FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 95

Steve Day.

 

An meiner Wand hängt ein großes blaues Poster mit einer Fotografie der ersten Solo Exkursion von Keith Tippett für die FMP, die original "Mujician", aufgenommen 1981. Tippett's Hände schweben in einer Weise über dem unteren Ende der Tastatur, dass ich die Ostinati ahne, noch bevor ihre großartige Dichte meine Ohren erreicht. Es ist schon einige Jahre her seit ich das Poster bekam, er selber hat es mir geschenkt, noch bevor ich überhaupt die Platte kaufte. Glücklicherweise hat sich die FMP entschlossen, die ersten beiden "Mujicians" als CDs herauszubringen noch bevor wir alle ins neue Jahrtausend gekippt werden; und meine Platten müssen nicht mehr kratzen und rauschen.

Keith Tippett ist der Pianist mit Flügeln. Da ist keine Angst vorm Fliegen, er wird dich schon hinbringen; und zwar dahin, genau dahin. Keith Tippett gehört, meiner Meinung nach, zu einer ausgesuchten Schar von Musikern, einer der ganz besonderen. Seine Musik ist von solcher Originalität, dass es überhaupt keinen Sinn macht, andere Pianisten zum Vergleich zu erwähnen. Natürlich verbindet man Tippett's Namen mit anderen Pianisten. Jeder der sich die Mühe gibt, die FMP Kataloge zu studieren, muss kein Detektiv sein, um offenkundig zwingende Verbindungen zu entdecken. Ohne seinesgleichen oder seinen Mentoren irgendetwas absprechen zu wollen - Keith Tippett greift - wortwörtlich - auf seine ganz eigene Art und Weise ins Klavier. Obwohl es ein überstrapaziertes Wort ist, ist es in diesem Fall unbedingt wahr, dieser Mann ist ein Erneuerer. Einen noch besseren Ausdruck fand seine Tochter Inca - "Mujician".

Obwohl die Musik auf diesen Aufnahmen direkt aus dem Kopf durch die Finger improvisiert ist, ist das, was wir hören orchestrale Komposition um Haaresbreite. Ein Rückblick auf Keith Tippett's Hintergrund und Karriere enthüllt die Geschichte, wie ein Mann Musiker und Zauberer werden kann.

Keith Grahame Tippett wuchs auf in Southmead, einer Vorortgemeinde mit roten Ziegelhäusern im Norden Bristols in West England. In den späten fünfziger und sechziger Jahren war Southmead nicht gerade der typische Ort für einen Musiker, der die Kunst des Klavierspielens auf den Kopf stellen sollte. Musik ist da, wo man sie findet. In Blaskapellen mit deinen Geschwistern, in der Kirchenmusik der St-Thomas-Becket-der-Märtyrerkirche, im Bebop und im traditionellen Jazz. 1967 wurde zum entscheidenden Jahr. Gerade 20 und doch schon Pianist mit klarer Aussage, bekam er ein Stipendium für den Barry Summer School Jazzkurs in Wales. Es veränderte alles. Er traf Elton Dean, Nick Evans und Marc Charig, die eine entscheidende Rolle spielen sollten in der Ausformung von Tippett's Musik.

Schon nach drei Jahren was das 50köpfige Centipede Orchester gegründet und machte sich auf den Weg mit dem Mammutwerk "Septober Energy" (RCA). Weitere große EnsembIestücke folgten in den nächsten Jahren. 1978 produzierte Keith Tippett's Ark, bestehend aus 22 Mitgliedern und konzipiert mit durchgängiger Doppelbesetzung der Instrumente, das hervorragend detaillierte "Frames" (Ogun). In den neunziger Jahren beschäftigte er sich intensiv mit dem Dedication Orchestra, einem lebendig pulsierenden Bigband-Grollen zu Ehren der Entstehung des neuen Südafrikas, aber gleichzeitig auch des Ablebens der meisten der Gründungsmitglieder der legendären Blue Notes, verbannt auf dem Höhepunkt der Apartheid. 1997 gründete Keith Tippett Tapestry, wiederum ein großes Orchester, das bisher noch keine Aufnahmen gemacht hat. Der Kern von Tapestry sind Paul Dunmall, Paul Rogers und Tony Levin, die zusammen mit Tippett das klassische Quartett bilden, benannt nach den Soloaufnahmen für die FMP aus den achtziger Jahren.

Während alle diesen großen Ensembles Musik von unglaublicher Weite geschaffen haben, unterscheiden sie sich zumindest auf den ersten Blick erheblich vom Konzept des Solopianisten auf dieser CD. Der Unterschied ist jedoch, meiner Meinung nach, unerheblich. Die drei "Mujicians", aufgenommen für die FMP, zeigen ein Werk, das zu einem Punkt angewachsen ist, an dem Keith Tippett's Diskographie Soloaufnahmen in Deutschland, England, Kanada und Japan umfasst; und es wird deutlich, dass das dargebotene eine One-man Orchestervision ist Unter seinen Händen ist das Klavier kein einzelnes Instrument mehr, sondern eine Klanggrube, verdrahtet mit Samthämmern. "Tuned percussion", die nicht nur die Möglichkeiten dieses Moments beschreibt, sondern auch den weiten, entwickelnden Blick in die Ewigkeit.

Die Wieder Auflage der beiden original "Mujicians" ist wichtig. Sie dokumentieren einen Teil der Anfänge Keith Tippett's als Solo Orchester, oder, wie er es einmal beschrieb, den "uneinsamen Regenmacher" (unlonely raindancer). Wirkliche Tänzer fallen nicht. Jeder, der sich zum ersten Mal mit Mujician I und II beschäftigt und die späteren Aufnahmen kennt, wird die Musik als das erkennen, was sie ist, Keimzelle von dem, was später kommen sollte, aber gleichzeitig schon voll ausgeformt in diesem Moment. Idealerweise sollten die drei "Mujicians" als thematische Einheit gehört werden. Obwohl das Photo auf meinem großen blauen Poster 1981 aufgenommen wurde, hat sich Keith Tippett wenig verändert. Hör ihn dir morgen an und du erkennst ihn sofort Genauso erkennt man die Musik. Schließlich jedoch ändert sich alles und in diesem Fall sind die Änderungen so subtil wie die Jahreszeiten. Wie gesagt, Keith Tippett ist der Pianist mit Flügeln. Angst vorm Fliegen? Nein, das glaube ich nicht.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

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