um mit dem "Feel Trio" Gigs in Washington D.C. und New York zu spielen, löste Schockwellen in der Jazzgemeinde aus, wie Taylor sehr wohl gewusst hat. Etwa zwei Wochen vor dem Gig in New York gingen Taylor und ich zum "Sweet Basil", um Geschäftliches zu besprechen. Die Gruppe, die in jener Nacht spielte, war ein Quintett einstiger Avantgardemusiker; sie hatten ihren Sound inzwischen zu einer Art "hippen Progressivismus" aufgeweicht, also zu der Art Musik, die Jazzneophyten und die meisten Kritiker "hip" nennen würden, die es dabei aber nicht riskieren, den delikaten Schönheitssinn des Wochenendjazzkonsumenten und der Touristen zu verletzen; denn diese sollen ja im Club bleiben und Essen und Getränke konsumieren, um dem Club Geld einzubringen, damit der Club wiederum die Band engagiere, die ja eben diese Menge an essenden und trinkenden und gleichzeitig Musik hörenden Jazzhörer angezogen hat. Während einer Pause trat der Schlagzeuger dieser Gruppe an Taylor heran und fragte ihn, ob es wahr sei, dass er in zwei Wochen einen "weißen englischen Typen" hierher bringen würde, der ihn am Schlagzeug begleiten solle. Taylor sagte, ja, das sei wahr. Daraufhin fragte der Schlagzeuger: "Cecil warum? Das ist doch unsere Musik, Mann, wir sollten sie in der Familie lassen. Es gibt genug Brüder in dieser Stadt, die glücklich wären, diesen Gig mit Dir machen zu können. Und überhaupt, das Schlagzeug, Mann, ein weißer Typ am Schlagzeug..." Es ist unnötig zu sagen, dass Taylor von dem Argument - "weiße Musiker verwässern/verpanschen die Reinheit unserer Musik" - nicht mehr beeinflusst war als Miles Davis, Charles Mingus oder Archie Shepp. Jazz ist eine wesenhaft multikulturelle Musik. Stimmt, die größten Beiträge kamen und kommen von Afro-Amerikanern; doch zu sagen, Jazz sei eine rein und exklusiv afro-amerikanische Musik und weiße oder europäische Musiker hatten nichts, haben nichts, können nichts, werden nichts Einzigartiges beizutragen haben, ist einfach ein Leugnen der Realität und hat einen Beigeschmack von - sagen wir "kultureller Unsicherheit"? Man sagt, dass die Ehre stets dem zuteil werden solle, dem sie gebührt; das ist tragischerweise, besonders für afro-amerikanische Jazzmusiker, nach wie vor nicht der Fall. Ich glaube aber nicht, dass die Antwort hierauf Jim-Crow-Rassismus oder kulturelle Engstirnigkeit heißt.

Aber um auf den Punkt zurückzukommen: Taylor wollte Oxley speziell deswegen, weil es nun einmal nur einen Tony Oxley gibt, und das war der Sound, nach dem Taylor bei einem Schlagzeuger lange gesucht hatte. Einmal hat Taylor mir gestanden, dass Oxleys Spiel ihn aufrege, wie kein Schlagzeuger seit Sunny Murray es vermochte - vielleicht sogar noch mehr. Ein anderer Grund für Taylor auf Oxley (und später, anderen Europäer) zu beharren, war, dass er amerikanischen Musikern damit eine Botschaft senden wollte: sie seien käuflich. In den Europäern fand Taylor Musiker, die sich noch absolut dem ,freien' Spiel widmeten mit allen seinen Konsequenzen, - nämlich Touristen, Dilettanten und Clubbesitzer zu verdammen. Nach Taylors Gefühl gibt es zu viele einst wagemutige Musiker, die es sich in einer Nische bequem gemacht haben und sich jetzt nicht nur nicht mehr um die Erweiterung und Erkundung der Musik bemühen, sondern diese eher wieder abschwächen, sie versuchen sicherer, eingängiger und voraussagbarer zu machen - so dass sie schließlich langweilig und tot geworden ist, wenn sie den Zuhörer erreicht.

Taylors Entscheidung für Tony Oxley sagt viel über Taylors musikalisches Denken und seine Musikrichtung seit 1988 aus. Oxley ist musikalisch von Grund auf mehr klassisch-europäisch als afro-amerikanisch orientiert. (Ich erinnere mich an ein Fest in meiner Dachwohnung Ende '88, bei dem Oxley Beethovensonaten gespielt von Glenn Gould hören wollte, und danach vielleicht etwas von Webern. Nach einer Weile wünschte Taylor sich James Brown oder Marvin Gaye. Bald nachdem die ersten Klänge von Soul Brother Nr. 1 ertönt waren, fragte Oxley mich: "Wie kann Cecil sich so was nur anhören? Er spielt auf einem so unglaublich hohen Niveau, aber diese Musik - sie ist so einfach - ich kann es absolut nicht verstehen. Wie kann ihm das gefallen?") Obwohl Oxley durchaus in der Lage ist, mit einem gewissen Geschick Hardbop zu spielen, wird sein eher Geradeausspielen nie mit dem von Billy Higgins, Billy Hart, Ben Riley, Roy Haynes, Art Taylor, Pete LaRoca, oder Tony Williams zu verwechseln sein, ganz zu schweigen von Elvin Jones oder Art Blakey. Aber trotzdem - und auch wenn er nicht dahinter kommt, was es mit James Brown auf sich hat - ist das wirklich belanglos, wenn er hinter seinem Schlagzeug sitzt, um mit Cecil Taylor oder jedem anderen modernen Musiker zu spielen. Denn Oxleys geschärfte Ohren und sein feines Gespür für Komposition und Klang rücken ihn in nächste Nähe zu einem improvisierenden Edgar Varese oder Harry Partch, besonders durch seine unglaublich komplexen, subtilen und auf ihre Weise beseelten perkussiven Aussagen. Wenn man seinen kraftvollen, Wände zersprengenden Rhythmus hinzufügt, hat man einen der kreativsten Perkussionisten aller Zeiten; allerdings nicht ganz aus derselben Tradition, aus der Rashied Ali, Ed Blackwell, Sunny Murray oder Andrew CyriIle kamen.

Es war jedoch nicht nur Taylors Vorliebe für Tony Oxley, die seiner Musik eine mehr europäische Prägung verlieh. Seit Taylor Tristan Honsinger am Cello (ein Instrument, das im Jazz selten auftaucht) und den Sopransaxophonisten Harri Sjöström begegnet ist, hat Taylor diese beiden fast immer mit in seine "Units" aufgenommen. Tatsächlich sind Honsinger und Sjöström Taylors zwei musikalische Grundpfeiler, seit William Parker 1993 aufgehört hat, mit Taylor zu arbeiten.

Die größte Veränderung zeigt sich aber vielleicht in der Art, mit der Taylor sich dem Klavier nähert. Er klingt irgendwie anders, und das ist bislang nirgendwo auffälliger als auf dieser CD. Mehr als je zuvor kommt hier eine Zartheit, eine romantische Seite zum Ausdruck. Taylors eigenes Rhythmusgefühl war ebenfalls stets mehr in europäisch-klassischer als in afro-amerikanischer Musik verwurzelt. Taylors Spiel zeigte fast immer eine stark "Beat"-betonte, deklamatorische "Sturm und Drang" Phrasierung, im Gegensatz zu dem federnden "Swing" von Ornette Coleman oder dem "Hyperdrive-Flug" von John Coltrane. Ein Musiker erzählte mir einmal, wie Taylor zu dem wurde, was er ist, "...dass er, als er anfing, der nächste Bud Powell sein wollte. Aber er kriegte Powells Rhythmus nicht hin. Also musste er eine neue musikalische Sprache schaffen, die rein Cecil Taylor ist. Und das ist sein Genie". Auch wenn dies Spekulation ist, so kommt es mir doch wie eine logische Analyse vor. Denn Taylor macht ja nichts anderes als Stile und Traditionen zu bearbeiten und zusammenzufügen. Wie er einmal sagte: "lch bin amerikanisch-indianischer, afrikanischer und englischer Abstammung und all diesen Wegen folge ich. Ich tappe nicht in die Falle einer einfachen Definition". In der Tat wird Taylor mehr und mehr zu einer Brücke zwischen improvisierenden Musikern, welche aus afro-amerikanischen und europäisch-klassischen Traditionen kommen. Erst vor ein paar Tagen hörte ich mir ein Konzert an, in dem Taylor ein großes Ensemble an weißen amerikanischen und europäischen Musikern leitete. Während des Spiels gab es kaum Soli, das Gewicht lag eher auf dem Kollektiven als auf dem Individuellen: ein modernes, demokratischeres, improvisierendes Orchester. Zudem hatte ich bei dem Gehörten den Eindruck, dass der musikalische Wortschatz dieser Musiker weit mehr durch die Musik von Schönberg, Webern, Stockhausen und die Musik von Roscoe Mitchell und Anthony Braxton (die ihrerseits wiederum "Schüler" der genannten Komponisten waren) beeinflusst war, und weniger durch die Musik von Hal "Cornbread" Singer, Gene Ammons, Lockjaw Davis oder Art Blakey's Jazz Messengers. Ob die Musik dieses Ensembles die Prüfung der Zeit besteht, so wie Taylors anderes Werk auch, bleibt freilich abzuwarten.

Doch um auf die Musik dieser CD zurückzukommen: Ich bin überzeugt, diese CD wird als einer der Eckpfeiler von Taylors aufgezeichnetem Werk Bestand haben. Obwohl es von ihm sicherlich keinen Mangel an Solopianoaufnahmen gibt, ist diese besonders herausragend, da sie eine Seite von Taylor zeigt, die man bislang kaum durchschimmern sah, und noch niemals so außergewöhnlich schön. Es ist vielleicht wirklich belanglos, was für Diskussionen am Rande oder Kontroversen diese Musik oder auch Taylors derzeitige künstlerische Richtung hervorrufen; oder ob einer sie als teilweise europäisch oder gar nicht europäisch beeinflusst hört, wenn die Musik ist, was die Musik ist. Und aus diesem Grunde, denke ich, ist die Musik einfach außerordentlich schön und bedarf damit keiner weiteren Beschreibung oder Diskussion.

(Weswegen haben wir uns also überhaupt mit diesen Zeilen
so viel Mühe gegeben, Jost?)

Übersetzung: Aud Itta Sauer & Bruce Carnevale/Wulf Teichmann

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