FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 90

Hans-Jürgen Schaal

 

Du aber hebe deinen Stab auf und recke deine Hand über das Meer
und teile es mitten durch, so dass die Kinder Israel auf dem Trockenen
mitten durch das Meer gehen.
2. Buch Mose, 14,16

Da vergleicht sich einer mit einem Boxer, einem Stahlarbeiter, einem Abrisskommando. Da will einer atemlos um sich schlagen, im Fabriklärm flüssiges Feuer gießen, will Mauern umstürzen, Berge versetzen, Meere zerteilen, will das Himmelstor aufreißen mit einem Saxophon. Da spielt einer an gegen die Kälte, den Hunger und die Heimatlosigkeit, gegen Leere, Versteinerung den Verlust der Hoffnung. Spielt mit alttestamentarischer Wucht: kompromisslos, mitleidlos, radikal. Bläst schiere Energie.

Dieser Mann ist Charles Gayle, geboren 1939 in Buffalo, jetzt Prophet des Free Jazz. Zwanzig Jahre lang schlug er sich im Moloch New York als Straßenmusiker durch, ein Märtyrer am Saxophon, hungernd, frierend, obdachlos. Er schlief auf Parkbänken, stöberte im Abfall und schrie auf seinem Instrument gegen die Gleichgültigkeit an - die Gleichgültigkeit der Steinwände, der Glasfassaden, der Menschengesichter. "Fünf bis sechs Tage in der Woche spiele ich draußen, im Freien oder in den Subway-Stationen oder sonst wo, und ich bekomme vielleicht sieben Dollar oder fünf Dollar. Zehn Dollar sind schon ein guter Tag; zehn sind sogar ein hervorragender Tag. Da muss ich den ganzen Tag dort stehen, um so viel zu kriegen."

Charles Gayle spielte um sein Leben, und das ist die extreme, verschreckende Wahrheit seiner Musik. Er hat das Instrument gelernt, er hat Jazz an der Universität unterrichtet, aber um so zu spielen wie er, bedarf es anderer Erfahrungen. Sein Saxophonspiel ist in musikkritischen Begriffen kaum zu fassen und noch weniger zu bewerten. Es kommt aus keiner Schule, es kommt aus mentaler Energie. Hier geht es auch nicht um die richtige Intonation, um Changes und Phrasierung, hier geht es um grenzenlosen Sound.

Sound, nie stockende Lavaströme aus Sound: Tiefdröhn-Salven und Quietschton-Girlanden, Sturzflüge in kreischendem Falsett, spiralige Lärmwirbel, verschmierte Fanfaren, Brummkaskaden und Getrieberost, multiphone Schreie. Eine radikale Orgie aus Sound, die alles hinwegfegt: Auf diesem Instrument scheint keine weitere Steigerung mehr möglich, es sei denn wiederum durch Charles Gayle. "Jedes neue Konzert muss das vorige zahm erscheinen lassen", sagt er. Oder: "Oft, wenn die Leute aus dem Klub fliehen, ist das für mich wie eine Ovation. Jedes Mal möchte ich den Ort leer blasen - so verstörend möchte ich sein." Und: "Wenn das Gebäude am Ende noch steht, haben wir versagt".

Auch musikalische Gebäude zerbrechen da. Tapeten aus Konventionen bröckeln ab.
Charles Gayles Musik predigt Freiheit im emphatischen Sinn, Spontaneität in absoluter Maßlosigkeit: "Wir sind nicht so frei, wie wir glauben". Darum geht er auf die Bühnen, ohne mit seinen Musikern auch nur Absprachen zu treffen. Alle Struktur, alle Hingebung kommt aus dem Jetzt und Hier, das Live-Konzert ist der Augenblick der einzig gültigen Wahrheit, die über uns kommt wie ein Erdbeben, erschütternd und furchterregend. Nur von fern klingen darin die musikalischen Muster nach, die so viel Energie genährt haben. Echos von Jazz-Balladen, der nervöse Puls des Bebop, die ungebeugte Verzweiflung des Blues. So viel Passion und Ekstase.

Vor ihm haben auch andere auf dem Saxophon den Himmel gestürmt, unermüdlich bis zum Tod, John Coltrane oder Albert Ayler. Wie diese beiden beruft sich Gayle auf die Kraft, die aus schwarzer Spiritualität kommt - eine Kraft, die nichts mit frommer Andacht gemein hat, nichts mit stillem Gebet und eigener Kontemplation. Diese Kraft ist vielmehr eine, die dreinfahren möchte, eine Feuerzungen-Predigt, eine Hymne mit dem Engelsschwert. In Gayles Christentum wirkt noch die Macht der magischen Beschwörung, das Ritual, das böse Geister zwingt, ein Berge versetzender Glaube.

Denn der Stab, der Meeresfluten teilt, ist in Wahrheit ein Tenorsaxophon in den Händen eines schwarzen Moses.

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