FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 92 / 93

Wolfgang Platzeck

 

Lawrence D. „Butch“ Morris polarisiert. Kompromisse , so sehr sie auch angestrebt sein mögen, sind bei seiner Arbeitsweise oft einfach unmöglich. Derek Bailey zum Beispiel, einer der großen Theoretiker der improvisierten Musik, hielt es einmal gerade fünf Minuten auf einer Probe aus. Dann hatte er von Butch Morris’ Konzept der „dirigierten Improvisation“ die Nase voll, schnappte sich verärgert seine Gitarre und verschwand.

Diese Meuterei ist nicht die einzige geblieben. Immerhin bedeutet die revolutionäre Methode, die Morris Mitte der 80er Jahre entwickelte, nicht nur die radikale Absage an jede Form einer schriftlich fixierten Musikvorlage - mag sie „klassisch“ notiert oder graphisch festgelegt sein - , ohne die auch der Jazz jahrzehntelang nicht ausgekommen ist. Sein Weg der „dirigierten Improvisation“ (Conduction), des „Komponierens durch Dirigieren“ kann von Puristen durchaus als Beleidigung dessen empfunden werden, was man gern den kollektiven, aus den Forderungen nach uneingeschränkter Gleichheit und Gleichberechtigung erwachsenen Ethos der freien Improvisation nennt. Da hat man sich glücklich von den Zwangsjacken der Konventionen befreit, hat den Notenständer entrümpelt - und muss plötzlich auf den Taktstock eines neuen autoritären Maestro achten, der auch den vermeintlich kühnsten musikalischen Gedankenflug mit einem Schlag abrupt beendet.

Nein, für die so genannte Selbstverwirklichung - die ohnehin und nicht nur in der Musik absolut schädlich ist für jede echte Kommunikation - ist in Morris’ Konzept kaum noch Raum. Statt dessen öffnen sich dem, der sich vorbehaltlos - als Musiker, aber auch als Zuhörer - auf das Wagnis einlässt, bislang verschlossene Klangräume. Butch Morris verhilft der Musik zu einem Mehr an Freiheit, indem er die Freiheit des Musikers beschränkt. Ein Paradoxon? Für manche vielleicht. Doch das löst sich auf in jenem magischen Moment, in dem der Dirigent mit dem Stab den Einsatz gibt.

Denn dem 1947 in Kalifornien geborenen Kornettisten, der sein Instrument seit längerem der Liebe zum „Conducting“ geopfert hat, ist gar nicht an der totalen Kontrolle des musikalischen Geschehens gelegen. Morris geht es allein um eine neue Sprache der Ensemble-Improvisation, um einen kollektiven Gesamtklang, der während des Schaffensprozesses entsteht und der zugleich diesen Prozess erst ermöglicht. Die Vielzahl der kreativen Zentren - die normalerweise der Anzahl der beteiligten Musiker entspricht - sucht er durch ein einziges, übergeordnetes Kraftzentrum zu ersetzen.

Wenn er als spiritus rector in die Spontan-Improvisationen eingreift, kann er einzelne Teile weiterentwickeln, kann er Momente von Musik einfangen, um damit zu arbeiten. „Die Idee“, sagt er , „ist, die Leute in unterschiedliche psychologische Klang-Zustände zu versetzen“. Das Ensemble, oder der Solist, bewegt sich innerhalb einer gewissen Struktur; Morris ändert die Struktur, und urplötzlich findet sich jeder in einer anderen Tonalität, einer anderen Form wieder und muss sehen, was er daraus macht - oder wie er sich aus dieser Situation befreit.

„Man muss genau wissen, wann man den Gedanken eines Musikers aufgreift, wann man seine Frage beantwortet, und wann nicht. Man muss die Leute dazu bringen, über ihre Entscheidungen nachzudenken, selbst wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen. Wenn man das nicht macht, dann kommen sie mit allen möglichen improvisatorischen Versatzstücken auf die Bühne, die sich seit Jahren bewährt haben. Aber das ist nicht das, was ich von ihnen will“. Der einfachste Weg ist eben nicht der beste, allenfalls der bequemste. Natürlich sollen die Musiker ihre persönliche Historie einbringen, ihre soziale Situation und ihren weltanschaulichen Hintergrund; vor allem aber sollen sie über all das hinausgehen. Sie sollen ihre musikalische Persönlichkeit nicht weiterentwickeln (das würde eine vorhersehbare, bis zu einem gewissen Maße auch gesteuerte Entwicklungs-Richtung implizieren), sondern einfach bedingungslos erweitern - expandieren.

„Wer immer mit den gleichen Musikern arbeitet, gelangt immer zu den gleichen Ergebnissen“: Es liegt auf der Hand, dass ein solch ambitioniertes Konzept der Feind eines festen, eingeschworenen und eingespielten Ensembles ist. Butch Morris realisiert seine „improvisierten Kompositionen“ bevorzugt mit ad-hoc-Gruppierungen, mit Musikern, die sonst kaum auf die Idee kämen, in dieser Besetzung zusammenzuarbeiten. Je weniger homogen das Ensemble, je unterschiedlicher die Charaktere, desto größer der Reiz, die Herausforderung. Und desto größer auch die Chance, durch instant composing etwas wirklich Neues, Bewegendes zu schaffen - jenseits aller Routine und Konvention, die es in der improvisierten Musik längst auch gibt.

Im Falle des „Berlin Skyscraper“-Projekts waren die Voraussetzungen ideal erfüllt. Morris, der sich 1995 im Rahmen eines Stipendiums des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschs-Dienst) mehrere Monate in Berlin aufhielt, konnte für das von Jost Gebers veranstaltete „Total Music Meeting“ aus Berliner Musikern ein Orchester seiner Wahl zusammenstellen. Keiner der 17 Musiker hatte bis dahin mit Morris gearbeitet. Auch die Erfahrungen mit und die Fähigkeiten zur Improvisation im Grenzbereich zwischen Jazz und experimenteller Neuer Musik waren unterschiedlich ausgeprägt.
Sechs Instrumentalisten - Stephan Mathieu (Perkussion), Nicholas Bussmann (Cello), Wolfgang Fuchs (Bassklarinette), Gregor Hotz (Saxophone), Olaf Rupp (Gitarre) und der Schweizer Kontrabassist Davide de Bernardi - lieferten, klassisch oder (wie Rupp) autodidaktisch geschult, das „Skyscraper“-Gerüst. Die Musiker kannten sich seit längerem, hatten teilweise in offenen Ensembles oder festen Gruppierungen für freie und zeitgenössische Musik („Cucurbita“, „Ensemble Strukturen“, „Bleiwarseinlohn“) zusammen gespielt Von ihnen konnte Butch Morris organisch entwickelte Improvisationen erhoffen.

Individualistischere Parts, mehr souveräne Weltoffenheit und damit verbunden ein größeres Ausdrucksspektrum waren von Musikern zu erwarten, die bereits auf beachtliche internationale Erfahrung zurückblicken konnten. Der französische Posaunist Marc Boukouya war als Solist auf großen europäischen Festivals zu Jazz und zeitgenössischer Musik auftreten (Warschauer Herbst, New Jazz Festival Moers, Musiktage Donaueschingen), hatte mit Musikerkollegen wie Anthony Braxton, Ernst-Ludwig Petrowsky, Keith Tippett, Evan Parker und Komponisten wie Vinko Globokar gearbeitet. Der Trompeter Axel Dörner stand, nach jazz-rock-orientiertem Beginn in Gunter Hampels „Coming Age Orchestra“, u.a. mit Tomasz Stanko, John Russell, Johannes und Conny Bauer, Sam Rivers und George Lewis auf der Bühne und gehörte dem „Berlin Improvisors Pool“ um Alexander von Schlippenbach an. Der Perkussionist Michael Griener war, neben Konzerten mit Paul Lovens, Barry Guy oder Phil Minton, vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Posaunisten Günter Christmann und der Pianistin Irene Schweitzer bekannt geworden. Pianist Bernhard Arndt hatte schon Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre mehrfach auf dem „Total Music Meeting“ gespielt, hatte am Workshop Freie Musik in Berlin teilgenommen und u.a. in Paris die „Art Allemagne Aujourd’hui“ präsentiert. Arndt, der einige Zeit als Berlin-Stipendiat in den USA gelebt hatte, war stark interessiert an einer Durchdringung der Künste. Nachdem er in früheren Jahren die Zusammenarbeit mit Tänzern erprobt hatte, ging es ihm nun seit geraumer Zeit - solistisch oder im Unica Zürn Trio - um die Verbindung von Musik und Text (Plattenaufnahme: „Working“, FMP 0750).

Gegen diese Vertreter der „freien“ Musik standen bei „Berlin Skyscraper“ Ensemblemitglieder, die eher aus den Randbereichen der (zeitgenössischen) Klassik rekrutiert wurden: die Harfenistin Tatjana Schütz, die Fagott-Spielerin Elisabeth Böhm-Christl, die Oboistin Johanne Braun und der Geiger Aleks Kolkowski. Dem entspricht zum Teil die Klangfarbe ihres Spiels: Die Intonation bei Rohrblatt-Instrumenten wie Oboe und Fagott ist zwangsläufig klassisch. Johanne Braun hatte sich zudem intensiv mit Gregorianik und Musik der Kulturen (Irland, Russland, Südamerika, Deutschland) befasst.

Die Flötistin Kirsten Reese (Schülerin u.a. von Robert Dick) wiederum brachte nicht nur ihre Kenntnisse des zeitgenössischen Repertoires mit, sondern auch die Erfahrungen, die sie durch ihre Arbeit im Elektronischen Studio der Technischen Universität (TU) Berlin und in Projekten Experimenteller Musik unter Leitung des Komponisten Dieter Schnebel gesammelt hatte. Mit Dietrich Petzold (Geige, Bratsche) hatte Butch Morris einen Harmoniker und Melodiker in die Streicher-Sektion genommen, dessen Biographie neben zahlreichen Theater-, Funk- und Fernsehkompositionen auch Konzerttourneen mit Uschi Brüning, Toto Blanke und Mikis Theodorakis aufwies.

Der Vibraphonist und Perkussionist Albrecht Riermeier schließlich war der große Grenzgänger - ein Musiker, für den Stilrichtungen wie Jazz, Neue Musik, Ethno, Fusion oder World Music immer Inspiration und Herausforderung, aber nie Verpflichtung waren. Film- und Theatermusiken, über 20 Plattenproduktionen mit so unterschiedlichen Musikern wie David Friedman, Kamalesh Maitra, John Tchicai oder Mikis Theodorakis belegten eindrucksvoll seine von unstillbarer Neugier getriebenen Versuche, den Kosmos musikalischer Sprachen und Dialekte zu erkunden.

Ein paar Tage vor Beginn des fünftägigen „Total Music Meeting ‘95“ begann Butch Morris mit den „Proben“ - und für beide Partner, Conductor und Ensemble, begann der Lernprozess, der bei Morris immer den gleichen Regeln folgt. Die ersten gelenkten Improvisationen machen den Maestro zunächst einmal damit vertraut, was seine Musiker als handwerkliches und kreatives Rüstzeug mitbringen. Die musikalische und musikantische Potenz entscheidet über das Geschehen der nächsten Tage, über den Grad des Erfolges. Als nächstes müssen die Ensemblemitglieder Butch Morris’ wortlosen Sprach-Code erlernen und verinnerlichen: Ein „Vokabular“ aus 20 Gesten und Handzeichen, durch das er den Musikern zu verstehen gibt, was er von ihnen will. Mal fordert Morris die Band auf, bei einer bestimmten Passage zu verharren, dann kommt der Aufruf zu forcierter Aktion. Es gibt Zeichen für laut und leise, für Anschwellen und Ausklingen, Legato oder Pizzicato. Auf ein Zeichen hin werden die Musiker - einzeln, in Gruppen - aus dem Spiel genommen, wieder eingeführt. Dazu kommt eine Arbeit mit dem Taktstock, der manchmal eingesetzt wird wie eine Filmkamera beim Szeneschwenk: Nur der Musiker darf dann spielen, auf dessen Höhe sich der Dirigentenstab gerade befindet.

Diese Signalsprache erlaubt Morris, Musik in dem Augenblick zu formen, in dem sie entsteht. Von den Musikern erfordert der Code dagegen hundertprozentige Aufmerksamkeit: Niemand kann sich leisten, in der Konzentration nachzulassen, den Conductor auch nur einen Augenblick lang nicht anzuschauen. Niemand weiß, wann das nächste Signal kommt, in welche Richtung er dann gehen soll

Dabei sieht Morris seine Zeichen keineswegs als starre Vorschriften. Der Musiker wird lediglich angewiesen, aus dem jeweiligen Ensemble-Kontext heraus eigenverantwortlich zu handeln. Wenn Morris das Zeichen für „Wiederholen“ gibt, dann sagt er dem Bandmitglied keineswegs, was dieses wiederholen soll. Der Musiker muss darüber im Bruchteil einer Sekunde selbst entscheiden. Das „Remember“-Zeichen wiederum sagt der Band, sich an das zu erinnern, was sie in diesem Moment gespielt hat, und das Erinnerte jederzeit abrufbar zu halten.

Wollte man eine Parallele zu anderen Kunstgattungen herstellen, so ließe sich Butch Morris’ Methode am ehesten mit der Arbeit eines Theaterregisseurs vergleichen. Und es ist wohl kein Zufall, dass Morris ausgerechnet mit jenem Theaterregisseur zusammengearbeitet hat, der in Europa das „instant writing & directing“ wohl am konsequentesten betrieben hat: mit dem Schweizer Christoph Marthaler. Wie Marthaler sich von seinen Darstellern szenische und inhaltliche Angebote machen lässt, wie er auswählt, verwirft, die eigene Position notfalls revidiert, wie er selbst am Premierenabend im Grunde nur ein Projektstadium präsentiert - das kennzeichnet auch die Arbeit von Butch Morris.

Die latente Anspannung, die fiebrige Neugier und Ungewissheit des Ensembles angesichts dieses „Instant composing“ empfindet dabei auch der Maestro selbst. Schließlich sind die Freiheiten der Musiker trotz aller Direktiven noch groß genug, um vor Überraschungen nicht gefeit zu sein. „Da nichts vorkomponiert oder aufgeschrieben ist, kann ich als Dirigent schwer voraussagen, wie es klingen wird, wenn ich die Arme fallen lasse und das Ensemble einsetzt“.

Musik will gehört werden. Doch das visuelle Element ist bei den „Conductions“ von Butch Morris von enormer Bedeutung. Beim „Total Music Meeting ‘95“ konnte das Publikum im Kulturzentrum „Podewil“ fünf Tage lang das Entstehen und Wachsen seiner ad-hoc-Symphonien optisch und in „real time“ verfolgen. Jeder Abend begann mit der Materialerkundung, mit der Suche nach möglichen Formen, Strukturen: in Improvisationen kleiner und kleinster Gruppierungen. Bei dieser Gelegenheit wurde auch schon ein Teil jener Zeichen-Codes vergeben, deren Bedeutung erst nach der Pause, beim großen Ensemble-Spiel, offenbar wurde. Oder auch nicht. Denn so manche Bewegung, manche Geste des Conductors bleibt scheinbar ohne Folgen. „Ich kann“, meint Butch Morris, „ein Stück mit einer Anweisung an den Perkussionisten beginnen, und trotzdem ist nichts zu hören. Dann gebe ich dem Saxophon ein Zeichen, und nach zehn Sekunden ist immer noch nichts passiert. Doch wenn ich dann ein Signal mit dem Taktstock gebe (downbeat), erhält man plötzlich die Früchte von zehn oder fünfzehn Sekunden Arbeit ohne Klang. Das Publikum sieht, wie Musik gemacht wird, ehe es die Musik hört.“

„Berlin Skyscraper“. Auch wenn der Live-Mitschnitt vom „Total Music Meeting“ die optischen Erfahrungen einer Butch Morris-Conduction nicht vermitteln kann - an der Intensität, am Wagemut, an der erfrischenden Unberechenbarkeit und am großen musikalischen Atem der ad-hoc-Kompositionen ändert das nichts. Ohnehin gilt für beide, für Live-Publikum wie CD-Hörer: Am Anfang ist die totale Stille. Aus der Stille wird der erste Klang geboren. Der Klang wächst, verändert sich, begnügt sich nicht mehr damit, den Himmel anzukratzen, sondern wagt sich hinaus in ein stetig expandierendes Sound-Universum.

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